Ausstellungskatalog Die Macht des Alters

Strategien der Meisterschaft. Katalog zur Ausstellung in Berlin, Bonn und Stuttgart.

Die Macht des Alters, Bild: Titelseite.
Die Macht des Alters, Bild: Titelseite.

"Vom Standpunkt der Jugend aus gesehen, ist das Leben eine unendlich lange Zukunft; vom Standpunkt des Alters aus, eine sehr kurze Vergangenheit."

(Arthur Schopenhauer)

Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland wird von Jahr zu Jahr älter. Im Jahre 2030 wird jeder dritte Bürger über 60 Jahre alt sein. Der Sechzigjährige im Jahre 2030 lebt vitaler als je ein Altersjahrgang vor ihm, mit steigender Lebenserwartung. Diese demographische Entwicklung wird die politische Landschaft nachhaltig prägen, den Arbeitsmarkt und den Freizeitsektor erfassen, den Wohnungs- und Warenmarkt, das Gesundheitswesen verändern, neue Lebensstile hervorbringen und kulturelle Leitbilder bzw. soziale Rollenzuweisungen umstürzen. Doch "Die Älteren" als homogene Gruppe gibt es nicht. Egal in welchem Alter sich der Mensch befindet, immer wird die persönliche Situation von individuellen Voraussetzungen und Initiativen abhängen. Die sinnvolle Gestaltung des Alters ist angesichts wachsender Lebenserwartung eine zentrale Aufgabenstellung der Gesellschaft. Die an der Ausstellung teilnehmenden Künstler demonstrieren exemplarisch mit ihren Strategien der Meisterschaft, wie mit den den Mitteln der bildenden Kunst kreative Denkanstöße gehen, zum Diskurs motivieren und so auf die "Macht des Alters" reagieren kann. Damit wollen wir zeigen, daß Künstler zu allgemein interessierenden Problemen andere und weiterführende Sichtweisen beitragen können als Experten aus Wissenschaft und Politik.

Erschienen
04.09.1998

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Brock, Bazon

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3770146522

Umfang
264 S. : zahlr. Ill. ; 30 cm

Einband
Gewebe : DM 79.90

Seite 142 im Original

Bildende Wissenschaft

Das Glück der Dauer

Der englische Goethe-Zeitgenosse Jeremy Bentham (1748-1832) verfügte in seinem Testament, daß seine Fakultätsgenossen so lange in den Genuß seines Vermögens gelangen sollten, wie er unter ihnen leibhaftig anwesend sein würde. Eine hintersinnige Herausforderung, die die Professoren glänzend meisterten. Nach Benthams Tod mumifizierten die Kollegen den Kollegen und stellten ihn mit Hut, Stock und Anzug in eine Vitrine im Fakultätszimmer, wo er bis auf den heutigen Tag verblieben ist.
Benthams Generalmaxime als Sozialethiker lautete: "Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl"!
Soweit denn dieser exzentrische Gentleman sein persönlich größtes Glück darin empfand zu wissen, daß er auf lange Dauer unter den Lebenden verweilen werde, hätte er Gunther von Hagens sicherlich als zeitgemäßen Sozialethiker begrüßt. Denn dessen Verfahren der Plastination ermöglicht (potentiell) einer größer werdenden Zahl selbstbewußter Individuen, dem Beispiel Benthams zu folgen.
Erzkatholische Klosterbrüder plazierten noch bis Ende des 19. Jahrhunderts die von ihnen aus dem Leben geführten Bürger in den Katakomben von Palermo. Die klimatischen Besonderheiten, die dort herrschen, ließen die Toten auf natürliche Weise zu Mumien werden. So stehen, sitzen und liegen die frommen Wesen in jenem Wartezimmer der Ewigkeit, und jährlich führen Tausende seelenruhiger Touristen mit ihnen anregende Gespräche.

Bentham und die Katakombenbürger von Palermo geben uns Zeugnis, daß nicht nur in "exotischen" Kulturen (etwa den altpägyptischen oder den präkolumbianischen), sondern in der unsrigen sowohl radikale Materialisten wie gläubige Christen bereit waren, die zentralen Intentionen jeder Kultur leibhaftig zu repräsentieren: nämlich das Ziel, das Dasein auf Dauer zu stellen.

Alle uns vertrauten Kulturtechniken dienen vorrangig diesem Ziel. Sie sollen es ermöglichen, die Welt der Toten, der Lebenden und der Zukünftigen als die eine und einzige Welt zu begreifen. Die große Kluft, die wir naiverweise zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Vergangenheiten und Zukünften wahrzunehmen glauben, soll von kulturellen Leistungen überbrückt werden, die tragfähig sind, weil sie zu dauern vermögen, also auf lange Dauer ausgelegt wurden.

Kulturen sind Beziehungsgeflechte zwischen Menschen. Diese Beziehungen sind umso verbindlicher, je weniger sie ins Belieben der Individuen gestellt bleiben. Dieses Belieben resultiert aus den persönlichen Zeithorizonten die natürlicherweise vorläufig und eng sind. Sie zu öffnen und zu erweitern, heißt, die Zeiten zu bannen, sie stillzustellen, der Zeit und ihren Furien des spurlosen Vergehens zu entkommen.

Kulturen ermöglichen das ihren Mitgliedern durch die Garantie der Wiederholbarkeit, der andauernden Möglichkeit also, immer wieder beginnen und beenden zu können, was prinzipiell anfangslos und endlos ist. Diese kulturelle Garantie der Wiederholbarkeit definiert, was wir Dauer nennen: die dauernde Anwesenheit der Toten und ihrer Vergangenheiten in der Gegenwart der Lebenden. Friedhöfe und Museen, Bibliotheken und Archive, Monumente und Memoriale, Architekturen und Ortsnamen verkörpern und repräsentieren solche Dauer als Möglichkeit der Wiederholung, der Auferstehung, der Vergegenwärtigung.

Nicht nur Historiker, Archäologen, Theologen, Philologen, die gelernt haben, mit Toten sachgemäß zu kommunizieren, handhaben die Techniken, Dauer durch Wiederholen, Zurückholen zu erreichen; heute bedienen fast schon alle Zeitgenossen sich der Technik des recording in Bild und Ton: sie lassen Clark Gable per Videorecorder auferstehen; sie halten eine Lebensszene per Foto permanent verfügbar und collagieren bei Familienfesten Lebensläufe zu Biographien, in denen souverän Zeiten und Räume ineinander verschachtelt und auseinandergenommen werden – wie es noch vor kurzem bestenfalls Kulturprofis zu tun vermochten. Die Zeitgenossen lernten das vor allem am Beispiel der Künste und der Massenmedien. Inzwischen beklagt das TV-Volk nicht mehr die "ewigen Wiederholungen alter Filme", sondern partizipiert an den Warholschen Freuden der ständigen Wiederkehr desselben als das Gleiche (Serienglück). Und Friedrich Nietzsche segnet die Sportschaugucker, denen die slow-motion-Wiederholung wichtiger Szenen (dreimal, viermal, immer wieder) zur Qualifikation MT verhilft: Master of Time – Kulturgröße. Das ist technische Theologie: das christliche Wiederauferstehungsversprechen kann von jedermann erfüllt werden, ohne Apokalypse, ohne jüngstes Gericht. Die Massenmedien beweisen täglich, daß wir das Ende schon hinter uns haben. Das ist ihre frohe Botschaft.

Von Hagens‘ Plastination ist auf den ersten Blick schon als genuine Kulturtechnik zu erkennen. Sie stellt organismische Substrate auf Dauer – jenseits der natürlichen Wege, das sicherzustellen, indem genetische Informationen der Organismen erhalten bleiben. Die bisherigen Techniken, diese natürlichen Prozesse selektiv zu optimieren, waren sehr erfolgreich. Das Sammeln und gezielte Wiederverwenden der Samen von Pflanzen, Tieren und Menschen hat sich als kulturell so leistungsfähig erwiesen, daß es zum eigentlichen Muster aller kulturellen Arbeit geworden ist: vom Erhalten der Nahrung durch verschiedenste Formen des Konservierens bis zur kulturellen Überformung der Natur durch Züchtung, die die nutzbaren Ressourcen vergrößert. Voraussetzung für diesen Erfolg ist das kulturelle Gewinnen und Bewahren von Kenntnissen der natürlichen Prozesse, in denen sich Leben generiert. Über diese Kenntnisse zu verfügen, also sie lehrend an andere weiterzugeben, verschafft Macht. Wer an dieser Macht partizipieren will, muß sich Regeln unterwerfen, wie sie für Priester und Ärzte, Wissenschaftler und Künstler galten und gelten. Aber die historische Erfahrung zeigt: Regeln zu durchbrechen, wird ebenfalls als kulturelle Leistung anerkannt, da der Regelbruch schließlich zur Kodifizierung neuer Regeln führen muß.

Von Hagens demonstriert gegenwärtig solchen Bruch der Regeln, nach denen Kenntnisse und Anwendungstechniken des kulturellen Auf-Dauer-Stellens unter Anatomen, Medizinern, Theologen und Sozialethikern gewonnen werden; und von Hagens zeigt zugleich, welche neuen veränderten Regeln sich aus diesem Regelbruch ergeben werden. Er folgt dabei einer Tendenz, die seit gut 250 Jahren in unserer Kultur (der sogenannten westlichen) offensichtlich ist: der Tendenz zur weitestgehenden Professionalisierung des Publikums, der Klientel von Priestern, Ärzten, Technikern, Künstlern, Warenproduzenten und demokratischen Machtrolleninhabern.

Seit eine große Gruppe von Kultivateuren um den Kulturpraktiker Diderot alle Kenntnisse und Verfahrenstechniken ihrer Zeit als 'Enzyklopädie' veröffentlichte, sind die Adressaten solcher Vermittlung nicht mehr in erster Linie Spezialisten, sondern generell alle Bürger. Natürlich sollten diese Bürger durch die Vermittlung kulturellen Wissens nicht selbst zu Ärzten oder Ingenieuren werden – sie sollten nicht selber wie die Künstler malen oder bildhauern oder Waren herstellen. Aber sie sollten in den Stand gesetzt werden, die Leistungen von Künstlern, Ärzten oder Warenproduzenten zu beurteilen, indem sie befähigt werden zu unterscheiden: das Vernünftige (das gut Begründete) vom weniger Vernünftigen; das gut Gemachte vom schludrig Hingehauenen; das Brauchbare vom Tand; die wirksame bittere Medizin von der süßen Trostscharlatanerie. Was nützt es, gute brauchbare Waren anzubieten, wenn die Käufer sie nicht zu erkennen vermögen; was nützt es, nach allen Regeln der Kunst zu verarzten, zu malen, zu regieren, wenn Kranke oder Bildbetrachter oder Wähler die geltenden Regeln nicht kennen oder neue nicht zu schätzen vermögen? Gute Kaufleute benötigen kenntnisreiche Abnehmer; seriöse Ärzte verständige Ratsuchende; leistungsstarke einfallsreiche Künstler müssen auf ein Publikum rechnen können, das Leistung zu beurteilen weiß – sonst können Kaufleute, Ärzte oder Künstler gleich darauf verzichten, sich um tatsächliche Leistungen zu bemühen, die ihren Preis wert sind.
Die herausragende Leistungsfähigkeit der Plastination erweist sich darin, daß von Hagens mit seinen Werken nicht nur das allgemeine Publikum zu bilden, also unterscheidungsfähig und erkenntnisfähig zu machen weiß vor Sachverhalten, die bisher der anschauenden Betrachtung nur an mehr oder weniger brauchbaren Modellen zugänglich waren. Auch Spezialisten (also Anatomen und Chirurgen) werden veranlaßt, ihre Wahrnehmung auf völlig neue Weise mit ihren Vorstellungen und Begriffen zu verbinden.
Folgen wir dem Angebot von Hagens’, dürfte sich unser Vertrauen auf das kulturell versprochene Glück der Dauer erheblich stärken. Viele bisherige Betrachter plastinierter Körper, der Körper verstorbener Menschen, haben mit ihren Bemerkungen im Besucherbuch bekundet, daß ihnen erst angesichts dieser Verewigten die Ehrfurcht vor dem höchsten aller kulturellen Ziele wieder zu empfinden möglich wurde.
Das mag pathetische Beschwichtigung "unangenehmer" Gefühle von Irritation, ja Angst und Ekel sein; aber Ehrfurcht entsteht nun mal aus der Bewältigung solcher Selbstergriffenheit vor übermächtigen Eindrücken.
Die mächtigsten Eindrücke erfahren Zeitgenossen vor jenen Kulturzeugnissen, die den Anspruch auf Dauer verkörpern und repräsentieren. Entsprechend bewerten sie altägyptische Pharaonengräber, Kathedralen oder Gemälde im Museumsbesitz einerseits und das Verschwinden der Regenwälder, das Verblassen ihrer Familienfotos oder den Verlust der Heimat andererseits.

Mit den Substraten der Plastination wird die zentrale Bedeutung, die das Auf-Dauer-Stellen für alle Kulturen hat, in gegenwärtig auffälligster Weise wieder ins Bewußtsein der Zeitgenossen gerückt.

Reale Virtualität

Brücken verkörpern (statisch geprüft) den Gedanken des beliebigen Wechels von einem zum anderen Ufer und wieder zurück; und Brücken repräsentieren diesen Gedanken metaphorisch wo immer es gilt, z.B. "Brücken der Verständigung zu bauen". Alle tatsächlich leistungsfähigen Kulturschöpfungen sind durch diese Einheit von Verkörperung/Animation und Repräsentation/Symbolisierung gekennzeichnet und zu erkennen. 
Bei gewissen Fällen großer Kulturleistungen wird die Wandlung von Inkorporation zu symbolischer Repräsentation und vice versa durch Läuten eines Glöckchens markiert ("... dies ist mein Leib ... dies ist mein Blut ...") oder durch Akklamation ("... dies ist ein Kunstwerk und nicht nur ein Material, das ein gedachtes Werk repräsentiert ..."). Der vielstimmige Jubel zu den alljährlichen Nobelpreisvergaben soll die bösen Zweifel übertönen, ob z.B. "diese Dokumentation der Bewegung eines subatomaren Teilchens" tatsächlich ein Beweis seiner Verkörperung (embodiment) ist, oder bloß seine mathematisch formulierte gedankliche Annahme repräsentiert.

Gedanken gesteht man den Modus der Virtualität zu als "bloße" Möglichkeiten; Verkörperungen/Materialisierungen hingegen bewerten wir als etwas Reales. Große Kulturleistungen sind darauf gerichtet, Gedanken zu verwirklichen – aber nicht so, daß der Gedanke in der Tat ausgelöscht wird. Vielmehr sollen gerade in der Einheit von Verkörperung und Repräsentation beide Ebenen – das Virtuelle und das Reale – erst deutlich unterscheidbar werden. Ein Zeichen ist die Einheit, in der man sinnvoll das Bezeichnete und das Bezeichnende, das Repräsentierte und seine Verkörperung unterscheiden kann. Das Kulturprodukt ist also eine reale Virtualität.

Allerdings gibt es verschiedenste Kriterien, anhand derer wir die Realitätshaltigkeit einer Verkörperung von Virtuellem, z.B. von Gedanken bewerten. Das offensichtlich allgemein am höchsten geschätzte Kriterium ist das der Authentizität. Jeder fragt, ist das Material, in welchem ein Architekturkonzept verkörpert wird, tatsächlich Marmor oder nur ein Imitat, das den Eindruck erweckt, Marmor zu sein? Ist der Sänger auf der Opernbühne authentisch oder mimt da jemand nur den Sänger, indem er sich einer fremden Stimme per Playback bedient?

Trotz aller "postmodernen" Vergnügen an der Simulation, dem Fake, dem Ersatzstoff haben wir den Anspruch aufs Authentische nicht aufgegeben; denn ein Fake, eine Imitation zu genießen ist nur möglich, wenn man sie vom Authentischen zu unterscheiden weiß. Generell hängt unsere Wertschätzung von Dingen in der Welt an der nachvollziehbaren Behauptung, sie seien tatsächlich das, als was sie behauptet werden – also authentisch. Ist "dieser van Gogh" tatsächlich von Vincent gemalt worden oder stammt er von einem Nachahmer, der uns aber gerade deshalb "diesen van Gogh" bisher als echten empfinden lassen konnte, weil er die authentischen Arbeiten Vincents sehr genau kannte und schätzte? Ist "dieser Zahn Buddhas" tatsächlich ein authentischer Teil der irdischen Verkörperung des verehrungswürdigen Mannes? Und wird der "Zahn Buddhas" deshalb zu Recht aufbewahrt und verehrt? Verkörpert dieser Schauspieler auch die vom Dramatiker erdachte Figur, deren Rolle er gerade spielt? Oder redet er nur einen literarischen Text herunter, obwohl er nicht Literatur rezitieren, sondern authentisch spielen soll?

Die Einwände gegen solches in allen Kulturen selbstverständliche Verlangen nach Authentizität gehen ins Leere – sie stützen das Verlangen sogar nachhaltig. Denn erweist sich z.B. eine Relique als Fälschung, werden die "echten" nur für umso wertvoller gehalten. Verzichten Künstler oder Architekten oder Warenproduzenten bewußt auf den Anspruch einer authentischen Verkörperung ihrer Produktideen, dann werden sie als Billigimitatoren, als Plagiateure oder Schundanbeter qualifiziert, die eben nicht in der Lage sind zu halten, was sie zu versprechen scheinen.
Plastinierte Körper sind reale Virtualitäten, deren Realitätsgehalt im höchst denkbaren Maße durch ihre Authentizität ausgewiesen ist. Sie erfüllen, so könnte man sagen, die Funktion von Reliquien der wissenschaftlichen Anatomie und des konzeptuellen Arbeitens von Künstlern, z.B. von Skulpteuren. Wenn man sich an Boccionis Skulptur eines Laufenden erinnert, oder an die Arbeiten der Bildhauer Richier oder Gonzales, erkennt man die konzeptuelle Genauigkeit, mit der Gunter von Hagens seine Plastinate modelliert. Die gedoppelte Begründung von Authentizität der Plastinate – einerseits das authentische organismische Substrat, andererseits genuine künstlerische Konzepte der Figuration – überzeugt vor allem die Betrachter der plastinierten Körper. Denn die Betrachter heben in Gesprächen über ihre Erfahrungen mit den Objekten immer wieder hervor, daß sie besonders deren Authentizität beeindrucke.
Von Hagens arbeitet in der Tat als Skulpteur; er formt Modelle seiner Objekte, um herauszufinden, wie ein Körper figuriert werden muß, damit genau das sichtbar werde, was es zu zeigen gilt: nämlich das faszinierende Verhältnis von äußerem Eindruck, den ein Körper hervorruft, und seinem inneren Aufbau. Das Verhältnis von Körperoberfläche zu seiner Funktionslogik hat seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert (beispielsweise im griechisch-römischen Kulturkreis) das konzeptuelle Arbeiten gerade von Bildhauern und Malern bestimmt. Dabei ging es immer um zwei Ebenen, auf denen das Verhältnis von Innen und Außen der Körper dargestellt wurde; man wollte sichtbar werden lassen, wie sich eine seelisch/geistige Anstrengung (z.B. der Wille, eine Bewegung auszuführen) im Körper manifestiert – es ging also um die Frage, wie psychische Aktivität verkörpert wird (Traurigkeit oder stoischer Gleichmut, Enthusiasmus oder Angst). Zum anderen sollte verstanden und wahrnehmbar gemacht werden, wie die einzelnen Bestandteile des Körpers (Organe, Muskeln, Sehnen, Bänder, Glieder) zusammenspielen, um die Einheit des Körpers in jedem seiner Zustände zu erhalten unter dem Einfluß von äußeren Kräften (vor allem der Schwerkraft).
Diesem Wahrnehmbarmachen des am lebenden Körper unsichtbaren Inneren galt die Aufmerksamkeit der Künstler und die der Anatomen und Ärzte, die eine Zeichenlesekunst = Symptomatik entwickelten, um vom Äußeren der Körper auf das Geschehen in ihrem Inneren rückschließen zu können. Das gelang mehr oder weniger – und diente recht eingeschränkten Zwecken wie der Geburtshilfe oder dem Kurieren von Brüchen oder Wunden an der Körperoberfläche, wie sie Krieger sich zuziehen. Aber auch die sehr viel weitergehenden Eröffnungen der Körper, mit denen sich Chirurgen Zugang zum Inneren des Bauches oder der Brust verschafften, blieben auf die bloße Möglichkeit angewiesen, sich vorzustellen, was man nie gesehen hatte; denn die durch die Öffnung toter Körper gewonnen Kenntnisse sind nur ganz beschränkt auf die Wahrnehmung der lebenden zu übertragen, weil es bisher unmöglich war, tote Körper wie lebende wahrzunehmen. Das eben gelingt nun mit von Hagens’ Methode der Plastination und vor allem durch seine Konzepte der Visualisierung.
Tote Körper wie Lebende authentisch wahrnehmen zu können, war ein altes Ziel von Künstlern. Nicht nur die Erzählungen von Pygmalion oder Michelangelo, die als Schöpfer von Menschen in Marmor versuchten, ihre Geschöpfe zu beseeltem Leben zu bringen, sie zu animieren, belegen dieses Ziel; "das sprechende Bild" war eine aufregende Kennzeichnung der Leistung des frühen Tonfilms – "das laufende Bild" die des Stummfilms. Generell gilt Animation, also Verlebendigung, als höchste zu erstrebende Leistung des Umgangs mit totem Material. Diesseits des Anspruchs von Künstlern und Wissenschaftlern, künstliches Leben zu erzeugen (artificial life) – ein gerade gegenwärtig vorrangiges Ziel vieler Kulturschöpfer – sind von Hagens’ Methode und Konzepte der Plastination die weitestgehenden und gelungensten Versuche der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte, tote Körper wie lebende, also authentisch wahrnehmen zu können. Natürlich sind z.B. auch Maschinen tote Körper, die von Ingenieuren mit einigen Aspekten des Lebendigen ausgestattet wurden. Auch nicht triviale Maschinen wie sich selbst programmierende, lernende Computer zeigen staunenswerte Formen der Verlebendigung. Aber in ihnen ist nur Leben repräsentiert, kaum verkörpert. Ihre organismischen Substrate (soweit man sie als solche überhaupt ansprechen kann) bleiben weit unterhalb des Grades von Komplexität, der selbst einen Einzeller auszeichnet. Der "Leib" der Maschine, vor allem der nichttrivialen, ist niemandem ein Zeichen, nicht einmal dann, wenn sich Designer bemühen, ihm Gestalt zu geben. Gestalt ist der nur im Deutschen gebräuchliche Begriff, der die Einheit von Verkörperung und Repräsentation umfaßt. Gunter von Hagens ist ein Künstler/Wissenschaftler, der dem toten Material, den toten Körpern die Gestalt des Lebenden zu geben vermag, die Gestalt einer authentisch realen Virtualität.

Imaging Science – bildende Wissenschaft

Auf authentische Weise einem Gedankengefüge, einer Vorstellung – einer Virtualität – reale Gestalt des Lebendigen geben zu können, galt bisher weitgehend als Privileg der Künste. Sie bewegen sich, so Gottfried Benn, im Reich gestaltenschaffender Möglichkeiten (also in der Virtualität). Das nannte man seit Goethes Zeiten die "bildende Kraft der Künste". Bildung erwirbt man durch die Aneignung der virtuellen Konstrukte anderer (ihrer Kenntnisse, Vorstellungen, Weltbilder etc.). Wenn man das Angeeignete auch selbst verkörpern kann – wenn es ganz zu eigen wird – wenn es, wie man sagt, einem in Fleisch und Blut übergeht – wenn das Angeeignete zum Ausdruck der eigenen Person wird, dann hat man nicht nur Bildung, sondern ist gebildet – gleichsam eine Gestalt der bildenden Kräfte selbst.

Nun hat es zweifellos genauso viele gebildete Wissenschaftler wie Künstler oder Vertreter anderer Arbeitsformen gegeben. Wieso betonte man dann das Privileg der gestaltenschaffenden Künste, der bildenden Künste? Hatte ein Künstler zudem noch wissenschaftliche Bildung, sprach man vom poeta doctus, vom gelehrten Künstler, wie ihn z.B. Thomas Mann repräsentierte und verkörperte. Hingegen sind die Beispiele für Auszeichnungen von Wissenschaftlern, die auch künstlerisch zu gestalten wußten, rar. Erst in jüngster Zeit treten Wissenschaflter ins Bewußtsein der Öffentlichkeit, die nicht nur feierabends oder im Nebenberuf künstlerisch werkeln, sondern ihre Wissenschaft wie eine bildende Kunst betreiben; die jedenfalls Wert darauf legen, Künstlerprofis zu sein. Z.B. nahmen die Neuro- und Biowissenschaftler Carsten Höller und Detlef Linke an der documenta X teil (Haus der Schweine und Menschen). Eine ganze Reihe von Artificial-Life-Wissenschaftlern präsentieren ihre Arbeitsresultate in institutionellen und sachlichen Kontexten der Kunst. Viele exzellente Forscher am Computer sehen ihre Bildschirmpräsentationen als Form der Bildgebung (imaging), als Resultat von "Gestaltung" wissenschaftlicher Konzepte an (daher "imaging science"). Im engeren Sinne kennzeichnet man Methoden und Technologien als imaging science, die z.B. wie die Positronenemissionstomographie PET Bilder aus dem Inneren lebender Körper produzieren, die von Spezialisten "gelesen" werden können, oder genereller gesagt, die Sachverhalte der Welt der menschlichen Wahrnehmung erschließen, welche unseren "natürlichen" Wahrnehmungsorganen entzogen sind ("Das Unsichtbare sichtbar zu machen", postulierten die Maler Klee, Kandinsky, Baumeister und viele andere). Die Imaging betreibenden Wissenschaftler gestalten mit ihren Computern aber auch neue Sprachen, welche seit alters als besonders leistungsfähige bildende Kräfte angesehen werden. Sprachen kennzeichnet das von ihnen aufgebaute Verhältnis zwischen psychischer Innenwelt und sozialer Außenwelt der Menschen. Die Schöpfer solcher Sprachen sind im eigentlichen Sinne "bildende Wissenschaftler".

Einer unter ihnen, einer der interessantesten, ist eben Gunther von Hagens mit seiner Technologie und seinen Imaging-Konzepten der Plastination. Der häufig erhobene Einwand gegen die Behauptung der herausragenden Bedeutung von Plastination – nämlich daß sie gerade durch die Erfolge von imaging science nicht mehr gebraucht werde; auch die darstellende Anatomie von Hagens’ sei historisch überholt – verkennt die Leistung von Hagens’. Denn auch die besten Resultate von imaging science werden nur sinnvoll nutzbar, wenn sie im Zusammenspiel mit der darstellenden Anatomie von toten Körpern als lebenden angewandt werden.

Die bildende Kraft dieser Wissenschaft darstellender Anatomie ist erst annähernd zu würdigen, wenn man sie – wie das hier angedeutet wurde – als Kulturtechnik versteht, mit der es gelingt, in neuer Weise der alten kulturellen Zielsetzung zu entsprechen, die Einheit von Verkörperung und Repräsentation als reale Virtualität auf Dauer zu stellen im äußersten erreichbaren Grad der Authentizität. Plastination vermittelt ein bisher so authentisch nicht gegebenes Verhältnis von Innen und Außen des Körpers, von lebendigem Organismus und totem Material, von Wahrnehmung und Wahrnehmbarmachen, von Anschauung und Begriff.

Plastination ist demnach als sprachliche Operation aufzufassen, mit der wissenschaftliche Begriffsbildungen durch künstlerische Konzepte zur Gestalt gebracht werden – zur Gestalt des kulturell lebenden Menschen in seinem Anspruch auf Dauer.