Gottfried Benn definierte in seinem berühmten Vortrag „Altern als Problem für Künstler“: „Wenn etwas fertig ist, muß es vollendet sein.“ Das Werk sei also die Einheit von Beenden und Vollenden einer Arbeit. Das ist eine entscheidende Forderung vor allem im Zeitalter prinzipiell endloser Werkprozesse, im Zeitalter der Bilderflut in allen Medien.
Aus der Einleitung zum Ausstellungskatalog: Die Macht des Alters. Köln 1998.
Zu altern heißt, die alltäglichen Anstrengungen zur Bewältigung des Lebens vorrangig unter dem Aspekt formaler Organisation zu sehen – anstatt jede Entscheidung mit Herz und Schmerz und im Gedanken an die tiefsten Wahrheiten und Ideale zu treffen. Tun, was getan werden muß – vor allem eine Sache, seine Sache fertigzumachen, lautet die Empfehlung, die schon die „Lebenskunst“ der antiken Stoiker auzeichnete. Wer lange leben will, muß mit einer hinreichenden Oberflächlichkeit die Pflichten des Tages kontinuierlich und konsequent absolvieren – ohne Pathos und ohne Frustration. Gerade die größten Werke verdanke sich diesem nüchternen Arbeitsethos -–nur Dilettanten schwärmen für den glücklichen Zufallswurf.
ebd.
Verweis auf sich selbst
Die Künstler sind Aussagenurheber, die, im Unterschied zu denen der Wissenschaft und aller anderen gesellschaftlichen Institutionen, ihren Aussagenanspruch ausschließlich mit Verweis auf sich selbst begründen, nicht mit Verweis auf repräsentative Programmatiken; nicht mit Verweis auf Legitimation per Mehrheitsbeschluss; nicht durch konsensgetragenen Entwicklungsstand naturwissenschaftlicher Arbeit oder geisteswissenschaftlicher Auslegekunst. Wenn irgendwo noch vom Humanum gesprochen werden kann, dann im Bereich der Künste oder vielmehr der Künstler, die zu behaupten wagen, was dem Subjekt als Problematik seines eigenen Welt- und Selbstbezugs deswegen bedeutsam ist, weil diese Probleme von keiner Wissenschaft, von keiner Kosmologie, von keinem gesellschaftlichen Selbstverständnis beruhigt werden können.
Hinter uns steht kein Volk
Lebensinszenierung
Es hat lange gedauert, bis man entdeckte, daß jeder Mensch eine Biographie hat, nicht nur Staatengründer, Religionsstifter und Künstler. Man wurde geradezu biographiepflichtig. Das Leben erschien erst beachtenswert, wenn jemand es der Erzählung für würdig hielt oder man es selbst erzählen konnte (als Autobiographie). Die entscheidende Wirkung hatten aber Biographien, weil sie dazu anhielten, das eigene Leben unter Gesichtspunkten zu planen, die eine strukturierte Erzählung überhaupt ermöglichten. Mit dem Lebensplan und seiner Verwirklichung wurde das Leben selbst zu einem Werk. Die Biographiepflichtigkeit von Jedermann wird vor allem ausgewiesen durch die Anforderung, jeder Bewerbung einen „Lebenslauf“ beizufügen. Seine Abfassung zwingt den Bewerber zumindest ansatzweise, Biographie als Zeitform anzuerkennen. Die Zeitform manifestiert sich in der Verknüpfung des bisherigen Lebens in der Rückschau mit der Voraussicht in die Zukunft. Ein erfolgreicher Bewerber garantiert Kontinuität des bisher Erreichten, also die Kontinuität einer Entwicklung, von der man sich viel versprechen kann.
Aus: Die Macht des Alters. Köln 1998.
Mittleres Talent
Für mich, Bazon Brock, will ich gerne akzeptieren, als ein bloß mittleres Talent zu gelten. Denn wäre ich mehr, so hätte ich nur noch mehr Arbeit daran, mich selbst zu fesseln; mich davon abzuhalten, irgendwelche großartigen künstlerischen Konzepte, philosophischen Spekulationen oder gesellschaftspolitischen Ideale als Handlungsanleitungen misszuverstehen und deren Durchsetzung im Alltagsleben der Menschen zu erzwingen.
Aus: Selbstfesselungskünstler zwischen Gottsucherbanden und Unterhaltungsidioten. In: Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er Jahre. München 1990.
Selbstreferenzialität
Wann immer ein Autor seine Aussagen mit Verweis auf sich selbst begründet, geht er wie ein Künstler vor. Als Künstler sollte man generell alle Aussagenurheber verstehen, die sich nicht darauf berufen, durch Approbation, Delegation oder Repräsentation legitimiert zu sein – unabhängig davon, in welchem Kontext die Aussagenansprüche entwickelt wurden und in welchen Medien sie vorgetragen werden.
Aus: Das Einzige, was Menschen in Zukunft gemeinsam haben werden, sind Probleme. In: ebd.
Abseits
Wir müssen die Möglichkeit kritisch in Betracht ziehen, daß sich die Universität, ähnlich wie die mönchische Klostergemeinschaft, als nicht mehr zeitgemäße soziale Institution erweist, daß die Universitäten zu öffentlich finanzierten Außenstellen der Konzerne werden, daß die Professoren die Ateliers, Labors, Seminare als bloße Erweiterungen ihrer Privatwohnung betrachten. Wer diese Gegebenheiten nicht zu akzeptieren bereit ist, weil er ahnt, daß den außeruniversitären Gemeinschaften schlußendlich die gleichen Problemstellungen wieder erwachsen werden, muß bis auf weiteres das Stigma ertragen, eine atavistische Kuriosität, ein Störenfried, ein Besserwisser, ein Unnahbarer zu sein.
Aus: Studio Line. Die Universität als Kulturferner Ort. In: ebd.