Kann man sich den „Unbekannten Soldaten“ bekannt vorstellen, personifiziert? Oder den anonymen Zeitgenossen, den Mann von den New Yorker Straßen, den Träger der statistischen Durchschnittswerte? Den abstrakten Typus als konkretes Individuum? Man konnte – jetzt starb er – Andy Warhol. Er war das allen scheinbar vollständig durchschaubare Rätsel, ja das Mysterium der profanen Geheimnislosigkeit, die Personifikation der jedermann heute zukommenden Eigenschaften beziehungsweise Eigenschaftslosigkeit. Daran hat er zugleich mit der Naivität aller erfolgreichen Machtmenschen und mit der Zielstrebigkeit aller begnadeten Schöpfer gearbeitet. Diese Fähigkeiten entwickeln die meisten unter uns nicht, weil wir vor der Radikalität des Entschlusses erschrecken, nur noch das Selbstverständliche und Banale, nicht mehr das Außerordentliche und Wünschenswerte ernst zu nehmen.
So ernst war es Warhol mit den Phänomenen des Alltagslebens, der industriellen Serienproduktion und der Massenmedien unserer jüngsten Tage. Hat es jemanden gegeben, der Xeroxkopie und Tonband, Polaroid und Super-8-Film und Do-it-yourself-Anleitungen intensiver nutzte als Warhol – nicht als Mittel, sondern als Zwecke? Er setzte die weltbewegende Maschinerie aber als Einzelner in Tätigkeit, fütterte sie mit beliebigem Material und überließ die Verarbeitungsresultate den eingespielten Verwertungsinteressen. Er wollte und konnte nicht Prophet sein, nicht Visionär oder Agent höherer Einsichten. Er ließ sich ganz vorbehaltlos, insofern naiv, auf das ein, was diese Gesellschaft als ihr gutes Leben verstehen will. Er nahm die Versprechungen der totalen Technik und das lauthals vertretene Selbstverständnis der Konsumgesellschaft beim Worte – und wir hätten vor uns selbst, nicht vor ihm erschrecken müssen, indem wir nur konstatieren konnten, wozu wir uns haben machen lassen. Da plötzlich wollten wir von ihm nichts mehr wissen, ja, wir haßten ihn und straften ihn durch konsequentes Wegsehen. Wie haltlos waren doch die Abwehrreaktionen, die ihn als bloße Gesellschaftshure, als Ausbeuter drogensüchtiger Mitarbeiter, als gewieften Medienmanipulator zu stigmatisieren versuchten. Seine schiere Oberflächlichkeit wurde gegeißelt – von den Oberflächlichen. Seine modischen Attitüden wurden hämisch besprochen – von denen, die als Spürhunde der neuesten Trends lebten. Seine Willfährigkeit als Gesellschaftsportraitist wurde abschreckend vorgeführt – von allen, die sich die Beine ausrissen, auch einmal aus diesen Kreisen Aufträge zu erhalten.
Und zu allem lächelte er; Gipfel der Unverschämtheit. Er blieb höflich und freundlich, sagte Ja und Amen, gab seinen Gegnern Recht, ganz so, wie sie es wünschten. Natürlich wollten sie alle ihn zu ihrem Parteigänger machen, ihn von ihrer je besonderen Ansicht überzeugen. Sie fühlten sich düpiert, weil er sie unterschiedslos gewähren ließ, sich also um sie nicht kümmerte. Hatte dieser Mensch kein Gewissen, fragten die Gewissenlosen, keine Seele, keine allzu menschlichen Bedürfnisse nach Nächstenliebe und Fremdenhaß? Er liebe das Geld, na schön, aber dann demonstrierte er, daß man für jede X-Beliebigkeit so viel Geld erhalten könne wie man wolle; Geld sei nur besser als kein Geld, sonst bedeute es nichts.
Auch er sei verheiratet – wie jeder Mann es gern ist – mit einem TV-Set; Liebe mit einer Frau sei zu anstrengend. Auch er wolle berühmt sein, wunderbar, aber sogleich bewies er, daß jedermann berühmt sein könne, und mehr als eine Viertelstunde hafte der Ruhm ohnehin nicht in den Köpfen der TV-Kids.
Man ist berühmt für seine Berühmtheit, konstatierte er; und wie wird man berühmt? Indem man dergleichen konstatiert und akzeptiert. That's all – jedenfalls für alle, die ausschließlich interessiert, wie man berühmt wird und das Geld macht.
War das alles für ihn? Natürlich nicht, aber danach fragte ihn kaum einer. Beuys hat ihn gefragt, deshalb waren sie befreundet wie die Vergangenheit und die Zukunft.
Warhols Antwort? Er hatte entdecken müssen, daß er ein großer Maler geworden war, ohne zu wissen wie. Und damit hatte er recht, wie wir alle spätestens zugeben müssen, seit Carl Haenlein 1981 in der Kestnergesellschaft/Hannover die Werkschau „Warhol 1961 – 1981“ zeigte. Haenlein hatte sich nicht beeindrucken lassen von der kursierenden Popideologie und den Verzweiflungssprüchen Warhols. Haenlein wählte die Warholschen Arbeiten schlicht und strikt nach herkömmlichen Qualitätsmerkmalen aus. Das Resultat war verblüffend. Eine beachtliche Anzahl der Werke hielt sogar dem Vergleich mit so anspruchsvollen Arbeiten wie denen des späten Matisse stand. Es zeigte sich, daß Warhol seine Lieblingstechnik, den Siebdruck, eben nicht nur angewandt hatte, weil so seine handwerklichen Dilettantismen als Maler ausgeglichen, ja überhöht zu werden vermochten; vielmehr hatte Warhol erst die malerischen Möglichkeiten der Bilderzeugung, die im Siebdruck lagen, entdeckt und konsequent entfaltet; eine völlig eigenständige Leistung Warhols, die den Zeitgenossen vor den aufregend unkonventionellen Motiven der Bilder entgangen war.
Was sollte an dieser erfreulichen Feststellung für Warhol so problematisch gewesen sein? Aus dem großen Künstler mit seinen anspruchsvollen, absolut zeitgemäßen, generationsprägenden Konzepten und Attitüden war ein bedeutender Maler geworden – nichts als ein Maler. Der Traum war aus. Er hatte immer ein großer Künstler sein wollen und nicht ein Maler; ein Künstler am besten ohne Werk, weil er wußte, daß sich die Leute doch nur für den Künstler interessieren, wenn sie seine Werke sehen. Er glaubte, seine Zeit verstanden zu haben; er hatte der unwiderruflichen Entwicklung weg von der Kunstgeschichte als Qualitätskatalog des Bilderschaffens entsprechen wollen, indem er die Beiläufigkeit und Beliebigkeit allen künstlerischen Werkeschaffens betonte. Er hatte anonym werden wollen, objektiver Geist, weltbewegende Kraft des Allgemeinen; nun identifizierte man seine Werke selbst dann als für ihn typisch, wenn er sie von irgendwelchen Gehilfen hatte ausführen lassen – und man sortierte nach Qualitäten.
Er hatte so völlig unwiderlegbar zu zeigen gewußt, daß selbst jeder Großmaler zum bloßen Journalisten werden mußte, sobald ihm die zukünftigen Generationen als Adressaten seines Tuns entzogen wären; und wer konnte noch daran glauben, daß es in 50 oder gar 100 Jahren Menschen geben könnte, die sich für prätentiöse bürgerliche Schöpfertaten interessieren würden? Nun wurde Warhol von Kunsthistorikern bewiesen, daß die Maßstäbe heutigen Schaffens nicht aus der Zukunft, sondern aus der Vergangenheit entwickelt werden; und um die hatte er sich niemals gekümmert, weil er annahm, das Zeitalter des totalen Medienverbundes könne nur vollständig ahistorisch sein. Beuys hatte es besser gewußt; bei ihm lernte Warhol sogar, den Bezug zur Vor- und Frühgeschichte zu erkennen, von der Geschichte seit dem Mittelalter ganz zu schweigen. Warhol entdeckte, die fürchterlichste aller Selbstverständlichkeiten vergessen zu haben, daß wir Gewordene sind; selbst Maschinen haben eine Entstehungsgeschichte und altern. Er aber hatte die Maschinen geliebt, weil sie, wie er glaubte, keine Vergangenheit und keine Zukunft hätten.
Es nützte ihm nicht länger, eine Maschine sein zu wollen. Jetzt war er Maler, ein hilfloses Opfer von Urteilen, die er nicht verstehen konnte. Seine großartigen Konzepte der absoluten Zeitgenossenschaft und seine brillante Rolle als Künstler fielen in sich zusammen.
Aber wem konnte er das eingestehen? Jetzt, da Beuys tot war? Einem katholischen Priester, dessen Messen er häufig besucht hatte? Dorthin war er nur gegangen, weil er das seiner Mutter versprochen hatte – im übrigen boten die Kirchen ja auch gute TV-Programme: immer das Gleiche, rituell wie eine Talkshow, jeder kannte alles auswendig, nichts Überraschendes war zu gewärtigen.
Wem sollte er sich anvertrauen? Der Vergangenheit? Ja, der Geschichte! Das wäre die Rettung. Er mußte ein Gewesener werden.
Jetzt ist er es geworden.