Magazin Der SPIEGEL 45/1999

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Der SPIEGEL, 45/1999

Erschienen
08.11.1999

Verlag
Axel Springer

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
45/1999

Urheberloser Mythos

Äußerungen der Subkultur werden gewöhnlich so verstanden, als stünden sie in Kontrast zu dem, was in den verschiedenen nicht subkulturell diskriminierten Bereichen unserer Gesellschaft geschieht; das ist falsch. Es gibt eine merkwürdige Übereinstimmung der subkulturellen Selbstentäußerungen in Gestalt der Graffiti an Straßenbahnen, Häuserwänden etc. und den Äußerungen in anderen Bereichen, die wir generell als hochkulturell beschreiben und denen wir daher auch eine andere Bedeutung zugestehen als den subkulturellen – insbesondere in den Wissenschaften.

Diese Übereinstimmung besteht darin, daß beide Arten von Äußerungen nicht mehr auf ihre Urheber verweisen. In der Kunstgeschichte bzw. Ästhetik wird der Mythos als ein urheberlos gewordener Aussagenzusammenhang definiert. Ich übertrage dies verkürzt auf die hochkulturelle Äußerungsform "Wissenschaft". Jede wissenschaftliche Aussage gewinnt ihre Dignität dadurch, daß der geschriebene Text seinen Urheber los wird. An die Stelle des individuellen Subjekts, das diesen oder jenen Satz geschrieben hat, tritt die Anonymität der Wahrheit. Der historische Autor wird von der mythologischen Gestalt der Wahrheit abgelöst.

Mythologisierung ist ein Urheberloswerden von Aussagenzusammenhängen, von denen jeder weiß, daß sie irgendwann von konkreten Individuen geschrieben, gemalt oder gezeichnet wurden – denn anders können diese Dinge nicht in die Welt kommen, als daß sie irgendwann irgendwer zu irgendwelchen Zwecken gemacht hat.

In unserer Tradition der Zuschreibungspraktiken – besonders der Rechtswissenschaft, etwa im Sinne der Verantwortlichkeit – sind wir freilich so fixiert auf die Urheber, daß wir es uns gar nicht anders vorstellen können, als daß jemand durch Schreiben, Zeichnen und Malen seine Individualität zum Ausdruck bringen will. Es gibt dazu weitreichende Theorien über die fortschreitende Individualisierung von Äußerungen, die meiner Ansicht nach gerade deshalb nicht zutreffen, weil sie jenes Gegenmotiv, das Anonymwerden, nicht mehr zu würdigen wissen. Unter anderem ist es in diesen Theorien nicht mehr möglich, etwa in der Wissenschaft, die Autorität der Wahrheit anzuerkennen. Man glaubt, es handele sich um eine Zurücknahme der Verantwortlichkeit der konkreten aussagenerhebenden Individuen, wenn wir uns auf Wahrheit berufen – eine bemerkenswerte Verschiebung des Wahrheitsbegriffs.

Man kann die Moderne anhand ihres Hauptcharakteristikums, der empirischen Wissenschaft, kennzeichnen als eine generelle Form der Mythologisierung. Moderne ist nichts anderes als Mythosbildung in Gestalt der Wissenschaften, sie ist das Urheberloswerden von konkreten historischen Aussagen. In diese Moderne fügt sich die Zeichensprache der Graffiti als ebenfalls anonyme nahtlos ein.

Wir müssen uns daher mit Blick auf die Graffiti eine ganz andere Perspektive angewöhnen, wenn wir die Moderne als Ergebnis der Aufklärung gegen Mythologisierung sehen. Dies ist übrigens auch der Grund, warum in einem "Dritten Reich" auf höchstem rationalen technischen Standard und mit höchster Entfaltung wissenschaftlicher Anwendungslogiken (etwa im Bereich Ingenieurswissenschaften) der Mythos blühen konnte. Es handelt sich dabei nicht um Verirrungen oder Nebenwege der Geschichte in der Moderne, vielmehr sind dies die entscheidenden Formen, in denen sie in Erscheinung tritt.