Gekürzte Fassung des Originaltextes Bazon Brock: Gott als Müllfigt. Kathedralen für die neue Wirklichkeit. In: Winfried Baumann. Arbeiten 1986-1989, Ausstellungskatalog.
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Seit dem Beginn der Industriellen Revolution, also seit etwa 200 Jahren, verdichtete sich die Selbstrechtfertigung unserer Zivilisation zu einem Mythos der schöpferischen Hervorbringung, der es mit dem alttestamentarischen Pendant zumindest aufnehmen können sollte. Alle Gedanken drehten sich um Steigerung der Schaffenskraft, Erhöhung der Produktionskapazität und Koordination vieler einzelner, in sich sinnloser Arbeitsschritte zu einem nur als Ganzem sinnvollen, also zu einem System. Im Unterschied zum biblischen Gott lieferte der Schöpfer aber als Wissenschaftler, Ingenieur, Erfinder und Organisator nur noch die Pläne der Schöpfung, die Ausführung übernahmen die Geschöpfe selber. Diese sich selbst schöpfenden Geschöpfe konnten ihre Kreativität weit über die des biblischen Gottes steigern, so daß die Welt in absehbarer Zeit bis in den letzten Winkel mit ihnen angefüllt sein würde. Mußte das nicht schließlich zum Stillstand aller Produktion führen? Und bedeutete nicht Stillstand das Ende als Tod?
Schon im 19. Jahrhundert gingen eine Reihe von Denkern gegen dieses drohende Ende mit der Empfehlung an, man möge schnellstens auch die Selbstschöpfung des Menschen jenen Gesetzen unterwerfen, denen die Schöpfung Gottes unterlag; sie empfahlen einen permanenten Bürgerkrieg als Entscheidung darüber, wer der Fähigste sei und überleben dürfe, wo nicht alle Platz haben. Da ein solcher Kampf mit der offiziösen christlichen Ethik zu kollidieren schien, überhöhte man den Kampf aller gegen alle zu einem Gesetz jeglicher Entwicklung. Entwicklung wurde dadurch nebenbei zu einer Art Wandlung umdefiniert: an die Stelle des Wandlungsläutens mit dem Meßdienerglöckchen trat das Donnern der Kanonen und das Krepieren der Bomben. Fortschritt durch Zerstörung hieß das neue Lösungswort für den, wenn auch vorerst nur vorgestellten, Zustand einer Welt, die sich durch Entfaltung selbst vernichtet, durch Pflege zerstört, durch übermäßige Fruchtbarkeit in Wüste verwandelt wird. Durch Untergang zur Auferstehung, per aspera ad astra, per Apokalypse zur Wiederkehr des Herrn sind Maximen, die es selbst einem Christen zur Pflicht machen, seiner übergroßen Leistungsfähigkeit und Schöpferkraft eine ebenso große Zerstörungskraft, ein zumindest gleichwertiges Aggressionspotential kontrollierend an die Seite zu stellen.
Und ist das nicht wirklich Zeichen größten Verantwortungsbewußtseins, nicht mehr länger nur im Omnipotenzrausch fortwährend mehr zu produzieren, als man selbst verbraucht, sondern das Aus-der-Welt-Bringen, das Zerstören, das Kaputtmachen als ebenso schöpferische Kraft zu verstehen? War vielleicht in dieser Weise sogar schon das antike Diktum zu verstehen, der Krieg sei der Vater aller Dinge? Wenn Neuschaffen doch immer nur ein Verwandeln durch Zerstörung bedeuten mußte, konnten sich die Konkurrenten Gottes sehr viel eher die Weihen der historischen Größe durch Zerstörung, durch Feldherrntaten und Herostratentum beschaffen als durch Aufbau dessen, was es denn ohnehin zu zerstören galt.
Hinweise auf die diesbezüglichen Laufbahnen schöpferisch besonders Begabter oder auch nur besonders ehrgeiziger Individuen erübrigen sich: Man muß aber immer wieder daran erinnern, daß zum Beispiel unter Künstlern ein Großteil solcher Ambitionen tatsächlich durch Selbstzerstörung der Individuen erfolgreich verwirklicht wurde. Zumindest ist für die Künstlerideologie des 19. Jahrhunderts Selbstzerstörung durch Rauschmittel, die Überhöhung des Todes in der Gosse, Selbstinfektion mit tödlichen Krankheiten, Verbrechermut und Auszeichnung durch Verworfenheit symptomatisch.
Auch um diese Positionen kann es heute nicht mehr gehen. Ebensowenig wie um die der Abräumdenker, kindischen Selbstopferer, titanischen Nihilisten und heroischen Ekstatiker, die den Wahnsinn als Zeichen der Auserwähltheit gewertet wissen wollen. Eher schon darf man sich den Zynikern anvertrauen, wenn es denn zynisch ist, etwa unsere Ruhrgebietsstädte oder gar die gesamte bundesrepublikanische Nachkriegsarchitektur der Schönheit ihrer Häßlichkeit wegen zu preisen. Daß das eigentlich Schöne als solches unter den Bedingungen eines elenden Lebens selbst häßlich geworden ist, kann man verstehen. Ein Raffael im Dortmunder Dreck ist eine bodenlose Niedertracht. Der Raffael regt nur noch das Erbrechen an oder den Griff zur Axt. Aber den Dortmunder Dreck wie einen Raffael zu betrachten, zu deuten und zu würdigen, scheint allen jenen die letzte Rettung durch Selbstüberhöhung, die sich immer noch nicht damit einverstanden erklären wollen, daß Zerstörung die einzige Form von Verteidigung sei.
Aber wer kann es sich schon leisten, zynisch zu sein, wenn er nicht gerade von Beruf Feuilleton-Redakteur ist, wenn er also nicht gerade für die Verwirrung von Spiel und Ernst, Sein und Schein, Oberfläche und Wesen, Denken und Tun bezahlt wird. Der Sinn dieses Spiels ist es, Schreibtischtätern allen Einfluß zu sichern, sie aber zugleich von jeder Verantwortung freizusprechen.
So angenehm der Hautgout des Bösen auch den – ja, wie nennen das die Herren? – auf Durchschnitt herunterdemokratisierten Geistern in die Nase stechen mag; so interessant auch die Attitüde spätexistentialistischer Geworfenheit beamteter Professoren oder unkündbarer Angestellter bei Ladies als Legitimation für einen Essay über Todessehnsucht akzeptiert werden mag; so sehr auch Präsidenten und Minister, Militärs und Priester das angehäufte Zerstörungspotential als Kraft der Verwandlung des irdischen Jammertals in Gottesreiche auszugeben vermögen – es ist in ihrem schändlich gottgleichen Tun nicht einmal der Hinweis darauf zu finden, wie denn hinfort Hervorbringen und Zerstören vermittelt werden müßten.
Wir erinnern uns ja wohl noch des ungläubigen Staunens, als wir erfuhren, daß zum Beispiel unsere Chemiekonzerne fast ein Jahrhundert lang den Abfall so behandelten, als gehöre er gar nicht zum Produktionsprozeß. Produktionsrückstände, wenn auch nur als relativ harmlose Verschmutzungen, geschweige denn als hochwirksame Gifte, einfach irgendwo in die Gegend oder ins Meer zu kippen und dabei aus tiefstem Herzen überzeugt zu sein, daß die Produkte dieser Chemie für die Menschen so nutzbringend seien, daß man die Chemiker namentlich in die Abendgebete einzuschließen hätte – das erst, und nicht das bewußte Vabanquespiel verbrecherischer Industrieller zeigt die Bedeutung des Problems. Jede Durchschnittstype kann heute mit etwas Kapital und know how auf Deubel komm raus produzieren. In Wahrheit hat er nichts als Zerstörung betrieben, solange er die unerwünschten Folgen seiner Produktion, also die giftigen Abfälle, nicht auf gleich nützliche Weise aus der Welt bringt, auf die er seine Lacke oder Imprägniermittel in die Welt gebracht hat.
Probleme zu lösen, kann immer nur heißen, neue Probleme zu schaffen. Aber nur solche Problemlösungen als Schaffen von Problemen sind akzeptabel, deren unumkehrbare Folgen kleiner, d. h. weniger wirksam sind als die des ursprünglich zu lösenden Problems. Wer das Problem mangelnder Energie durch den Aufbau einer Plutoniumwirtschaft zu lösen verspricht, ist heute weder als glanzvoller Krimineller noch als heroischer Nihilist oder als gläubigster Judas gerechtfertigt.
Natürlich mag es etwas verwegen klingen, akzeptable Formen der Vermittlung zwischen Hervorbringen und Zerstören, zwischen Produktion und Konsumption ausgerechnet aus dem Bereich der bildenden Kunst zu präsentieren. Sei es drum: Joseph Beuys gibt tatsächlich einen zeitgemäßen Begriff jenes zu vermittelnden Zusammenhangs, wenn er auf dem Friedrichsplatz in Kassel zur documenta 7 eine seiner Plastiken aus Basaltsteinen in Dreiecksform auflhäuft und eine Spitze dieses Dreiecks auf ein frisch gepflanztes Eichenbäumchen weisen läßt. Der Wirkungsanspruch seines künstlerischen Konzepts wird erfüllt, wenn diese Skulptur als Beuys' Werk zu existieren auflhört, weil interessierte Bürger einen oder mehrere der Basaltsteine abtransportieren, um sie jeweils neben ein frisch gepflanztes Eichenbäumchen in den Boden einzulassen.
Wer den Steinhaufen als Beuys' Kunstwerk bewahrt wissen will, verhindert seine Wirkung. Wer das Beuys-Werk aber wirksam werden läßt, bringt es zum Verschwinden. Ja, das ist in der Tat eine beispielhafte Vermittlung von In-die-Welt-Bringen und Aus-der-Welt-Bringen, von Schöpfung und Zerstörung. Zugleich erbringt die Arbeit von Beuys den Beweis, daß altchristliche und altphilosophische Gottesimitatoren mit ihrem Anspruch scheitern mußten, Zerstörung sei nach dem Muster der Apokalypse die bedeutendste Form der Hervorbringung von etwas unveränderbar Ewigem, unbezweifelbar Dauerndem, also von systematisch hergestellter Totalität, die auch noch sich selbst als einen Teil enthält. Man kann nicht behaupten, daß im Bereich der bildenden Kunst der Gegenwart derart gelungene Beispiele für die Vermittlung von Fragment und System, von Zerstören und Hervorbringen zahllos wären. Auf jeden Fall aber sind sie in keinem anderen Bereich so zahlreich zu finden wie in der Kunst.
Das Altern der Kunstwerke ist nur auf eine sehr oberflächliche Weise, nämlich für Restauratoren, ein Akt der Zerstörung. Altern hängt auch nicht an der kalendarischen Distanz zum Herstellungsjahr eines Werkes. Altern heißt im besten Sinne Kompensation der Zumutung, die jedes Kunstwerk für den Betrachter darstellt, da sie sich mit der Gewöhnung neutralisiert. Die schöpferische Kraft der Eingemeindung durch Vergessen, durch Ablagerung auf den Haufen des eigentlich Entbehrlichen, schafft die Voraussetzung dafür, daß alte Formen neue Bedeutungen zu transportieren vermögen. Die entscheidenste Bedeutung alles einmal Hervorgebrachten ist die eines musealen Zeugnisses für die bis dahin verpaßten Gelegenheiten in der Geschichte einer Kulturgemeinschaft.
Aber: Was im Museum diese Kraft der Erinnerung an unumgängliche Verluste, an Verzicht auf Titanismus und Gottesanmaßung zu bezeugen vermag, stammt aus dem Müll und ist nicht wiederauferstanden aus Ruinen. Alles aus Ruinen Wiederauferstandene, Restaurierte und Rekonstruierte ist ja doch nur Fälschung und bloß vorgespielte Authentizität. Der Begriff der Authentizität läßt sich allein aus der uneinholbaren historischen Differenz entwickeln, in der man das Drama der Erkenntnis und die Tragödie des Menschen als Schöpfer auszuhalten fähig ist.
Vor allem die Kunst dieses Jahrhunderts und die aus ihrem Gegenstandsbereich auf das Alltagsleben übertragenen Erkenntnisleistungen (Mülltheorie statt Schöpfermythos) sollten unser Interesse am Ruinieren als handlungstheoretisches Konzept so weit bestärken, daß wir auf die Verlockungen auch der totalsten Zerstörung nicht hereinfallen.