Ausstellungskatalog Die Macht des Alters

Strategien der Meisterschaft. Katalog zur Ausstellung in Berlin, Bonn und Stuttgart.

Die Macht des Alters, Bild: Titelseite.
Die Macht des Alters, Bild: Titelseite.

"Vom Standpunkt der Jugend aus gesehen, ist das Leben eine unendlich lange Zukunft; vom Standpunkt des Alters aus, eine sehr kurze Vergangenheit."

(Arthur Schopenhauer)

Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland wird von Jahr zu Jahr älter. Im Jahre 2030 wird jeder dritte Bürger über 60 Jahre alt sein. Der Sechzigjährige im Jahre 2030 lebt vitaler als je ein Altersjahrgang vor ihm, mit steigender Lebenserwartung. Diese demographische Entwicklung wird die politische Landschaft nachhaltig prägen, den Arbeitsmarkt und den Freizeitsektor erfassen, den Wohnungs- und Warenmarkt, das Gesundheitswesen verändern, neue Lebensstile hervorbringen und kulturelle Leitbilder bzw. soziale Rollenzuweisungen umstürzen. Doch "Die Älteren" als homogene Gruppe gibt es nicht. Egal in welchem Alter sich der Mensch befindet, immer wird die persönliche Situation von individuellen Voraussetzungen und Initiativen abhängen. Die sinnvolle Gestaltung des Alters ist angesichts wachsender Lebenserwartung eine zentrale Aufgabenstellung der Gesellschaft. Die an der Ausstellung teilnehmenden Künstler demonstrieren exemplarisch mit ihren Strategien der Meisterschaft, wie mit den den Mitteln der bildenden Kunst kreative Denkanstöße gehen, zum Diskurs motivieren und so auf die "Macht des Alters" reagieren kann. Damit wollen wir zeigen, daß Künstler zu allgemein interessierenden Problemen andere und weiterführende Sichtweisen beitragen können als Experten aus Wissenschaft und Politik.

Erschienen
04.09.1998

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Brock, Bazon

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3770146522

Umfang
264 S. : zahlr. Ill. ; 30 cm

Einband
Gewebe : DM 79.90

Seite 238 im Original

Thomas Bayrle. Bildgenetik

Thomas Bayrle erstellte eine sechsminütige Videoarbeit, die als Endlosschleife projiziert wird. Der Titel (b) alt bündelt das Thema der Arbeit: bald alt. Ausgangsmaterial sind zwei herkömmliche Filmaufnahmen;  eine zeigt Bayerle selbst, die andere seinen Enkel. Beide Filme werden so ineinander projiziert, daß einmal der Enkel wie in den Großvater als Formcontainer eingefüllt, und zum anderen die Körperform Bayrles im Enkel aufgehoben erscheint. Dieses Verhältnis entspricht den Tatsachen, daß im genetischen Material eines sich geschlechtlich reproduzierenden Menschen seine Nachkommen potentiell enthalten sind und daß andererseits Nachkommen der dritten Generation (wie in diesem Fall) noch ein Viertel seiner Erbinformationen aktuell verkörpern.

Das Ineinanderprojizieren der beiden Ausgangsfilmsequenzen, also der in ihnen sichtbar werdenden Formen, ergibt eine neue Form, eine Superform. Durch elektronische Programmierung gelingt es, die Superformen nicht ein für allemal als stehende Bilder zu fixieren, sondern sie sich immer neu bilden zu lassen. Es ist hilfreich, sich für diesen Effekt daran zu erinnern, wie im lebendigen Minenspiel eines Menschen unterschiedlichste Gemütszustände und Lebenserfahrungen in Erscheinung treten. Häufig sagt man, jemand habe in diesem oder jenem Minenspiel wieder ganz jung oder viel älter ausgesehen, als er tatsächlich ist.

Bayrles Superformen bestehen im einzelnen aus den Bildformen des Basismaterial. Die elektronische Dynamisierung ermöglicht es, in der Superform jederzeit die selbstständigen Ausgangsformen sichtbar werden zu lassen: Superform und Einzelformen treten miteinander in Konkurrenz um die Vorherrschaft im Wahrnehmungsfeld. Für das Verständnis dieses Effekts stelle man sich vor, ein Maler wäre imstande, jederzeit auf seinem fertiggestellten Bild alle Ausgangsformen oder Farbflächen ihrerseits als Bild sichtbar werden zulassen. Das ist natürlich bei statischen Bildern wie Malerei nicht möglich, denn die einzelnen gestalterischen Hantierungen müssen im Bild, wie es dann als Großform fertig wurde, aufgehen — viele der Ausgsformen werden völlig unsichtbar, weil sie in der Arbeit des Malers verworfen, z. B. übermalt werden.

Thomas Bayrles Verfahren ließe sich als bildgenetische Operation kennzeichnen, das heißt, in jedem Bildelement wie auch in deren Superformen soll der gesamte Verlauf der Bildwerdung verfügbar gehalten sein.

Analoges Beispiel: Einzelne Zellen, deren jede die gesamte Erbinformation eines Individuums enthält, schließen sich zu Zellverbänden mit ihren spezifischen Formen und Funktionen zusammen, die ihrerseits nicht zellförmig sind, sondern eine Superform, z. B. die eines menschlichen Körpers, bilden.

Es ist heute jedermann geläufig, daß elektronische Bilder (wie früher die Druckbilder) aus einzelnen Bildpunkten bestehen und daß der Computer im bloßen Setzen von unzählig vielen Bildpunkten jedes ihm vorprogrammierte Bildgefüge hervorbringen kann, das aber materiell nur aus oben jenen Bildpunkten besteht.

In der Phase seiner frühen graphischen Arbeiten faßte Bayrle die Bildpunkte bereits zu kleinen Bildformen zusammen, mit denen dann wieder wie mit Pixeln im Computerbild weitergearbeitet wurde. So entstand zum Beispiel aus Hunderten von kleinen gleichförmigen Tassen die Superform des Gesichts eines Kaffeetrinkers, wobei etwa 20 Kleinformem nötig waren, um allein das Auge des Trinken den zu markieren. Der Ausdruck des Minenspiels kam durch Verzerrung und Verschiebung von mehreren Lagen hauchdünner Gummifolien, die mit dem Motiv bedruckt waren, zustande. Dieses druckgraphische Verfahren war eine entscheidende Weiterentwicklung der seriellen Rasterbilder, die in den sechziger Jahren von vielen Künstlern bevorzugt wurden. Noch Warhol versuchte, durch das serielle Addieren von einem Dutzend gleicher Motive wie Blumen, Unfallautos oder elektrischen Stühlen Bildwirkung zu steigern — ohne überzeugendes Resultat, bestenfalls ergaben die gereihten Einzelformen eine Großform. Weiter kam man erst, als Bayrle das Zusammenspiel von Bildpunkten, Klein-, Groß- und Superformen zu beherr-schen gelernt hatte. Seit den achtziger Jahren verlebendigte Bayrle das Zusammenspiel der Formen elektronisch. Er operierte etwa mit der Superform »Stalin-Gesicht«, deren mimetischer Ausdruck beständig variierte, je nachdem welche Formelemente, die das Gesicht bilden, aktiviert wurden. Die einzelnen Formelemente waren historische Filmaufnahmen aus Leben und Taten von lossif Wissarionowitsch. Das war eine Weiterentwicklung alter Künstlerkonzepte mit heutiger Technologie. Arcimboldo hatte das Halbporträt eines Bibliothekars gemalt, dessen Körper sich aus Büchern zusammensetzt. Um Casanova zu kennzeichnen, bildete man die Superform seines Kopfes aus lauter nackten Frauenleibern.

Thomas Bayrle legt großen Wert darauf, sein Verfahren nicht nur auf Phänomene der generationenübergreifenden natürlichen und kultürlichen Vererbung bzw, Übertragung zu fokussieren. Er betont, in dem dynamisierten
Verhältnis von Kleinformen, Rastern und Superformen auch unser politisches Selbstverständnis ansprechen zu wollen: Jeder ist einerseits nur ein Organismus, das Individuum (die Bayerleschen Kleinformen); solche Individuen bilden Familien, Vereine, Verbände (Großformen); und schließlich entsteht aus der Formierung dieser Organismen, Individuen, Gruppen die Superform "Gesellschaft". Da sich mit Bayerles Verfahren jederzeit in der Superforrn der einzelne Organismus, das Individuum, die Gruppen manifestieren, läßt sich die Bildung von Superformen als demokratisches Prinzip ausweisen, wie sich in der Vielheit Einheit verkörpern kann. Gegenwärtig scheinen wir damit erhebliche Probleme zu haben, aber noch größer sind die Probleme, einem Enke das Bewußtsein zu vermitteln, bald ein alter Großvater zu sein. Wer ist schon noch bereit, zu erkennen, daß Alter die einzig verbindlich vorhersagbare Zukunft der Jungen ist. Das Alter hat man vor sich und nicht hinter sich.

Bildverzeichnis:

Eat, 1998, Insert Parkett, 107 x 75cm, Acryl auf Tibetpapier 24 stills aus "(b) alt", 1997, Computeranimation. (Realisation mit Hilfe von Kobe Matthys und heike Bayerle - je 6 Irisdrucke (insgesamt 24 Drucke))

Rasieren; Blue Sleep, beide 1998,  107 x 75cm, Acryl auf Tibetpapier 24 stills aus "(b) alt", 1997, Computeranimation. (Realisation mit Hilfe von Kobe Matthys und heike Bayerle - je 6 Irisdrucke (insgesamt 24 Drucke))