"Euer Thema Altern ist für mich selbst schoon alt; das bearbeite ich längst", beschied Hubert Kiecol die Ausstellungsmacher. Und dann erzählte er, was er "sonst nicht vor sich her trägt". Sein bildhauerisches Repertoire sei nicht deswegen so rigide auf ein Dutzend Grundformen verkürzt, weil er sich den Minimalisten und den Reduktionisten der Moderne verbunden fühle; er müsse sich konzentrieren, um nicht überwältigt zu werden von Gefühlen, Erinnerungen, Selbstzweifeln und Ohnmachtserfahrungen. Sein Formbewußtsein käme Gottfried Benns "bannender Kraft der Form" sehr nahe. Generell habe man sich immer wieder klarzumachen, daß der Formalismus der Moderne nicht einer vermuteten Gefühlskälte und seelischer Armut von Künstleringenieuren entspreche; Ausdrucksaskese und strenges Arbeitsritual wurden notwendig, um nicht im Pathos der Weltverbesserung und in der Sehnsucht nach Abschied vom Lebenselend unterzugehen.
Solche Pathosformeln stehen Kiecol, wie er sagt, seit Kindheit vor Augen: z.B. "Lebenswege" und "Paradiese".
Die Skulptur Wege besteht aus 102 gestuften Holzblöcken in Haufenbildung. Angesammelt, versammelt, geschichtet, gedreht, gekippt sind die Ikonen des Aufstiegs so, daß sie an eine Pyramide erinnern, an Stufenpyramiden, wie sie in Mittelamerika oder Ägypten als monumentale Ruine überdauert haben: architektonische Pathosformeln einstigen theologischen und kosmologischen Weltverständnisses. Wer sich diesen Zeugnissen alter Kulturen konfrontiert, muß seine gefühlsträchtige Neigung zügeln, nur noch die Größe aller Kulturen zu beschwören.
Gegen dieses Sentiment hilft die Reduktion der Pathosformel "Aufstieg zu den Göttern" oder "Gipfelerfahrung" auf das Vorzeigen der Treppen als Motivfragmente.
In anderen Arbeiten setzte Kiecol die Treppenikone, in Beton gegossen, auf eine Säule oder Stele in Höhen, die den Betrachter nötigen, seinen Blick nach oben zu richten. Für Zeitgenossen assoziiert das Treppenmotiv Bilder von Lebenswegen, die zum Höhepunkt führen - auf den Gipfel der Karriere, auf das Exponierpodest von ANerkennung und Geltung.
Für Künstler wurde dieser Weg immer wieder als Gradus ad Parnassum gekennzeichnet, als Aufstieg zum Olymp der Künste. Heute überlebt dieses Motiv in der Revuetreppe der Unterhaltungsbranche.
Die Skulptur Paradies zeigt ein Gittergehege um ein Quadrat von 92cm Seitenlänge. Seit dem Mittelalter ist die Darstellung des Paradieses als Gärtchen in zwei grundlegenden Varianten bekannt: in der des höfischen Damengartens und der des Mariengeheges (Maria im Rosenhag). Das Charakteristikum der Paradiesgärten ist ihre Ummauerung, die das Innere dem Blick von außen entzieht. Aber dieser Blick wurde von Malern und Literaten vorgestellt: eine "Einbildung", eine Imagination im Wortsinn. Das Umfrieden, das Ummauern galt als Zeichen des Anspruchs, im Inneren des Geheges Vorstellungen zu leben, die in der ungeschützten Außenwelt nicht zu bestehen vermögen. Im weiteren Sinne galt auch die ummauerte Stadt, Terra murata, faktisch und ideell als Ausweis zivilisierter Verhältnisse im Inneren.
Damit wurde deutlich, daß zivilisatorische Anstrengungen vor allem dem Zweck dienen, die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies zu kompensieren. Im künstlich geschaffenen Paradies erinnern sich die Menschen an das, was sie ein für allemal verloren haben oder aufgeben mußten, um in eigener Verantwortung ihr Leben zu führen.
Aus Kiecols Paradies ist sogar die Imagination des schönen Geheimnisses vertrieben, das wir paradiesisch nennen. Die zauberhafte Blackbox hat sich geöffnet, von ihrer Umfriedung bleiben nur noch ssinnlose Gitterstäbe - funktionslos, weil im Inneren nichts anderes geschieht als im Äußeren.
Von dieser Art sind heute alle Paradiese als Disneywelten oder Ferienghettos. Von Ferne murmeln wir die Beschwörung: "Sesam öffne Dich, ich will hinein." Kaum sind wir aber im leeren Geheimnis, bitten wir inständig: "Sesam öffne Dich, ich will hier raus."
In unzähligen Selbstkommentierungen haben moderne Künstler bekundet, daß hinter und in ihren Werken keine Geheimnisse stecken; sie gäben Kunde von ihrer Erfahrung, daß die Paradiese leer seien oder vielmehr Wüsten des Undenkbaren, Unsagbaren und Nichtdarstellbaren. Zivilisatorische Werke, also auch Kunstwerke, umfrieden nur noch das Terrain des großen Nichts. Das Paradiesgehege wird zur Grabmarkierung.
Die Skulptur Ich brauche Zeit verbindet das Zickzack der Treppe mit den Gittergehegen des Paradieses. Man kann sich der Skulptur von beiden Seiten, von innen und außen, von diesseits und jenseits, von hier und dort nähern. Wie jede Grenze nötigt das Gitter dem Betrachter die Frage auf, ob er sich im umgrenzten Raum oder außerhalb befindet. Wenn sich aber, wie die Skulptur zeigt, Innen und Außen nicht feststellen lassen, wird die Skulptur zu einem veranschaulichten Begriff des Unterscheidens auf anderen Ebenen, z.B. eder metaphorischen. Diesseits und Jenseits wandeln sich in Diesseitigkeit, Jenseitigkeit und Abseitigkeit. Innen und Außen können so zum Beispiel die rechtsbegriffliche Unterscheidung von privat und öffentlich markieren.
Da Kiecol nachdrücklich immer wieder auf die kindliche Welterfahrung verweist, ständig auf Grenzen zu stoßen, auf Hindernisse, durch die man nicht mit dem Kopf gehen kann, ist es wohl nicht unangemessen, aus unserem kollektiven Gedächtnis ein Beispiel solcher Erfahrungen anzuführen: Fontane schildert in seinem Gedicht "Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland", wie der Gutsherr den Dorfkindern Zutritt zum Garten und fruchtbringenden Birnbaum gewährt, sein Sihn und Nachfolger aber Garten und lockende Frucht "streng verwahrt". Da der Alte bereits vermutete, daß sein Sohn mit autoritärer Geste die Grenze zwischen privatem Gut und der Außenwelt unüberwindbar schließen würde, verlagerte er das Kinderparadies "der goldenen Herbstzeit" auf den Friedhof, auf sein grab. Als eine solche Verlagerung kann man Kiecols Skulpturen verstehen. Das braucht Zeit.
"So spendet Segen noch immer die Hand" des Künstlers.
Vermag er uns auch nicht mehr unsere Taschen mit Früchten seiner Arbeit vollzustopfen, so dürfen wir uns doch bei ihm bedienen, wie die Kinder sich vom Grabbaum des Herrn von Ribbeck bedienen.
Wer heute das Fontane-Gedicht liest, wird überwältigt vom Gefühl, selber jenes Mißtrauen zu verdienen, daß der "Alte" vorahnend gegen den "Neuen" hegt. Jede Generation junger Künstler beeilt sich, die Grenzen öffentlichen Wirksamwerdens von Werken zu schließen, sie einzumauern, die ihre Vorgänger dem Publikum mühsam geöffnet hatten.
Abbildungen:
Paradies, Hubert Kiecol, 1992; Eisen, Farbe, Beton; 150x93x93cm
Ich brauche Zeit, Hubert Kiecol, 1998, Eisen; 255x75x480cm
Wege, Hubert Kiecol, 1992, Holz, Farbe; 140x280x280cm, Holz, Farbe; (102 Teile, je 33x25x33cm)