Festschrift Die Suche nach dem Guten.

„Festgabe“ anläßlich des 60. Geburtstages von Lothar Brock am 30. Januar 1999. (Privatdruck)

Erschienen
1998

Ich als Lothar.

In Zeiten pathetischer Verabschiedung des ius sanguinis wird es schwer, einen leiblichen Bruder aus eben dieser Tatsache heraus zu würdigen. In seiner protestantischen Leidensgemeinschaft wurde ihm dieses Abschiedspathos immer schon zugemutet: "Weib, was habe ich mit dir zu schaffen", belferte Jesus seine Mutter an. Bin ich etwa meines Bruders Hüter?

Ebenso rückhaltslos hatte Lothar in den Begeisterungsgemeinschaften seiner akademischen Brüder Abstammung als kulturelles Generativ abzuschmettern. Dem Jesuswort entsprach das Diktum: ius sanguinis ist Blu-Bo.
Merkwürdig: eben dieselben Damen und Herren, die Rechte durch Abstammung für völlig abstrus halten wollten, zögerten keinen Augenblick, vom Erbrecht Gebrauch zu machen und von Mami, Papi oder der sonstigen Mischpoche das Häuschen, die Milliönchen oder erworbene Rechte nach deren Tode einzusacken. Im besonderen Genuß solcher Perversion ließ sich Tom Koenigs würdigen, als er Bankerpapis Millionen nur erben wollte, um sie dem Vietcong zu schenken. Wer erbt, verwirkt es, um es zu besitzen. Auch ansonsten galt KdF-Genuß, Kraft durch Fehlermachen: man machte sich stark für die Rechte des palästinensischen Volkes und stigmatisierte jeden, der, auch nur aus Gewohnheit, vom deutschen Volk sprach. Man institutionalisierte die "kulturelle Identität" jeden Einwanderergrüppchens, obwohl man zugleich behauptete, "die kulturelle Identität der Deutschen" als die bloße kontrafaktische Konstruktion durchschaut zu haben, die sie tatsächlich ist. So fällt dann nicht nur die Logik, sondern auch jede humanitäre Programmatik unter die Räuber.
Unter solchen Räubern sah ich meinen Bruder Lothar, in traurigem Zustand, wie ich meinte. Zum teutschen Herkules mehr aus sozialer Dummheit, denn aus intellektuellem oder künstlerischem Vermögen stilisiert, versuchte ich öfters, Lothar aus den Fängen der Kartellbrüder herauszuargumentieren. Stets ohne Erfolg.
Jemanden heute der herrschenden Science humanitärer Selbstverklärung zu entreißen, ist wohl ebenso schwer, wie einen Scientologen zurückzuholen. Frappiert haben mich die Begründungen dafür, im Elend der Normalwissenschaft zu verharren: wer die Achterbahn stets ultimativer Meinungen nicht absolviere, entbehre der Erfahrung von Veränderungen.
Eine moderne Biographie setze sich aus Irrtümern, Fehlentwicklungen und Vergeblichkeiten zusammen, die man als solche erkannt habe. Das schließlich heiße zu lernen. Wer dagegen tatsächlich von vornherein richtiger zu urteilen und Fehler zu vermeiden gewußt habe, verdanke das entweder der Gnade eines beschränkten Horizonts oder dem Stoizismus der Selbstachtung, der keine sozialen Rücksichten (z.B. auf Karrieren) zu nehmen brauche. Ich nehme solche Rücksichten nicht – um den Preis, von Normalwissenschaftlern als Hofnarr der herrschenden Verhältnisse beschrieen zu werden, dessen Fragen offensichtlich gar keine Antworten einforderten. Ich fragte z.B., was die Meinungsstarken veranlassen könne, ihre jeweils letztgültigen Überzeugungen ernst zu nehmen, wenn sie die doch nur als ihre Irrtümer von morgen zu bewerten hätten bestenfalls als gute Absichten, die leider böse Konsequenzen hätten.
Die Antworten liegen auf der Hand. Lothar nahm die Zumutungen der KdF- Logik aus Höflichkeit hin, aus Menschenfreundlichkeit; das Gros derer, die ihre alternativen Meinungen von gestern nicht scherten, akzeptierte die offensichtlichen Haltlosigkeiten, weil dem Zweck des Machtgewinns noch jeder abgestreifte Bekenntnisturnschuh zugute kommt.

Lothar war stets der höflichere. Als jüngerer in der Geschwisterfolge hatte er allen Anlaß, seine soziale Intelligenz besonders auszubilden – also seine Fähgkeiten, sich stets im Bezug auf andere zu positionieren. Wer so rücksichtsvoll agiert und jede berserkerhafte Anwandlung zur Selbstentfaltung vermeidet, gerät aber leicht in die Bewegungsdynamiken der Zeitströmungen. Dann heißt es, sich von den Wellen möglichst weit mittragen zu lassen – soweit die eben tragen. Das war in den zurückliegenden 30 Jahren nicht weit, denn schon unterm nächstbesten Pflaster lag der Strand des Schiffbruchs. Robinson Crusoe strandet heute bereits vor Kaufhauseingängen seiner Wohnstatt und auf Abluftschächten in deren Bürgersteigen. Immerhin bietet er dort für Theoriezünftige Anlaß, in epischer Breite 102 I Wohlstandsverwahrlosung, kriminellen Mutwillen und politische Erpressung als Notwehr der Verzweifelten darzustellen.

Nur wenn ein schreibender Millionenerbe wie R. in das Kalkül der Verzweifelten gezogen wird, gilt solche Notwehr plötzlich als verwerflich und nur dann hat das Opfer Anrecht auf Solidarität durch Bestrafung der Täter, die doch eigentlich ihrerseits nur arme Opfer sozialer, struktueller, kultureller, psychophysischer, lebensgeschichtlicher Verhältnisse gewesen sein sollen. Aber was sind schon Schicksale von Einzelnen; in den Unisandkästen spielen die Strategen mit anderen Größen. Im buntesten Operettenlicht inszeniert sich dort grüner, roter, schwarzer oder brauner Wilhelminismus. Deutschland? Das machen wir schon, wir sind die Größten! Sozialer Friede? Nur eine Frage der Alles-geht-Toleranz! Weltfriede? Wird sich schon einstellen, wenn überall die gleichen Verhältnisse herrschen! Unsere Sicht bringt der Welt das Licht. Und wenn nicht, dann war’s der Dolchstoß der Reaktion. Wie weit wußte ich mich von solchem Selbstbild abgehoben – bis ich Anfang der 80er Jahre für ein action-teaching in der Maske des bärtigen Zeitgeistlers Pierre Restany zu agieren hatte. Vor den Standfotos und Filmsequenzen traf mich der Schlag meines Zeigestockes: ich sah nicht nur meinem Bruder Lothar zum Verwechseln ähnlich – selbst im Minenspiel und im Körperschema; ich sprach auch wie er und argumentierte wie er. Ich war ganz der Lothar. Diese durch die Maske erzwungene Einsicht in meine Familienähnlichkeit, diese herausmodellierte persona ließen mich erkennen, daß auch ich in mir – wenn auch als Verkehrung ins Gegenteil – ausgeformt hatte, was ich an Lothar als bloße Ausfüllung des Attitüdenpassepartouts unserer Generationsgenossenschaft wahrnehmen wollte. Und plötzlich erinnerte ich mich, wie ich 1969 nach Cuernavaca gekommen war – zu Ivan Illich. Als ich mich bekannt machte: ich bin der ältere Bruder von Lothar, strahlten die Mitarbeiter des Gurus mittelständischer Weltverbesserer. Ja, Lothar, der wunderbare Lothar!; hier hatte er neun Jahre zuvor Stein auf Stein gemauert, damit Illich ein Institut bekam unter blaublühenden Bäumen. Lothar, mein Gott, wahrlich ein Mitmensch und Genosse, wie ihn sich Defoe hätte ausmalen können, wenn Robinson in einer Großstadt gestrandet wäre. Alles Tun und Verhalten, in dem man mich in Cuernavaca wahrnahm, war durch Lothar vorgegeben; ich mußte nur "Lothar" sagen und wurde schon verstanden. Ich, der Ältere, erfüllte die Vorgaben des Jüngeren.
Alles ging für mich vorwärts nach rückwärts; der Jüngere, die Jüngeren, die Jungen waren mir voraus – und nicht nur deshalb, weil ich selber niemals jung gewesen war. Schon als 10jähriger hatte ich mein eigener Vater und Großvater zu sein und vor Lothar den starken Mann zu spielen, damit der sich sicherer fühlen sollte.
Illichs rechte Hand erzählte: Lothar hatte die Organization of American States – OAS – mitgegründet, vernünftige und weitreichende Entwicklungsprojekte entworfen, sich ganz in den Dienst an anderen gestellt – das wäre mir, mit meiner Sozialerfahrung als völlig abwegig erschienen.
In der Gemeinschaft Illichs wurde Lothar Anerkennung, ja Liebe entgegengebracht, die mir niemand jemals gewährte. In Cuernavaca wäre es noch Zeit gewesen für mich, den Weg meines Bruders einzuschlagen; aber ich blieb auf meiner Bahn – ein heimatvertriebener Herumtreiber im Odysseuspassepartout. Als Mission erlegte ich mir Distanz auf zu allem, was die Generation begeisterte, Distanz durch Selbstfesselung. Am Mast der Zeitgeistbarke, dem Narrenschiff der Utopisten, hatte ich mich festgebunden, um zwar die sozialistischen Sirenen singen zu hören, die Streetfighterchöre, die Barrikadenheuler, die Woodstockchantisten und Internationale-Hymniker, ohne ihnen indes folgen zu können. Denn folgen wollte ich niemandem jemals.
Zum Vorausgehen aber fehlte mir die Gefolgschaft – Gott sei dank, wie ich selbstbewußt konstatierte. Mir sollte das Voraussehen reichen – bis ich am Beispiel Lothars begriff, daß niemand aushält, was er da voraussieht, wenn er sich nicht als ein Jedermann, wie jeder andere, zu sehen vermag. Lothar wurde für mich der generalisierte Andere, also der wirkliche Bruder, der ich für niemanden war.

Lothar wurde, der er ist.

Ich nicht.

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