Magazin Der SPIEGEL 45/1999

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Der SPIEGEL, 45/1999

Erschienen
08.11.1999

Verlag
Axel Springer

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
45/1999

Auslöschen

Ihre Funktion des ostentativen Auslöschens, die Gestik des Überschreibens und der Anonymisierung, macht die Graffiti zu Menetekeln, zu drohenden, unverständlichen Schriftzeichen, die an der Wand erscheinen, ohne daß man wissen könnte, wer sie denn schrieb.

Menetekel finden sich auch in anderen Bereichen unserer Gesellschaft. Damit meine ich nicht die im Fernsehen vorgeführten Baumstümpfe auf Berghöhen in Thüringen. Man braucht keine Fachwissenschaftler, um diese Bilder als Menetekel zu lesen; aus der Konfrontation mit ihnen folgt aber wenig. Anders etwa die geradezu klassisch in Bilderwitzen immer wieder auftretende Bemalung von Gefängniszellen, in denen die Insassen Strichlisten führen über die Tage, die sie in dem Gefängnis zugebracht haben. Dies ist eine Form von Menetekel, die auf unser Alltagsleben übertragbar ist. Solche Strichlisten legen etwa Büroangestellte an, die die Zahl der Tage bis zum Ferienbeginn markieren, also die Zeit, die vergehen muß, bis man in der Urlaubssonne den Alltag auslöschen, ihm entfliehen kann. Eine Auslöschung, die in die Selbstzerstörung in der bratenden Sonne oder beim Dauerbesäufnis mit Risiko der vollkommenen Vergiftung mündet. (Ich habe einmal mit zwei Polizeipsychologen auf einer Ferieninsel gesprochen: Sie waren fest davon überzeugt, daß das Gros der Klientel die Absicht hat, sich dort selbst zu zerstören. Das gilt natürlich für viele andere zivile Bereiche auch – für unsere Rauch- und Trinkgewohnheiten, unsere Lebensgewohnheiten allgemein. Auch die Gestaltung unseres Alltagslebens läßt sich als Menetekel sehen.)

Mein eindringlichstes Erlebnis der Konfrontation mit einem Menetekel war, als ich mit einem Freund in Frankfurt in einem großen Kino saß. Wir sahen uns in aller Genußoffenheit das Leben und Treiben Neros auf Breitwand an. Als Nero in Gestalt von Peter Ustinov gerade graffitös, das heißt zeichensetzend, die große Damnatio, die Auslöschneutralisierungsanonymisierungstat, Rom in Brand zu stecken, mit der Lyra in der Hand vor der Kamera deklamierte, ging plötzlich das Bild weg, der Ton lief weiter, und wir sahen auf dieser Riesenleinwand ein Dia, ein Schriftoder Graffiti-Insert: "Herr (hier folgte der Name meines Freundes), bitte sofort nach Hause kommen, der Vater Ihrer Frau ist tot". Dann verschwand der Insert und Nero fuhr fort in der Ausgestaltung des damals modernen Roms zu der unvergeßlichen Geste einer Damnatio.