Magazin FILM 4/1965
Eine deutsche Filmzeitschrift
Eine deutsche Filmzeitschrift
Seite 38 im Original
Bazon Brock: Ein Kritiker dessen, was es noch nicht gibt
In der „Frankfurter Rundschau“ warf mir der Kritiker Hanno Reuther vor, alle Schindmähren der Moderne gleichermaßen einzureiten: die Schindmähre moderne Malerei, auf deren Start- und Zielplätzen ich Zero, Neuem Realismus und Pop Signale geblasen habe; die Schindmähre modernes Theater, dem ich als Chefdramaturg den Stall zu säubern bemüht war; die Schindmähre moderne Literatur, auf der ich selber diverse Rennen vor dem abgeschlagenen deutschen Feld gewinnen konnte.
Nun, Reuther gesteht mir zu, daß ich immerhin verstünde zu reiten, und schließlich: wer sich schnell fortbewegen will, muß des öfteren die Pferde wechseln. Im Gefolge der französischen und amerikanischen Filmzeitschriften entfaltet sich allenthalben auch in Deutschland die Exegese des Western. Der Topos „Pferde wechseln“ ist meines Wissens dabei noch nicht untersucht worden. Mein Versuch, nunmehr auch den Film zu reiten (minding the film on mansback) könnte der Kritik zum aufrüttelnden Anlaß werden. Ich will mich nicht lumpen lassen.
Der Film stimmt den Betrachter durch Backgroundmusic ein. Da die Aufnahme eines Films erst mit dem Lesen möglichst vieler Kritiken zu Ende ist, empfehle ich für die Dauer der Rezeption meiner kritischen Äußerungen Radio Luxemburg einzuschalten. Mir nicht von vornherein gewogene Leser mögen solchen Introitus als blasiert empfinden, hochmütig, arrogant. Ja, ja, ja! Was bleibt mir denn anderes, mich von den vielen hervorragenden Geistern des Genres zu unterscheiden. Und: Getreu meinem Grundsatz, daß jedes Stück belichteten Zelluloids wert ist, angeschaut zu werden, und jeder heutige Mensch den Anspruch vorbringen kann, gefilmt zu werden, darf ich keinesfalls auf diese Möglichkeit verzichten, mich in meinem Arbeitsprozeß darzustellen.
Der angestammte Kritiker breitet den Teppich der Historie aus, um dann selber darauf zu erscheinen. Großer Bahnhof für das Wahrheitsprestige seiner Aussagen. Sich selbst verhilft man aber dadurch besser zum Bewußtsein der Lage, indem man, was man gerade noch zum Fortgang seines bestimmenden Arbeitens für notwendig hielt, vergangen sein läßt, historisch und fremd. Wenigstens theoretisch will ich mich in meiner Misere nicht vom Arbeiter unterscheiden und zustimmen, daß die Mittel der materiellen Produktion die der geistigen disponieren und daß sie, verendet in der Form eines Produktes, wie es eine Kritik ist, sich nicht von dem unterscheiden, was eine Konservendose ist.
Praktisch aber lasse ich jetzt Professor Dr. Jerry Lewis als stolpernden Boten der großen Gesellschaft auftreten und verkünden, die antagonistischen gesellschaftlichen Verhältnisse sind längst aufgehoben, weil es nicht mehr nötig erscheint, Sonderinteressen als Interessen der Allgemeinheit und Interessen der Allgemeinheit als herrschende Interessen darzustellen. Die angestammte Kritik, ob die nicht existierende rechte oder die linke Filmkritik, müssen auf derartigen Antagonismen bestehen, da sie sonst den Gegenstand ihrer Kritik verlören und, statt Ansichten zu haben, wieder arbeiten müßten, um Einsicht zu gewinnen.
Die vornehmlich, ja dringlichst zu gewinnende Einsicht wäre die, die kritische Methodik der Ideologien-Knackerei gegen sich selbst zu wenden, gegen die Kritiker als Ideologen des Kunstwerks.
Ideologie ist die theoretische Begründung eines Herrschaftsanspruches, in unserem Falle also des Herrschaftsanspruches der Kritik über das „Machwerk“ mittels des Begriffs Kunstwerk. Im Insistieren selbst der linkesten Kritik auf dem Kunstbegriff meldet sich dieser Herrschaftsanspruch immer wieder zu Wort und Tat, vor allem zur Tat, denn der Kritiker dessen, was ist, versteht seine Kritik als entfaltete Macht zu ändern, was nur zu ändern wäre, wenn der Kritiker dabei zugleich erführe, daß sein Widerspruch schon erwartet wird, daß erst seine Kritik das Übel zum wahren macht, indem er sich dazu herbeiläßt, dem Appell zu entsprechen. Wer gesellschaftliche Zustände reflektiert, als gehöre er im Augenblick nicht dazu und brauche sich selbst deshalb nicht zu reflektieren, dessen Widerspruch, dessen Kritik wird zum offensten Einverständnis mit der widersprochenen Sache. Das Paradestückchen deutscher
Filmkritik hierzu lieferten Patalas/Berghahn in „Filmkritik“ 3/61 bei der Formulierung der neuen Kritik als Gegenübersetzung zur alten Kritik, als bloße Negation. Die aber ist ohnmächtig gegen die total gewordene Vernunft, deren Gestalt die Negation als das Unvernünftige und Irrationale vervollkommnet.
Gegen ihre Intention sieht man deshalb die linke Kritik an einen irrationalen Begriff des Schöpferischen geklammert, indem sie glaubt, schöpferische Arbeit könne nicht simuliert werden, sie müsse immer in ein Kunstwerk münden oder sie sei keine. Und so ist sie bemüht, vermittels der Kritik Kunstwerke zu konstatieren oder ihren Bannfluch zu schleudern. Am Ende steht die linke Kritik dort, wo sie die nicht praktizierte rechte Kritik zu sehen glaubt: am Richtertisch apodiktisch sprechend. Während der Tatort selbst menschenleer bleibt. Immerhin ein Bild wenigstens der erloschenen Autonomie des Kunstwerks. Seine Autonomie als erloschen zu erkennen, ist jedoch heute wahrlich nicht mehr eine denkerische Tat. Aber auch das kritisch auf seinen eigenen Entstehungsprozeß und soziologisch auf seinen Realisationsraum zurückgeführte Kunstwerk bleibt doch eins, ein schlimmeres als jedes sich autonom und l’art pour l’art gebendes.
Bei der Darlegung solcher Gedanken und vor allem der Folgerungen, die sie für mich haben, wird das Wetter so schlecht, daß selbst die Vögel zu Fuß gehen, will sagen, die Künstler selber. Aber daß die beständig hinter sich zurückbleiben, ist, weil man sie beobachtet, bekannt. Und kein Beweis gegen mich.
Obwohl es mich zur Rage treibt, zu sehen, daß auch Antonioni aus dem Fortschritt seiner Ideen ausbricht oder hinausfällt, wenn er in Deserto rosso moderne Tragödie mimen läßt und selbst dafür noch eine Begründung mit der Krankheitsgeschichte der Protagonistin dem Publikum vorhält. Die Kritik andererseits bemüht sich mit dem Ausweis des Kunstwerks die Antonionische Farbgebung zu rechtfertigen, anstatt zu zeigen, inwiefern die Farben Antonionis diejenigen sind, die wir objektiv als Natur wahrnehmen; daß Antonioni also einen Farbfilm drehte (nicht Farbe als Ausdruckswert verhandelte), während, was uns zum überwiegenden Teil bisher geboten wurde, nicht Farbfilm, sondern angestrichenes Bild war. Mit der Bedeutung des Antonionischen Farbwerts zu spekulieren, zeigt nur, daß die Kritik keinerlei Einsicht in Entstehungsprozesse von „Machwerken“ hat, die man nicht als Kunstwerke auf ihre Wirkungsgeschichte festnageln kann. Die Kritik muß sich von dem Begriff des Kunstwerkes lösen, auch die Filmkritik, da nicht einzusehen ist, wieso sie hinter der der Literatur und der Malerei zurückbleiben darf. Dafür werde ich leidenschaftlich missionieren in dieser hier eingeführten Schule des Lebens, will heißen „Wie werde ich ein intelligenter, dem Objekt gewachsener und nicht an es ausgelieferter Zuschauer, Kinogänger, Konsument“. Selbst zum einfachen Vergnügen gehört Kennerschaft. So herum ist der Kritik zu empfehlen, sich etwas mehr im Kino zu vergnügen. Das Vergnügen aber setzt an bei der ausgehaltenen Einzelheit, bei der erarbeiteten Fähigkeit, auch Disparates, Fremdes, Verqueres und Unbegründetes in Anspruch nehmen zu können, ja es für wesentlicher zu nehmen als die propagierte Ganzheit des Werks.
Ein bruchloses Vorwärtstreiben der Ideen, wie es die linke Filmkritik fordert, ist außerhalb der Ideologie des Kunstwerks nicht möglich, weil jede einzelne verhandelte Sache, Bild, Gedanke, in sich so kompliziert sind, daß sie nur auf Grund eines äußerlichen Schematismus mit anderem verbunden werden können, will man adäquat mit ihnen verfahren.
In der Literatur kennen wir solche Schematismen als Form des Buches, des Stechmusters der literarischen Gestalt, als Endreim. Selbst die der Oberflächlichkeit nicht zu zeihende Philosophie Hegels weist eine Unzahl solcher Schematismen als Versatzstücke und als Leerstellen auf, die es nur ermöglichen sollen, weiterzudenken, weiter voranzukommen, ohne daß diese Versatzstücke selber etwas mit dem partikulären Schritt des Denkprozesses zu tun hätten. Sie sind nicht bloß irrationale Einschiebsel, sie sind Weiterungen des Verfahrens, das sich seinen Gegenstand erst selber herstellen muß.
Daß auch der Film und mit ihm die Kritik nicht mehr der Naivität unterliegen dürfen, ihm sei, was er darstellt, vorgegeben und er selbst nur Medium, Vorgegebenes auszudrücken, sondern was er zeigt aus dem Verfahren des fortlaufenden Bildes und nur aus ihm zu entwickeln hat, – das immer wieder zu vermelden, soll meine vornehmste Aufgabe sein. Nur dadurch lassen sich der Film und die Kritik von ihrer peinlichen Ewigkeitssucht heilen, ununterbrochen im Ansturm aufs Kunstwerk zu stehen, während realiter ein unbeachtetes Hopsasa, eine Turmbalgerei, ein Schlenker und reines Blabla uns weiterbringt nach vorn, ins Offene. Ins Freie.
Deshalb gilt es mir mehr, daß ich mich mit dem beschäftige, was es noch nicht gibt in der Arbeit mit der vorgehenden Zeit. Woraus denn sonst ließe sich ein Film machen und verstehen, beides aber zugleich, als aus der Arbeit mit der sichtbar vergehenden Zeit als Gestalt. Gegen diesen Gedanken darf man nicht zu heikel sein, sich nicht die Einsicht durch Redlichkeit verbauen, man diene den hehren Ideen des menschlichen Fortschritts als Künstler kraft des vollendeten Kunstwerks.
Es gilt, das Machwerk gegenüber dem Kunstwerk wieder zu Ehren zu bringen. Die Berufung auf die Eigengesetzlichkeit des filmischen Mediums, abgesetzt gegen das literarische, politische, gesellschaftliche oder philosophische, wird das nur verhindern. Was anders könnte ein philosophisches oder gesellschaftliches Kunstwerk sein als eine vollkommene Langeweile des unternommenen Menschen.
Das blödsinnige Pathos des Vorbehalts gegen Bewußtseinsindustrie, Kulturkonsum etc. muß abgebaut werden. Die Zurücknahme der Kultur in den materiellen Lebensprozeß darf nicht länger als Sünde wider den Geist betrachtet werden. Es geht nicht mehr darum, Sehnsüchte wachzuhalten, sondern ihre Erfüllung. Die Schönheit hat eine andere Verkörperung gefunden, weil sie nicht mehr als realer Schein dargestellt werden kann, sondern als Realität. Sagt Herbert Marcuse. Und gerade Rolf Thiele lasse ich sagen: daß wir wieder photographierbar werden müssen. Das Bild nämlich ist real. die Natur ein Übel und grausam wie der nichtgefilmte Mensch! Daran hat Karl Korn denken wollen, als ihm in einer FAZ-Glosse auffiel, wie unnatürlich Menschen werden, wenn sie gefilmt zu werden glauben. Sie tun recht daran, unnatürlich zu sein, denn erst in der optischen Vermittlung lassen sich Unnaturen durchschauen. Als glückliche Unnaturen. Und erst in der Stufe völliger kommunikativer Inkommensurabilität werden sie als Lebendige erkannt werden, im Film. Das Kunstwerk ist in dieser Stufe längst gegenstandslos geworden.
Zufolge der Zurücknahme der Kultur in den materiellen Lebensprozeß beziehen wir den Standpunkt eines aufgeklärten Verbrauchers, also eines solchen, der den Warencharakter alles Wirklichen zu suspendieren weiß durch Besitz, indem er ein guter Verbraucher ist, Ware konsumiert und über Wirklichkeit verfügt, wenn er sie aufhebt, auffrißt.
Cum granit salis betreibt dieser Verbraucher eine deskriptive Ästhetik, die nicht mehr als Ideal, sondern als Kommentar zu persönlicher Lebenserfahrung verstanden wird. Meine persönliche Lebenserfahrung erhalte ich an Nachmittagen in den platonischen Höhlen, als die sich mir Kinos darstellen. Geborgen, sicher im Angesicht die vermittelte Natur, die Wirklichkeit. Ja, auch ich trage Züge des Waisenkindes Mensch, bin Paradiesgänger und weiß, in welchem ich lebe. Im nächsten Heft von FILM und in allen folgenden werde ich unter Voraussetzung des oben Gesagten – ich bitte, es an besonderer Stelle gut aufzuheben – solche Lebenserfahrung eines Kinogängers vor dem geneigten Leser entfalten in Form eines Tagebuchs, denn wahrhaftig, ich gehe durchschnittlich zweimal am Tag ins Kino.
Für heute eine praktische Übung als Hausaufgabe: Legen und stellen Sie alle Gegenstände, die in einem Kreis von 2 m Durchmesser um Sie herumliegen und stehen, zu einer Pyramide zusammen. Beobachten Sie an sich, wie lange Sie auf die verbauten Gegenstände verzichten können. Am besten für immer. Jeden Tag ein kleines neues Leben befreit aus der Verfallenheit an die unermittelte Realität. Photographieren Sie sich und Ihre Umgebung täglich! Beachten Sie, wie sich Ihre Umgebung und Sie selbst dadurch verändern. Nur zum Guten, nur zum Guten.
Bazon Brock, geb. 1936 im heutigen Polen: Studium der Philosophie, Literaturwissenschaften und Politik in Hamburg, Zürich und Frankfurt; Hospitant bei Bremer/Sellner in Darmstadt; Chefdramaturg bei Gnekow; lebt in Frankfurt als unfreier Schriftsteller.
Veröffentlichungen u. a. Kotfluegel 1957; Allgemeine Theorie des Meeres, 1959; Das Erschrecken am Es, 1960; Ah, das geht ran, 1964; zahlreiche Aufsätze und umfangreiche Arbeiten für Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunk. Praktiziert seit 1959 die offene Form des Theaters als Happening, entwickelte die Formel des Agitpop zum jährlichen Bloomsday in Frankfurt, 20. Juli in Aachen 1964; Biennale von Paris, 1963; Mein Gott, was ist los, 1964; Die Verkommenheit des deutschen Bewusstseins, 1965, Berlin.
Bestritt bisher 13 Soireen allein und 9 in Zusammenarbeit mit u. a. Wolf Vostell, Dick Higgins, Robert Filliou, Franz Mon, Josef Beuys, Hundertwasser, Stanley Brown.
Buch · Erschienen: 1976 · Autor: Brock, Bazon · Herausgeber: Fohrbeck, Karla