Buch Information – Education

Gespräche und Texte über Lehren und Lernen an Kunstakademien und Hochschulen

Information – Education, Bild: Köln 1996.
Information – Education, Bild: Köln 1996.

von Gerhard Theewen (Vorwort), Bazon Brock, Mathias Bunge, Stephan Dillemuth u.a.

Hochschullehrer, Akademierektoren und Künstler geben Auskunft über ihre Erfahrungen, Visionen und Hoffnungen hinsichtlich Lehr- und Lernmethoden. „Hintergrundinformationen“ – Kunstforum International – „Talkshow in Buchform“ – Der Archivar –

Erschienen
1995

Autor
Brock, Bazon | Bunge, Mathias | Dillemuth, Stephan | Theewen, Gerhard

Verlag
Salon

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3980481255

Umfang
153 S.: Ill ; 24 cm

Einband
Broschiert

Seite 61 im Original

action teaching

Eine Privatvorlesung

Wenn man sich zu einem Generalisten und Ästhetiker wie Bazon Brock begibt, um ihn zu befragen, muß man auf allerlei Überraschungen gefaßt sein. Nachfolgendes Dokument zeigt sehr anschaulich, wie seine Antwort auf die Eingangsfrage ein Beispiel dessen wurde, um dessen Erläuterung ich [Gerhard Theewen] gebeten hatte.

Zum Stichwort „action teaching“ wüßte ich gerne etwas mehr. Was ist darunter zu verstehen, und welche Überlegungen haben Sie zu dieser Form des Lehrens geführt? Wenn das Band voll ist, wird es hoffentlich den Eindruck einer netten Plauderei wiedergeben.

Aha. Für meine Generation, also für Leute, die ab Ende der 50er Jahre aktiv wurden, hat Robert Filliou in seinem bei Walther König erschienenen Werk „Lehren und Lernen als Aufführungskünste“ ja die Positionen bereits markiert. Filliou hat damals in Paris seine Galerie „Im Hut“ und „Im Mantel“ gemacht, und ich traf ihn zusammen mit Daniel Spoerri mehr oder weniger regelmäßig. Er hat sich im wesentlichen nicht auf ein theoretisches Begründen eingelassen, sondern auf kleine Aktionsdramolette beschränkt, die man nachspielen muß, um dann, wenn man sie hintereinander erlebt, doch so etwas wie einen durchgängigen Rahmen von Grundannahmen zu bekommen. Beim Stichwort Aufführungskünste ging es Filliou übrigens um eine Dimension der Kommunikation und nicht etwa um Theater, was nur eine eingeschränkte Form der Kommunikation mit theatralischen Mitteln wäre. Die Soziologen haben in der damaligen Zeit ihre Begrifflichkeit übrigens am klassischen Theaterspiel entwickelt, und zwar für die sozialen Alltagsprozesse. Daß wir alle nur eine Rolle spielen, war eine solch markante Formulierung, sozusagen parallel zu Filliou. Das heißt, wir spielen auch im Alltag Theater oder umgekehrt, wenn im Theater Formen entwickelt wurden, die kommunikative Prozesse zwischen Personen, Konstellationen etc. überhaupt zum Thema machen, dann muß man sich dieses Instrumentariums bedienen, aber nicht um auf eine Gattungsgrundform wie Theaterspielen beschränkt zu bleiben, sondern um das, was man im Theater sichtbar gemacht hat, nun auf das soziale Alltagsleben anzuwenden. Das ist in mindestens 200 Jahren Dramenliteratur, wenn nicht schon seit Shakespeare, kontinuierlich entwickelt worden. den Insofern Künstler meiner Generation die Vorstellung hatten, aus dem spezifischen Kunstbereich hinauswirken zu sollen, kamen zwei Tendenzen zusammen, die ich in eigenen Aktionsstücken formuliert habe. Als ich 1966 z.B. auf dem KU’DAMM in Berlin, aber auch in anderen Städten, rechts und links Theatersessel aufbaute und Eintrittskarten verkaufte und das Geschehen zwischen den Theatersitzreihen, also das was auf dem Ku'damm passierte, zum Gegenstand der Beobachtungen von Theaterbesuchern machte, war das Ausdruck für diese Art von Geschehen. Das heißt, mit den in der Kunst entwickelten spezifischen Formen der Wahrnehmung, Thematisierung und Problematisierung jetzt außerhalb des Kunstbereichs aktiv zu werden. Uns ging es im wesentlichen darum, das Publikum zu professionalisieren, d.h. klar zu machen, daß eine Kunst ohne entsprechend leistungsfähiges Publikum ins Leere läuft. Die Künstler haben das ja seit Jahrzehnten ausgedrückt. Was nützen ihre elaborierten Formen, wenn niemand da ist, der das, was sie in monatelanger oder gar jahrelanger Arbeit sogar in Kleinformen ausgetüftelt hatten, wahrzunehmen in der Lage ist. Man konnte das gar nicht beurteilen oder gar schätzen. Es kam nur zu einer Art von Unangemessenheit zwischen der Produktionssphäre und der Rezeptionssphäre, wo Leute innerhalb von 1 ½ oder 2 Stunden gigantische Werke musikalischer, literarischer, theatralischer oder bildkünstlerischer Art beurteilen sollten. Es ging also hier um die Forderung nach der Professionalisierung des Publikums. D.h. dem Publikum mußte zuerst einmal beigebracht werden, sich selbst ernstzunehmen, also auch in den banalsten Fragen, wie „Ist das Kunst?“ etc., um dann zu sagen, daß die Künstler diese Frage „Ist das Kunst?“ viel radikaler stellen als jeder andere, denn jedes Kunstwerk selbst ist eigentlich die Frage danach, und „Wieso soll das Kunst sein?“ ist demnach etwas anderes. Das Publikum sollte selbstbewußt werden in der Fähigkeit, die eigenen Fragestellungen nun tatsächlich an die Künstler zu adressieren. Damit wurde im wesentlichen gesagt, daß das Verlachen der Gattungskunstsphären Theater, Literatur, Musik, Kunst etc. nicht Verlachen der Künste hieß, sondern künstlerische Techniken, Wahrnehmungsformen und Problematisierungsformen bedeutsamer zu machen, indem diese Fragestellungen auch die des Publikums wurden, also der Alltagsmenschen, die ihre ganze Bedeutung erst darin ausspielen konnten, daß ihre Fragen sozusagen von den Lesern und Zuschauern betrachtet und übernommen worden sind. Diese Generalthematik „Lehren und Lernen als Aufführungskünste“ faßt das zusammen. Es geht ja sozusagen sowohl um das Lehren, das Demonstrieren, das Vorführen, das Präsentieren durch die Künstler wie umgekehrt auch das rezeptive Verhalten, hier kurz Lernen genannt, als Aufführungskünste, denn es wurde die Gleichgewichtigkeit zwischen Produktionsformen und Rezeptionsformen hergestellt. Beim action teaching, das ich ja als Begriff zusammen mit Alan Kaprow seit 1959 verwendet habe, kam zur Geltung: investigativer Journalismus oder investigative Kunst hieß lernen und problematisieren durch Aktionsformen, durch Beteiligungsformen, die gleichermaßen für den Künstler wie für das Publikum galten. Beim Happening war es ja ebenfalls intendiert, daß Akteure und Zuschauer in solche problematisierenden Ordnungen hineinkamen, wobei das Happening zu stark an gesellschaftliche Ereignisformen gebunden war, wie etwa Fest und Feier oder Attraktion oder Spaßmachen oder Überbietungsauffälligkeit. Wir fanden, daß das auf den Kern reduziert werden sollte, nämlich die Parallelität von Produktion und Rezeption, von Lehren und Lernen, von Vorführen und Betrachten, und es sollte dem Publikum beigebracht werden, die Rezeptionstätigkeit selber als ein Aktivum zu sehen und nicht länger als ein passives Aufnehmen. Die Rezeption wurde also als aktive Form ausgelegt, und das entspricht natürlich allen neurophysiologischen Einsichten und ist inzwischen ja wohl auch Allgemeinauffassung geworden. Im Kern ging es also um die gleichgewichtige Ausformung von künstlerischem Angebot und rezeptiver Tätigkeit des Publikums, der Betrachter, der Leser und Hörer, also um die Parallelität von Lehren und Lernen, von Vorführen und Betrachten etc. Ich wählte dafür das action teaching, weil ja das Publikum selbst in der Art, wie es rezipiert, den Sprechenden, den Rhetor, den Künstler, den Vorführenden, etwas lehrt, der ja selbst wiederum nicht nur situativ darauf eingeht, was im Publikum passiert, sondern das Publikum als solches ausbildet. Die alten Rhetoren hatten ja ein festes Regelwerk, aus dem hervorging, daß der Rhetor nur Bestandteil einer kommunikativen Situation ist und gezwungen ist, das Publikum, die Zuhörer als die eigentlichen Akteure zu sehen. Davon ist natürlich seit Shakespeares Theater, der ja für seine Stücke die quintilianische Rhetorik komplett übernommen hatte, bis zur französischen klassizistischen Hochblüte einiges gewußt worden, was aber auch wieder verlorenging. Es auratisierte sich der Künstler als Führerpersönlichkeit, der Autorität hatte und das hat bis in die Kunsttheorien des 20. Jahrhundert gehalten, während die Künstler selbst merkten, daß ihre Autorität im wesentlichen von der Akzeptanz durch das Publikum bestimmt war. Es nützte also gar nichts, sich diese Autorität anzumaßen, sondern sie mußte entweder durch Zustimmung erworben werden oder zumindest durch die Aufmerksamkeit, die das Publikum dem Tun des Künstlers entgegenbrachte.

Die entscheidendste Gegenbewegung nach shakespeare'schem Ansatz war Richard Wagner. Wagner war nämlich der erste, der die Moderne als ein Werkschaffen im Kalkül der kommunikativen Wirkungen sah. Er ist insofern prägender Meister nicht nur der Hochkulturen, sondern auch der Subkulturen geworden, weil er etwa Hollywood lehrte, sämtliche künstlerische Ausdrucksformen in bezug auf die zu erzeugende Wirkung zu produzieren. Das Werk wurde nichts anderes als die Summe der Wirkungskalküle. Das kann man natürlich kritisch sehen, aber heute wird es eher als Normalfall angesehen, d.h. es ist kommunikative Grundbedingung. Wirkung ist dann nichts anderes, als die Einheit von Produktion und Rezeption in der Zeitgleichheit, heute würde man sagen in real time, zu erreichen. Deswegen wirkten diejenigen Künste am stärksten, die die Realpräsenz des Künstlers in der kommunikativen Situation in den Vordergrund schoben. Also das Manuskript des Autors wird nicht etwa von anderen realisiert, sondern er selber tritt in Aktion. Nicht eine stellvertretende Präsentation durch andere, sondern er selbst ist der Präsentator. Das hatte natürlich im Hinblick auf die Überprüfbarkeit eine hohe Authentizität, ob nämlich Wirkung zustande kommt oder ob wirklich eine kommunikative Beziehung ermöglicht wird. Deswegen ist es im action teaching unabdingbar, daß der Künstler bzw. der Autor selbst in Aktion tritt, denn es gibt ja auch für das Publikum keine Möglichkeit, sich vertreten zu lassen. Ich habe in dem Stück „A-Männer, B-Männer“ in den 60er Jahren als Theater, als Film und als Hochschuldemonstration deutlich gemacht, daß das Publikum real anwesend sein muß. Ich habe es immer als einschränkend empfunden, den Autor durch Schauspieler oder durch Sprecher vertreten zu lassen. Man merkt ja an der Eindeutschung bzw. Synchronisation von ausländischen Film- oder Theaterstücken sehr deutlich, wie hoch der Authentizitätswert ist, der darin besteht, daß der Künstler oder der Autor selber spricht. Es ging also einmal um den Gleichstand in real time zwischen Produzent und Rezipient und es ging andererseits um die Möglichkeit, die Realpräsenz, die im Publikum immer gegeben war, auch auf den Künstler zu übertragen, d.h., der Künstler wurde gezwungen, in der Realpräsenz zu erscheinen und sich nicht nur durch sein Werk vertreten zu lassen. Das Publikum hat ja höchstens die Möglichkeit, sich durch die Kritik vertreten zu lassen. Aber was hat das für einen Sinn, Kunst für die Kritik zu produzieren, obwohl es das ja auch gibt. Das Publikum wird also durch den Kritiker in eine Stellvertreterposition gesetzt, und das ist dann das ganze Geschehen, d.h., man malt also nur noch für das Museum, also für die Kritik des Kustoden oder des Kurators, und das war es dann. Dagegen waren diese Konzepte von Lehren und Lernen als Aufführungskünste und von action teaching gesetzt und es ist ganz typisch, daß das im Rahmen von Universitäten, Akademien und Schulen und ähnlichen Institutionen getan wurde, weil hier von vornherein ein gewisses aktives Verhalten des Publikums vorausgesetzt werden konnte. Die Studenten haben in der Hochschulsituation einen gewissen Status, sie sind zum aktiven und nicht passiven Lernen aufgefordert, sie sind auf der Kunstakademie, um zu zeichnen, zu malen etc. und nicht um zu rezipieren. In Wahrheit muß also auch ein Theaterpublikum im Theater funktionieren, sonst ist das Geschehen auf der Bühne tot. Das Publikum weiß, daß es durch die Art seiner Präsenz, durch seine Aufmerksamkeit, durch die Stimmung, die es verbreitet, eine wesentliche Rolle für das Gelingen dieser Vermittlungsformen spielt. Deswegen setzten all diese Konzepte bei den institutionellen Formen von Produktion und Rezeption an. Wir wollten ab Mitte der 60erJahre die rezeptive Ebene auch institutionell festschreiben und wollten dem Hamburger Senator für Wissenschaft und Kultur beibringen, daß er Klassen für Rezeption einrichten muß, in der eben die produktive Seite des Rezipierens deutlich wurde, und zwar als Berufspublikum, das sich auf der höchsten Entwicklungsstufe der Künste bewegte und dadurch in der Lage war, die Kunstentwicklung voranzutreiben. Die Künstler selbst können ja die Entwicklung nicht bestimmen, ohne einen entsprechenden Adressaten zu haben. Es ging also immer wieder um diese Möglichkeit, einen Gleichstand zwischen Produktion und Rezeption, Parallelität in der Produktivität zu sehen, was ich außer in Hamburg auch in Wien versucht habe. Man ist als Zuhörer eben genauso produktiv wie der, der etwas zu Gehör bringt, als Betrachter genauso produktiv wie der, der ein Bild zeigt, vorausgesetzt, es geht tatsächlich um Betrachtung, und zwar Betrachtung als das, was das Werk will, nämlich rezipiert zu werden. Das hat aber bisher weder in Hamburg noch in Wien noch in Wuppertal geklappt. Die Ministerien waren nämlich nicht bereit, solche Klassen einzurichten. Im Bereich der Wirtschaft und des Managements haben sich solche Ideen inzwischen aber durchaus durchgesetzt. Die Professionalisierung der Konsumenten wurde ja durch Zeitschriften wie DM und TEST vorgetragen. Der Konsument konnte hier durch seine Unterscheidungsfähigkeit am Markt produktiv sein und hochgradig auf Qualitätserkenntnis trainiert werden. Es ist hier tatsächlich zu dieser Parallelität gekommen, denn die Wirtschaftler wissen, daß sie ohne die Konsumenten als aktive Form des Wirtschaftsgeschehens aufgeschmissen sind. So hat sich am Markt gezeigt, daß Produzieren, ohne daß es auf Nachfrage beim Konsumenten stößt, nichts ist. In der gesellschaftlichen Kommunikation, die über Kunst läuft, ist Kunst eine spezifische Technik der Wahrnehmung, der Problematisierung und der Unterscheidungsmöglichkeit, die so raffiniert ist, daß sie alle anderen Gebiete übertrifft. Ich führe immer Beispiele aus der Monochromie an, wo monochrome Maler noch eine Differenzierungsmöglichkeit im monochromen Material gefunden haben, die in ihrer Feinheit und Raffinesse bestenfalls von theologischen Erörterungen übertroffen werden kann und gerade deswegen von großer Bedeutung ist in bezug auf eine Unterscheidungsmöglichkeit des Unterschiedslosen. Diese Formen des Lehrens und Lernens als Aufführungskünste bzw. des action teaching haben sich im wesentlichen verstanden als Ermöglichungen der Entwicklung innerhalb der Kunst selbst. Ich ging damals so weit zu sagen, daß die entscheidende Herausforderung für die Künstler das Publikum gewesen ist, und das würde ich auch heute noch sagen. Je professioneller, je unterscheidungsfähiger, je wahrnehmungsfähiger, je problematisierungsfähiger das Publikum war, desto höhere Anforderungen wurden an den Künstler gestellt und diese Nachfrage am Markt hat die Kunst viel mehr stimuliert als das eigendynamische Ausdrucksverhalten der Künstler selbst. Wenn ich die verschiedenen Stationen der Entwicklung dieses Gedankens betrachte – also: wie läuft die gleichwertige Professionalisierung des Publikums, und wie läuft die Professionalisierung der Künstler über Kunstakademien und das Lehren von Berufsausbildung etc. – und Partnerschaft zwischen Produktion und Rezeption herstellen will, dann waren wichtige Stationen Straßentheater-Ereignisse. Hier können Sie sehen, daß die studentische Politik der 60er Jahre darin bestand, als Rezipienten die Form der Kunst anzuwenden, die vorher im Happening, in der Pop Art und in Aktionsstücken entwickelt worden war. Die Studenten übernahmen das dann, um es politisch und sozial zu demonstrieren. Außer den Straßen-Aktionsstücken waren auch die Besucherschulen besonders wichtig. Besucherschule ist ja ein merkwürdiger Zwitter, es scheint eindeutig die Autorität des Lehrers gegenüber dem Schüler zu meinen, aber im Grunde genommen ist es in der Praxis genau umgekehrt. Das Entscheidende sind nämlich die anwesenden Besucher der Ausstellung, aber nur, wenn sie in die Lage versetzt werden, gegenüber dem, was sie da sehen, eine Forderung, ein Thema, eine Sichtweise und Urteilsformen zu entwickeln. Die bedeutendste Ausformung dieses Besucherschulen-Gedankens war übrigens, daß ich den Leuten vorführte, was die Ausstellung nicht zeigen konnte. Das hat aber natürlich kein einziger Kritiker verstanden, niemand hat das verstanden, und niemand hat sich jemals darauf bezogen. Ich hatte an der 1972er DOCUMENTA eine entscheidende Rolle bei der Formulierung des Gesamtkonzeptes: Wirklichkeitsanspruch der Bilder, Titelbilder des SPIEGEL und Irrenmalerei, Konsum und Kunst etc. Ich wollte damals Szeemann und Ammann und Iden und Dr. Braun, den Leiter des Theaterverlags der Autoren und des Filmverlags, davon überzeugen, daß das Publikum nur in der Lage wäre, unsere Auswahl als Leistung zu erkennen, wenn wir auch das zeigen würden, was nicht ausgewählt wurde. Seither habe ich bei jeder DOCUMENTA die Forderung erhoben, daß zumindest als Katalog oder in einer Besucherschule das präsentiert werden müsse, was nicht ausgewählt wurde, weil sonst die Auswahl dessen, was man zeigt, blind bleibt. Wenn man nicht weiß, aufgrund welcher Möglichkeiten des Auswählens hier Entscheidungen getroffen wurden, bleibt die Entscheidung, dies zu zeigen, jenes aber nicht, völlig sinnlos. Da war der Gedanke der Parallelität von Rezeption und künstlerischem Angebot auf die Spitze getrieben, indem man das thematisierte, was gerade nicht gezeigt werden sollte. Das liegt daran, daß man immer eine Ausstellung des Ausgewählten zeigt. Wenn das Publikum ins Recht gesetzt wird, gleichwertig zu sein, dann muß es aber auch die Urteile nachvollziehen können, dann muß es wissen, was nicht ausgewählt wurde, um das Ausgewählte bzw. um die Leistung eines Ausstellungsmachers überhaupt sinnvoll beurteilen zu können. Inzwischen wäre es ja ein leichtes, dieses Modell wenigstens als Katalog zu realisieren, weil die Ausstellungsmacher sowieso den Gesamtbestand dessen, was sie betrachten, auf Fotos oder Dias speichern müssen. Insofern könnten sie das komplette Material auf geeignete Datenträger übertragen, und jeder könnte auf einer Ausstellung sofort gezeigt bekommen, was der Hintergrund für diese Präsentation ist, nämlich der Bestand dessen, was nicht für ausstellungswürdig oder ausstellbar angesehen worden ist. Erst dann kann ich die Auswahl verstehen. Es ist mir klar, daß Ausstellungsmacher und Künstler ihre Autorität wahren wollen, indem sie es unmöglich machen, ihrem Urteil beizukommen. Das ist aber ein Bärendienst nicht nur am Publikum, sondern auch an der Kunst. Wenn man einerseits darauf angewiesen ist, ein verständiges, gebildetes und thematisch auf die Feinheiten des Unterscheidens ausgerichtetes Publikum zu haben, kann man es auf der anderen Seite nicht für dumm verkaufen wollen, indem man sagt, das Publikum braucht die Geheimnisse der Entscheidungsfindung nicht zu wissen. Es kommen dann in diesem Zusammenhang noch diejenigen Aktionsstücke infrage, in denen ich sozusagen einen Zeitgenossen generalisierte und ihn wechselweise in die Position des produzierenden Künstlers bzw. des rezipierenden Publikums brachte. Also die „Rhetorische Oper“ oder das Fundamentalistendebattenstück „Wir wollen Gott und damit basta!“ und „Unterhaltungsprogramm für die Hölle“, diese Tetralogie, die ich gemacht habe, und in der die Hauptfigur zwar durch mich gespielt, aber aus zeitgenössischem Material zusammengebracht wurde. Von Peymann bis Strauß, von Syberberg bis Kiefer, von Barschel bis Lafontaine, von Engholm bis Schmidt etc. wurden Positionen gegeneinandergeschnitten, so daß die Figuren sich selbst immer wechselseitig selbst demonstrierten in der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossenschaft. Also das Wechselspiel von: Ich gucke etwas an, ich betrachte etwas, lerne etwas, verstehe etwas und werde dadurch aussagefähig, mitteilungsfähig, behauptungsfähig und komme so anderen gegenüber, die mir gegenüber Aneignungsaktivitäten betreiben, in die Rolle eines Aussagenurhebers. Die Kette dessen auszubilden, was man Kommunikation nennt, war in den Figuren dieser Tetralogie „Unterhaltungsprogramm für die Hölle“ sehr wichtig. Ich wechselte dabei immer aus den verschiedenen Positionen der Produktion wie z.B. Künstler, Unternehmer, Politiker, in die verschiedensten Rollen des Publikums. Den meisten Leuten ist es ja gar nicht klar, daß Publikum zu sein keine einheitliche Rolle ist, sondern daß es in den Verhaltensweisen des Publikums genauso rollenspezifische Unterscheidungen gibt, wie bei den produktiven Aussagen der Urheber. Es ist doch ein Unterschied für das, was ich da vortrage, ob ich es als Künstler, Politiker oder Unternehmer mache.

Das Band nähert sich langsam dem Ende. Darf ich Sie noch um einen Schlußsatz bitten?

Die entscheidende Frage ist, ob durch neue Techniken, Computer, Medien das Verhältnis von Produktion und Rezeption verändert wird. Wird es grundlegend verändert, und ist durch die Interaktivität jeder sein eigener Autor geworden, sein eigener Produzent geworden, und ist diese wechselseitige Position von Produktion und Rezeption in der Einheit von Produktion und Rezeption in den neuen Medien verstärkt oder abgeschwächt? Es wird behauptet, daß sie verstärkt wird. Wenn man diese Behauptung annimmt, kommt zwangsläufig die Frage, was das dann bedeutet. Dann muß das Publikum nämlich reprofessionalisiert werden, damit es selbst auf seinem PC interaktiv mit anderen werden kann, dann muß es die Aufbereitung von Bild- und Textmaterial, Satz, Layout etc. beherrschen, sonst kann man nämlich gar nicht mitkommunizieren, es sei denn in einer banalen Form „Hier bin ich, wie geht es Dir?“ Wenn die Behauptung also stimmt, dann wird die Professionalisierung des Publikums umso notwendiger. Wir sehen ja die erhöhte Professionalisierung bei allen, die diese Medien benutzen, seien es Naturwissenschaftler, die heute übrigens die besten Kunsthistoriker sind, und bei Biologen, Enzymatikern, Biochemikern und Neurologen, die heute die besten Kulturwissenschaftler sind. Durch ihre Art von Produktivwerden am Bildschirm mit zeichengebenden Verfahren sind sie gezwungen, sich über das, was sie produzieren, genau zu informieren, und darüberhinaus, inwieweit sie als Produzenten überhaupt Aussagenurheberschaft für sich in Anspruch nehmen können. Herr Theewen, warum so schweigsam? Wir wollten uns doch unterhalten.

Ich wollte Ihre Privatvorlesung nicht unterbrechen. Jetzt weiß ich aber endlich was action teaching ist. Herzlichen Dank.

Reißverschlusskleid, 'Theoretisches Objekt', 1967, Bild: Ausgeführt von Gesa Irwahn © Abisag Tüllmann.
Reißverschlusskleid, 'Theoretisches Objekt', 1967, Bild: Ausgeführt von Gesa Irwahn © Abisag Tüllmann.

siehe auch: