Magazin art, das Kunstmagazin

12/1986

art, das Kunstmagazin. 12/1986
art, das Kunstmagazin. 12/1986

Erschienen
01.12.1986

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Gruner + Jahr AG & Co KG

Verlag
Gruner + Jahr AG & Co KG

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
12/1986

Seite 114 im Original

Wenn der Schrecken zur Schönheit wird. Ein Verteidigungsrede von Bazon Brock auf den Klassizismus

BAZON BROCK: Die Forderung nach Schönheit ist revolutionär.

„Nicht erst die Nazis, sondern die Künstler selbst haben den Kampf der Schönheit gegen die Entartung geführt – weit früher und in aller Radikalität. Es war der Kampf der absoluten Kunst gegen situationsadäquaten Realismus.“

Schon wieder ein Jahr vergeudet? Hat die vorherrschende Diskussion des Jahres 1986 um die Revision der Kunstgeschichte dieses Jahrhunderts uns erneut nur in die seit Jahrzehnten etablierten Konfrontationen zurückgepreßt? Hie vermeintlich einsichtige Trauer über Politperversionen der Kunst, dort scheinbar unbeugsames Beharren auf der Hoffnung, daß das Vergessen historischer Erfahrungen doch noch zur nachträglichen Umwertung des Gewesenen führen wird.
Zwischen der Ankündigung der Amerikaner zu Beginn des Jahres, einen Großteil der requirierten Nazikunststückchen zurückgeben zu wollen, und der im Herbst vorgetragenen Propagandaoffensive des Kulturmagnaten Peter Ludwig schien sich die entscheidende Diskussion auf den Disput zwischen den Historikern Ernst Nolte und Andreas Hillgruber einerseits und dem Kulturphilosophen Jürgen Habermas andererseits zu verlagern. Zum Inbegriff der Thematik des Jahres 1986 wurde aber die Brekersche Zwillingsbüste des Ehepaares Ludwig.
So heftig und, dankenswerterweise, auch unverblümt die Auseinandersetzungen geführt wurden, neue Einsichten brachten sie kaum. So mancher Repräsentant der bundesdeutschen Wirtschaft und Gesellschaft ließ sich von Nazikünstlern nach 1945 porträtieren, der Sozialphilosoph Max Horkheimer inbegriffen, der sich 1965 nicht davon abhalten ließ, seine Büste zum 70. Geburtstag ausgerechnet vom "Angriff"-Künstler Knud Knudsen modellieren zu lassen. Auch das Argument Ludwigs, man dürfe die Nazikünstler nicht aus öffentlichen Museen "verbannen", weil man sich sonst jener Diskriminierung schuldig mache, die von den Nazis gegen ihnen unliebsame Künstler durchgesetzt wurde, war in der Nachkriegszeit nur allzu beliebt. Gerade die Fadenscheinigkeit dieses Arguments (und aller anderen) zwingt ja die an der Diskussion beteiligten Ludwigs aus Kunst, Wirtschaft, Militärwesen und Politik zu ihren Aberwitzigkeiten.
Nichts Neues also? Doch! Im Münchner Kunstverein realisierte Gerhard Merz seine neue Arbeit "Dove sta memoria", und mit diesem Werk werden Positionen bezogen, aus denen man unsere Kunst- und Politikgeschichte mit tatsächlich anderen Argumenten zu werten vermag.
Zdenek Felix, der neue Leiter des Kunstvereins, hatte vor Monaten die Ausstellungsräume am Hofgarten in ihre ursprüngliche Gestalt zurückbauen lassen. Gerhard Merz formuliert nun die dreiteilige Saalflucht durch hochmeisterliche Pigmentierung der Wände in den Farben Türkis und Caput mortuum als erstrangiges Zeugnis jenes Klassizismus, den wir bis heute nicht verstanden haben; ebenso wenig wie ihn Arno Breker oder Albert Speer oder gar Adolf Hitler je begriffen. Und diese Unfähigkeit hatte und hat Folgen. Für die Nazizeit produzierte die klassizistische Attitüde jenes unsägliche Gemisch aus Kitsch, Kraft und Propaganda für den Tod; heute demonstriert die Postmoderne mit ihren klassizistischen Lehrbuchanleihen, wie sehr wir immer noch im Verständnis des Klassizismus überfordert werden.
Merz plaziert in seinen Tempel der historischen Erinnerung kühl kalkulierend sieben bildnerische Einheiten:
• eine Weihestele staatlicher Machtentfaltung mit olympischer Feuerschale, Requisit aller Todesfeiern im Dritten Reich;
• einen übermalten Siebdruck jener "entarteten" Skulptur von Otto Freundlich, die 1937 als Umschlagfoto des Katalogs zur Ausstellung "Entartete Kunst" herhalten mußte;
• einen übermalten Siebdruck eines um 1500 entstandenen überlebensgroßen Heiligen Sebastian von Giovanni Battista Cima;
• einen übermalten Siebdruck eines Fotos von Gebeinen in römischen Katakomben;
• eine massiv gerahmte, monochrom ocker pigmentierte Leinwand in den Anmutungsproportionen eines antiken Sarkophags;
• acht hochformatige, ebenso massiv gerahmte, monochrom türkis pigmentierte Leinwände in den Anmutungsproportionen antiker Tafeln, in die Imperatoren die Geschichte ihrer Heldentaten einschrieben;
• eine Inschrift in antiken Versalien: Dove sta memoria" (wo noch ist Erinnerung). Sie stammt aus einem der "Pisaner Gesänge" des amerikanischen Lyrikers Ezra Pound.
Pound saß, als er sie schrieb, in einem Gefangenenkäfig auf dem Flugplatz von Pisa. Die Be- und Verurteilung seiner Parteinahme für den Faschismus in Italien durch ein amerikanisches Gericht führte zu seiner Einweisung in eine Irrenanstalt. Man gewährte ihm die Freiheit eines Künstlers um den Preis, ein Narr zu sein wie jene Künstler, denen auch Adolf Hitler 1937 mitfühlend offerierte, sich doch lieber als bedauernswerte Geisteskranke denn als anmaßende Nichtskönner qualifizieren zu lassen.
Merz stellt sich und den Betrachter seines Werkes in den Käfig der Erinnerungslosigkeit und des erzwungenen Vergessens. Die klassizistische Fassade signalisiert die Ausblendung von Geschichte durch die Schönheit des Absoluten. Das eben ist unser Mißverständnis des Klassizismus. So gut wie die Brekers und Speers glaubten wir, der Geschichte durch die Fiktion des Absoluten, Wahren und Schönen entkommen zu können: Aus den finsteren Katakombenöffnungen wurde ein schönes schwarzes Quadrat; so verkannten wir Malewitsch. Aus der penetranten Hinfälligkeit des Menschen wurde die Leugnung seiner konkreten historischen Existenz; aus den Epen der menschlichen Machtgier machten wir leere Tafeln und drückten uns so vor dem Anspruch absoluter Malerei. Ein Mißverständnis, wie gesagt.
Der Raum im Münchner Kunstverein ist überwältigend - wieso? Weil hier ein erstrangiger Künstler unsere Geschichte rekonstruiert, wie es sie 1933 und in den folgenden Jahren leider nicht gegeben hat. Zumindest in den bildenden Künsten gab es sie nicht. Die besten Künstler waren vertrieben, hatten Berufsverbot oder gingen im KZ zugrunde wie Otto Freundlich. Aber hätte es viel bedeutet, wenn es auch in der bildenden Kunst und in der Architektur Kaliber wie Gustaf Gründgens im Theaterbereich, Wilhelm Furtwängler in der Musik oder Gottfried Benn in der Literatur gegeben hätte? Das eben will Merz herausfinden, indem er uns den Zugang zu künstlerischen Konzepten eröffnet, die mit ihrer scheinbaren Vereinnahmung durch die Nazis bis heute der Diskussion entzogen sind.
Die Dispute um den historischen Stellenwert der nationalsozialistischen Ära, in die wir in diesem Jahr verstrickt waren und im nächsten Jahr, der 50. Wiederkehr der Kampagne "Entartete Kunst", weiter verstrickt sein werden, umgehen die zwingende Einsicht, daß nicht erst die Nazis, sondern weit früher die Künstler selbst in aller Radikalität den Kampf der Schönheit gegen die Entartung, den Kampf der absoluten Kunst gegen situationsadäquaten Realismus geführt haben. Was an den Nazis dran war, kommt uns zu Bewußtsein, wenn wir erkennen, daß sie überhaupt keine eigenständige Position bezogen haben; sie erhoben nur deutsche Kunstdogmatiken in den Rang gesellschaftspolitischer Handlungsanleitungen.
Unsere Dispute werden sich erst lohnen, wenn wir zu erkennen vermögen, daß die von den Nazis wortwörtlich genommene Kunstdogmatik von Wassily Kandinsky und Franz Marc, von Emil Nolde und Ludwig Mies van der Rohe, von Arnold Schönberg und Rudolf Steiner getragen wurde.
Gerhard Merz rekonstruiert die tragische Dimension dieser Tatsache, wobei ihn weniger interessiert, warum viele dieser Dogmatiker der absoluten Kunst es kaum fassen konnten, daß ausgerechnet sie von den Nazis abgewiesen wurden, zumal ihre italienischen Kollegen dem dortigen Faschismus uneingeschränkt willkommen waren. Merz setzt historisch tiefer an, im kaiserlichen Rom der Christenverfolgung, auf das Cima mit seinem Gemälde des Heiligen Sebastian so ausdrücklich hinweist.
Und da sind wir beim Kern des Problems. Schon der Maler und Künstlerbiograf Giorgio Vasari merkt Mitte des 16. Jahrhunderts an, daß der so betörend schöne und als Akt gemalte Jüngling Sebastian die Kirchenbesucher in sehr ambivalente Gefühle versetzt haben dürfte. Einerseits sollte ihnen das Gemälde im sakralen Kontext das Leiden des Märtyrers in der Nachfolge Christi nahebringen; andererseits verführte sie die malerische und ästhetische Qualität des Bildes dazu, das Leiden des Märtyrers zu verdrängen und seine Darstellung zu genießen. Das schreckliche, das todbringende Leiden, das kreatürliche Elend wurde in der künstlerischen Bewältigung zu etwas Schönem, Großartigem.
Die Ambivalenz von Schönheit und Schrecken, von Zerstörung und Schöpfung, von Wort und Tat zum Thema zu erheben - das eben ist das Programm des Klassizismus von seinen Ursprüngen her; er wollte gerade verbindliche und nicht leere Abstraktionen als zeitenüberdauernde Schönheit gegen die jeweils konkreten historischen Befindlichkeiten der Menschen setzen. Folgerichtig waren auch die oben genannten Verfechter der absoluten Kunst mehr oder weniger radikale Sozialutopisten. Die Kampagne gegen die gegenstandslose, abstrakte oder absolute Kunst hatte zum Ziel, diesen sozialrevolutionären Impact des Klassizismus zu zerstören. Gerade der mit den Mitteln der abstrakten Kunst in unserem Jahrhundert formulierte klassizistische Anspruch, daß die Forderung nach Schönheit einen sozialrevolutionären Anspruch repräsentiert, setzte diese Kunst wütender Verfolgung aus.
Zu dieser Einsicht führt die Erinnerung also den Künstler Gerhard Merz und die Konsequenzen für die aktuelle Debatte? Gebt es auf, den Zugriff der Nazis auf einen falsch verstandenen Klassizismus weiterhin als Vorwand dafür zu benutzen, das Verlangen nach Schönheit und Dauer als reaktionäre Ausblendung sozialer Probleme, ja der historischen Konkretheit schlechthin zu stigmatisieren. Verbindlichkeit ist gefordert, und die Schönheit ist die einzige Verbindlichkeit der bildenden Kunst, so sagt Merz, in der die Pflichten des Tages und die Konfrontation mit den Konkretheiten der menschlichen Existenz bewältigt werden können.