Magazin Religion heute, 2/1989

brockimport 0707-orig.jpg, Bild: brockimport ID_Object 707.
brockimport 0707-orig.jpg, Bild: brockimport ID_Object 707.

Erschienen
01.06.1989

Verlag
Athenäum-Verlag

Issue
2/1989

Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit. Bauplan einer neuen Gesellschaft oder Utopie?

Religion heute: 1989 ist das Ereignis der Französischen Revolution von der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 an gerechnet, 200 Jahre alt. In dem damaligen historischen Zusammenhang hat sich als revolutionäres Programm die Formel "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ausgebildet. Ich glaube, es gibt keine freiheitlich demokratische Verfassung, in die das Programm so oder ähnlich nicht Eingang gefunden hätte. Die Einheit der drei Begriffe ist allerdings in der politischen Praxis bald auseinandergebrochen.
Der Liberalismus ist an der Freiheit, und nur an ihr, interessiert.
Der Sozialismus hat sich der Gleichheit und der Solidarität verschrieben.
Mit der Brüderlichkeit dagegen konnte wohl keine politische Ideologie so recht etwas anfangen. Sie verschwand hinter Anspruchdenken, Wirtschaftsinteressen, politischem Kalkül.
War der Mensch mit dem Programm "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" überfordert?
Wie beurteilen Sie, Herr Professor Brock, die historische Entwicklung des revolutionären Programms?
Können sich Menschen überhaupt im Sinne dieses Pathos verhalten?

Bazon Brock: Die historische Lehre, die die Französische Revolution erteilt hat, besteht darin, daß man mit revolutionären Programmatiken - auch mit der von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit - nicht wie mit Handlungsanleitungen umgehen kann. Die Programmatiken sind keine auf dem Tisch konstruierten Baupläne einer gesellschaftlichen Praxis. Die Phase des Terreur zwischen 1792 und 1794 zeigte nämlich, wohin es führen muß, wenn man revolutionäre Programmatiken - Jesus Christus war in diesem Sinne ja auch ein Revolutionär - wortwörtlich nimmt, d.h., wenn man sie in einer Art von Begriffradikalismus mißversteht. Die Phase des Terreurs ist ja nicht durch die Bösartigkeit, den Machthunger von einzelnen entstanden, die als soziale Revolutionäre und bürgerliche Freiheitsrevolutionäre zu viel Machtvollkommenheit erreicht hatten oder übergeschnappt sind, sondern die Phase des Terreurs war die logische Konsequenz der Anwendung der revolutionären Programmatiken. Das Elend auf der Welt ist sehr häufig in historischen Epochen viel stärker durch den naiven Idealismus entstanden, Radikalprogramme durchzusetzen, als durch die sozusagen natürliche Bösartigkeit des Menschen und des Zusammenlebens der Menschen als Sozietät der Naturwesen.
Die Lehre der Französischen Revolution heißt also, Ihr werdet niemals, durch Aufstellung noch so vollkommener Konstruktionen einer Gesellschaft, den gegebenen Zustand ändern, sondern ihn möglicherweise sogar noch verschlechtern. Ihr müßt die Programmatiken als Utopien gelten lassen. Die revolutionäre Veränderung entsteht nicht aus der Erreichung eines neuen Planes und der Etablierung eines neuen Gesellschaftsbaus, sondern aus der Kritik an dem hier gegebenen. Und diese Kritik muß aus der Utopie begründet werden. Die Utopie ist das einzige Potential, aus dem heraus sich Kritik tatsächlich begründen läßt.
Jeder Anspruch auf Legitimierung durch die behauptete Verwirklichung von Wahrheitsanspruch, Freiheitsanspruch, Gleichheitsanspruch läuft ins Leere, wenn man utopisch denkt, d.h., wenn man davon ausgeht, was die Französische Revolution zeigt, daß sich niemand aus dem Haben, dem Erreichthaben dieser verwirklichten Vorstellungen, legitimieren kann, sondern sich nur dadurch legitimieren kann, daß er seine Handlungen, seine Vorgehensweisen einem höheren Maß der Kritik aussetzt als andere. Die Freiheit entsteht nicht durch die Verwirklichung eines bestimmten Programms der Freiheit, sondern die Freiheit entsteht durch das erhöhte Maß der Kritik an gegebenen Verhältnissen. Das gleiche gilt für die Gleichheit und die Brüderlichkeit.
Für uns ist deshalb die Französische Revolution in einem viel höheren Maße bedeutend geworden, als sie es je war. Sie stellt nämlich die Frage, welchen Stellenwert wir den von Sozialwissenschaftlern, von Theologen, von Sozialphilosophen, von Geschichtsphilosophen, von Wirtschaftswissenschaftlern etc. entwickelten Konstruktionen von Gesellschaften beimessen können. Auf keinen Fall können wir diesen Konstruktionen als Handlungsanleitungen folgen. Sie sollen also auch deswegen nicht darauf ausgerichtet sein, uns zu sagen, was wir zu tun hätten, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Denn das wäre der sicherste Weg, um von dem Ziel noch weiter abzukommen, sondern sie sollen uns fähiger machen, das jeweils Gegebene immer weitergehend unter diesem utopischen Anspruch zu kritisieren.

Religion heute: Eine klassische Revolution ist eine Revolution und damit basta. So etwas findet heute überall auf der Welt statt. Wirklich verändern tut sich allerdings nach lärmend und aufwendig vollzogenen Umstürzen herzlich wenig. Gewollt sein müßte doch eigentlich eine Art permanenter Revolution, eine Art Unterwegssein als Dauerstrapaze. Kann es so etwas geben? Organisationsformen, die nur in der dauernden Verwandlung existieren können? Herbert Marcuse meinte, das Bestehende sei immer schon als Ganzes schlecht.

Bazon Brock: Revolutionen sind nur eine Art von punktartigem Zusammenziehen aller Energien, die sowieso ununterbrochen an einem permanenten Wandel, sowohl in der Natur wie in der Gesellschaft, beteiligt sind, und diese punktartigen Ausbrüche zeigen nur, mit welchen Energien man es zu tun hat. Sie bewirken aber selbst nichts. Sie haben noch nie in der Geschichte irgend etwas tatsächlich bewirkt, außer daß sie Gegenrevolutionen hervorgerufen haben. Dieses punktuelle Ausbrechen solcher Energien erzeugt Furcht. Und Menschen, die sich fürchten, kann man dann sehr leicht für Gegenvorstellungen gewinnen, vor allem unter dem Schlagwort, "Ruhe und Ordnung" wiederherzustellen.
Es ist gar keine Frage, daß wir permanentem Wandel unterliegen. Wir haben gar keine Freiheit, uns auf Dauer zu stellen, außer in bestimmten Auffassungen von dem, was Kultur heißt. Das würde gerade im Hinblick auf die deutschen Entwicklungen Erhebliches bedeuten. Es gibt nämlich eine Möglichkeit, Kultur als die Gegenwelt der ständigen, natürlichen, sozialen Verwandlung aufzufassen, dann hieße Kultur die kontrafaktische Behauptung und Durchsetzung von Dauer. Alle deutschen Kulturprogrammatiken, die jetzt wieder blühen, sagen wir, die von Rembrandt als Erzieher bis zur Renaissance dieser Gedanken in den Werken von Syberberg und Botho Strauß, sehen sich ja gerade dadurch als bedeutend an, daß sie den tatsächlich gegebenen Verhältnissen, natürlichen wie gesellschaftlichen, widersprechen. D.h. je kurioser, je unsinniger, je weniger mit den Tatsachen vereinbar eine Behauptung ist, desto bedeutender ist sie. Die größte, von allen tatsächlichen Gegebenheiten abweichende Behauptung ist, daß man etwas auf Dauer stellen kann: Tausendjährige Reiche, Eindeutigkeit der Begriffe, Festhalten von Inhalten in Konstantheit und Formen und umgekehrt. Nichtsdestoweniger sympathisiert man mit solch einem Kulturverständnis gerade, weil ja uns Menschen eigentlich gar nichts übrig bleibt, wenn von uns selbst etwas übrig bleiben soll, als eine gegennatürliche Behauptung, die ja vielleicht am rigidesten in den Heilslehren der unterschiedlichen Weltreligionen ausgeprägt worden ist. Nur wird dort eben die behauptete Dauer etwa auf das Reich Gottes ausgerichtet. Faktisch ist das vielleicht des Menschen einzige Größe, die er sich selbst verdankt. Alle andere menschliche Größe resultiert nur aus der Einsicht in das, was per Naturgesetz oder eben aus sozialen Notwendigkeiten und Gegebenheiten heraus geschieht, und das ist der permanente Wandel. D.h., diese Art von menschlicher Größe bestünde im Anzielen bestimmter höchster Wertvorstellungen, von denen wir dann den natürlichen Lauf kritisieren können. Aber ohne zu behaupten, daß wir ihn auf Dauer stellen können, ohne ihn tatsächlich je zu erreichen, erreichen zu können.
Für den Einzelnen wie für die Kollektive, für die Natur wie für den gesamten Kosmos ist ohnehin faktisch nichts anderes gegeben als der permanente Wandel. Nur in der Perspektive des individuellen Lebens, des relativ kurzen menschlichen Lebens sieht es häufig anders aus. Mal abgesehen davon, daß wir es gern anders möchten, alle Überlegungen zu diesem Problem enden in irgendwelchen Antinomien, d.h., in gleich gut begründeten, aber völlig gegensätzlichen Behauptungen. Es ist natürlich so, daß man sagen kann, nur der, dem es gerade gut geht, möchte, daß dieser Zustand auf Dauer gestellt wird. Wem es gerade schlecht geht, der möchte, daß sich alles ändert. Daraus könnte man natürlich folgern, also tut etwas dazu, daß es allen gut geht, damit alle mögen, daß es so bleibt, wie es jetzt gerade ist. Das war ein Impuls für viele konservative Revolutionäre, zu sagen, wenn die Leute ihr Häuschen und wenn sie ihr Auskommen haben, dann werden sie dafür sorgen, daß dieser Zustand auf Dauer gestellt wird und werden sich gegen jede andere Art von Verwandlung und Veränderung wehren. Und wer, sozusagen umgekehrt, der permanenten Verwandlung einen Sinn abgewinnen kann, vor allem, weil es ihm schlecht geht, weil er Schmerzen hat, oder weil er sich in einem Zustand befindet, der unbedingt veränderungswürdig ist, der wird sich natürlich auch sagen müssen, daß das ja nicht ewig so weitergehen kann, weil er beispielsweise seine Schmerzen loswerden, seinen miesen Zustand überwinden will, und wenn er dann überwunden ist, dann soll er aber doch tatsächlich wieder auf Dauer gestellt werden.

Religion heute: Von Zeit zu Zeit wird der Ruf nach einem Heilsbringer, nach einem starken Mann, nach einer ordnenden Hand laut. Personen, die der Regierung vorstehen, wird gern Führungsschwäche vorgeworfen. Wie beurteilen Sie diesen Messiaskomplex? Hat starke Führung etwas mit Effizienz zu tun?

Bazon Brock: Daß der Führer gleichzeitig der Heilsbringer ist, steht wohl hinter dieser Forderung, nur haben Führer und Heilsbringer eigentlich miteinander gar nichts zu tun. Sie sind zwei generell unterschiedliche Kulturtypen, wir können auch sagen: unterschiedliche Kulturheroen. Der Führer ist ja nichts anderes als eine Projektionsfigur, auf die hin die verschiedensten Energien gebündelt werden können, die einzelne in sich verspüren oder für wünschenswert halten, wenn sie sich aufs Ganze auswirken sollen. Der Führer ist also sozusagen eine Art von Fokussierung dieser Projektionsenergien auf einen Punkt. Das ist eine Art von Zusammenfassung, eine Zielausrichtung dieser Energien, und seine eigentliche Bedeutung besteht ja darin, daß er die vielen heterogenen Kräfte vereinigt, wenigstens partiell auf bestimmte Zeiten und auf bestimmte Aufgaben oder auf bestimmte Vorstellungen hin.
Während der Heilsbringer eigentlich einer ist, der nicht selber etwas tut, sondern der von etwas spricht, für das er nicht unmittelbar selbst das Beispiel ist. Die meisten Heilsbringer waren ja doch ziemlich normale Menschen, auch wenn sie noch so idealisiert worden sind, und wenn die Menschen sich dagegen auch wehren, daß Heilsbringer vielleicht entmystifiziert werden und nicht mehr Gegenstand einer allgemeinen idealisierenden Verehrung sind, Heilsbringer, etwa vom Typ eines Propheten oder auch eines Messias oder eines Kulturheroen, der den Menschen die Möglichkeit bietet, neue Vorstellungen zu entwickeln, andere Beurteilungen des für sie Gegebenen zu entfalten, andere Sinnfragen zu stellen. Der Heilsbringer ist jemand, der verkündet, aber nicht im Sinne eines Durchsetzungsanspruchs, sondern als jemand, der Möglichkeiten eröffnet. Sehr häufig haben sich Führerpersönlichkeiten natürlich auf Heilsbringer bezogen. Vielleicht das bekannteste Beispiel ist, daß Mohammeds Forderungen auf Missionierung der Welt auch mit Feuer und Schwert so verstanden wurden, als müßten jetzt Heere losziehen, um die Ungläubigen zu unterwerfen, wobei halt schon auffallen muß, daß das ja sinnlos ist, denn wie soll ich Tote, die ich mit Feuer und Schwert tatsächlich vom Leben zum Tode befördert habe, noch missionieren? Sehr viel wichtiger ist, daß die Heilsbringer fast durchweg gegen die jeweiligen Führungsstrukturen, gegen die jeweiligen Machtinhaber oder Machtwollenden angetreten sind, und zwar nicht, weil sie sich selber an deren Stelle setzen wollten, sondern weil sie prinzipiell andere Vorstellungen über das Zusammenleben der Menschen unter die Menschen brachten.
Der Führer sieht sich sehr häufig gezwungen, sich mit Hinweis auf einen Heilsbringer zu legitimieren. Aber geglaubt hat das eigentlich in der gesamten, sagen wir 2000jährigen europäischen Geschichte, kein Mensch. Jeder hat durchschaut, daß das nur eine unstatthafte Inanspruchnahme der Heilsbringer und ihres Potentials durch die Führer gewesen ist.
In gewisser Weise kann man sagen, daß sich herausgestellt hat, daß Führung, starke Führung, am wenigsten effizient ist. Zur Überwindung von Diktaturen, und totalitären Regimen führt ja, daß sie eben nicht effizient gewesen sind. Aus Studien zum Dritten Reich weiß man heute hinreichend, daß da von Effizienz oder Führung überhaupt keine Rede gewesen sein kann, und aus Studien zu bestimmten Wirtschaftsunternehmen, bei denen es offenbar um Führungsprinzipien in einem solchen Ausschließlichkeitscharakter geht, hat man festgestellt, daß solche Unternehmen den schnellsten Weg zu ihrem eigenen Bankrott einschlagen. Vernünftige Unternehmer werden deswegen heute auch nicht mehr auf einer solchen Führungserwartung aufbauen, sondern sie werden andere Formen des Führens entwickeln als es derjenige offenbar haben soll, nach dem man als starken Mann ruft. Und daraus ergaben sich auch Schlußfolgerungen, die in der Praxis bedeutsam waren. Nicht eine abstrakte Demokratietheorie hat heute autokratische Führungspositionen in vielen Bereichen abgebaut sondern ihre mangelnde Effizienz. Und schlußendlich kann man sagen, daß Vorgänge, wie sie heute in der Sowjetunion sichtbar werden, mit Perestrojka und Glasnost, ja nichts anderes sind als das Eingeständnis der völligen Ineffizienz eines Führungsanspruchs, wie er da von starken Männern, von Stalin über Breschnjew entwickelt worden ist.

Religion heute: Die Selbstsicherheit mit der sich unsere Väter und Großväter bewegt haben, gibt es nicht mehr. Marx hat dafür gesorgt, daß die idealistischen Spekulationen abdanken mußten.
Freud reklamiert die Bedeutung des Unbewußten für alles menschliche Handeln.
Max Weber analysiert, was Rationalisierung in der Gesellschaft bedeutet: Entzauberung der Welt, Entstehung bürokratischer Herrschaft. Für unser Wissen bezahlen wir mit Isolation und Lebensangst. Haben wir auch etwas gewonnen?

Bazon Brock: Wenn Sie unter Berufung auf Marx sagen, die idealistischen Spekulationen haben abdanken müssen, dann ist das insofern völlig richtig, als daß Marx selbst ja gegenüber Sozialprogrammatiken und Gesellschaftskonstruktionen immer behauptet hat, "Du sollst Dir kein Bildnis machen, Du sollst Dir keine konkrete Utopie ausmalen, kein Schlaraffenland oder Ähnliches, um dann zu behaupten, das sei erreichbar, oder das sei einführbar, auf welchem Wege auch immer, mit welcher Art von Radikalität der Umsetzung auch immer." Anders verhält es sich schon mit der Behauptung, daß die Rationalität die Welt entzaubert habe und z.B. zur Entstehung von bürokratischen Herrschaftsformen geführt habe. Zwar hat Max Weber von einer solchen Entzauberung gesprochen, aber er meint gerade die Entzauberung der Gefühlswelt, so wie Freud sie auch vorgenommen hat. Freud zeigt ja nichts anderes, als daß wir in unserer Gefühlswelt nicht frei, sondern in extrem hohem Maße unfrei sind. Entzaubert wurde die Welt dadurch, daß man zeigte, die einzigen Formen der Überwindung unserer natürlichen und aller kulturell entstandenen Grenzen besteht in der Erhöhung unseres Anspruchs auf rationale Argumentation. Die Entzauberung der Welt hatte ihr Gutes, weil man sich nicht mehr darauf zurückziehen konnte, für den Zustand der Welt nur den Mangel an Gefühl, den Mangel an Innerlichkeit verantwortlich zu machen. Wir haben heute wahrscheinlich im Durchschnitt der Gesamtbefindlichkeiten der Individuen weniger Isolierte und weniger Lebensangst als je in einer gesellschaftlichen Entwicklung oder Epoche zuvor. Wir deuten nur die Formen unserer Lebensbewältigung immer noch nach den alten Mustern, die uns von unserer Gefühlswelt vorgegeben werden. Das Gefühl sagt mir z.B., wenn jemand so dasitzt, als wolle er nicht angesprochen werden, oder könne sich selber nicht äußern, daß er dann darunter leiden müsse. Eine vernünftige Überlegung zeigt, daß der Mann sich auch in extremer Konzentration befinden kann, oder daß er seine Fähigkeit, mit sich selbst umzugehen, so gesteigert hat, daß er keines permanenten Betreuungsprogramms aus der Außenwelt bedarf. Was heißt da eigentlich schon Isolation? Im übrigen hat heute jemand, der sich isoliert fühlt, immerhin die Möglichkeit, in anderen ein gewisses Maß an Verantwortungsbewußtsein anzusprechen, das es in dieser Form auch vorher nie gegeben hat, weder im Sozialen noch im Politischen. Und er wird auch auf diese Ansprache hin eine Reaktion erfahren. Das war gegen alle Behauptungen für lange Epochen unserer europäischen Entwicklung nicht der Fall. Die Lebensangst dürfte heute auf keinen Fall größer sein als etwa in vielen Wendezeiten der Geschichte. Die apokalyptischen Vorstellungen über das WeItende hat es, wenn nicht in extremerer Form, aber doch in den Formen, die wir heute kennen, immer gegeben. Sie haben mit den tatsächlichen, objektiven Entwicklungen gar nichts zu tun. Die Behauptung, daß die Ursachen für die heute gegebenen Isolationen und Lebensängste in der erhöhten Rationalität und den ihr zugehörigen Strukturen beruhen, sind hinfällig, weil wir ja zeigen können, daß etwa eine Bürokratie als Herrschaftsform in keiner Hinsicht rational ist, weder auf der Ebene wirtschaftlicher und verwaltungstechnischer Effektivität und Effizienz noch im Hinblick auf das, was durch sie möglicherweise verhindert wird. Denn Bürokratie hat ja immer auch ihren Sinn nicht nur darin, daß sie etwas bewirkt, sondern vor allen Dingen darin, daß sie etwas verhindert. Und das darf man nicht unterschätzen, was für eine Bedeutung diese bürokratische Barriere besitzt.
Was wir gewonnen haben, ist tasächlich die Einsicht, uns ausschließlich der Rationalität anvertrauen zu dürfen, ohne immer gleich behaupten zu können, daß sie irgendwo schon eingelöst sei. Was wir gewonnen haben, ist die Fähigkeit der Kritik an uns selber, auch der Möglichkeit, uns selbst zu kritisieren.

Religion heute: Die Mehrzahl der Christen in der BRD, die bereit sind, ohne viel Aufhebens von ihrem Glauben zu machen, Verantwortung ernst zu nehmen, sind Christen ohne Kirche. Sie verzichten auf die Rethorik der Verkündigung. Ihr Verzicht auf das Wort ist ein beredtes Zeugnis einer Gesellschaft, die alle Worte mißbraucht. Kirche kann sich heute nicht mehr so verstehen, als befände sie sich noch im Stande der Unschuld und als sei sie berufen, durch die Formen ihrer Verkündigung Naturheiligen Konkurrenz zu machen. Reproduzieren Kirchen und Theologien eigentlich heute das falsche Bewußtsein dieser Gesellschaft?

Bazon Brock: Reproduziert nun der Christ "ohne Kirche" das falsche Bewußtsein oder die Kirche "ohne Christen"? Das ist ja die Frage. Es kann einen Christen ohne Gemeinschaft nicht geben. Denn das, was einen Christen auszeichnet, ist ja seine besondere Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung, d.h. seine Form des sozialen Lebens. Es handelt sich ja um keine individuelle Erlösungsreligion, was der Einzelne zu tun und zu machen habe. Insofern kann ein Christ nur ein Christ sein, wenn er eine Kirche bildet. Kirche heißt ja nichts anderes als eine Gemeinschaft.
Daß die institutionellen Formen der Bildung solcher Gemeinschaften nicht mehr frei zur Verfügung stehen, sondern daß sie eben durch Vorgaben aus der Gesellschaft bestimmt sind, rechtlicher, wirtschaftlicher Art, das ist klar. Insofern kann man nicht einfach jemandem zurufen, nun bilde mal hier deine neue christliche Gemeinde oder irgend eine andere Art von zeitgemäßer Gemeinschaft. Nichtsdestoweniger ist das Wesen der Gemeinschaftlichkeit, der sozialen Bindungsfähigkeit immer nur durch gemeinsame Ausrichtung auf ein Drittes möglich. Das gilt auch für die Kleinstverbände, wie beispielsweise die Ehe. Zwei Menschen schließen sich zusammen, wobei ihre Gemeinsamkeit als sozial haltbare Bindung nicht durch ihre Liebe zueinander begründet ist, sondern durch die gemeinsame Ausrichtung auf ein Drittes, sei es eine gemeinsame dritte Aufgabe, eine gemeinsame dritte Sicht auf gewisse Probleme, eine gemeinsame Verpflichtung auf etwas.
Dieses Dritte, dieser Bezug auf das gemeinsame Dritte kann eigentlich ohne Ausbildung eines Rituals nicht vergegenständlicht werden, nicht sichtbar werden. Deswegen ist eigentlich für alle Formen der Bildung von Gemeinschaften, auch jenseits der Kirchen, ein Ritual notwendig. Im Grunde genommen ist also eine Kirche auch notwendig als Verlaufsform der Selbstversicherung in der Gemeinschaft. Dazu gehören natürlich auch gewisse Rhetoriken, dazu gehört ein Rahmen, der Möglichkeiten vorgibt, bestimmte Vorstellungen zu konkretisieren, der uns die Möglichkeit bietet, uns auf das gemeinsame Verständnis dieses Dritten auszurichten.
Allerdings kennen solche Rhetoriken auch Leerlauf. Das erlebt man aber nicht nur in den Kirchen, das erlebt man ja auch in anderen sozialen Verbänden. In Parteien laufen die Rhetoriken leer, in den Firmen und Unternehmen laufen die Rhetoriken leer, im Ost-West-Konflikt laufen die Rhetoriken leer. Wieso soll dieser Entwurf auf die Kirche beschränkt sein? Nichtsdestoweniger ist wahrscheinlich die Bindung, die soziale Bindung, die in der Form der Kirche möglich ist, doch die stärkste, und sei es auf dem Umweg, daß man Ersatzkirchen schafft. Heute gilt z.B. die Kunst als Kirche für Atheisten, und die Rituale und Rhetoriken, die innerhalb der Kunstpraxis ablaufen, Museumseröffnung, Besucherorganisationen, Ausstellungswesen etc., sind ja weitgehend dem nachgebaut, was die Kirchen im engeren Sinne vorgegeben haben. Im Dritten Reich, wurde durch die Goebbelssche Propaganda sogar ganz bewußt solchen Sozialbindungsformen der katholischen Kirche nachgearbeitet. Im Grunde genommen ist es egal, ob ich sage, das gemeinsame Dritte ist Gott, oder Jesus Christus, oder es ist die Erwartung einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft. Das macht keinen Unterschied im Hinblick auf die soziale Bindungsform Kirche. Nur macht es natürlich insofern einen Unterschied, als ich mit viel größerer Energie an das gemeinsame Dritte im Sinne Gott oder Jesus Christus glauben, d.h., mich ausrichten oder selbstvergewissern kann, als gegenüber dem Programm Kommunismus oder Sozialismus oder Steigerung der Rendite bzw. Anhebung des Umsatzes. Die Mechanismen sind die gleichen. Die haben die Kirchen tatsächlich perfekt entwickelt. Sie sind auch die historisch bedeutsamsten gewesen. Ihre Übernahme in andere Sozialverbände sind allerdings mit dem Manko behaftet, daß man die neuen Götter Geld, Erfolg, Gleichheit oder was auch immer, nicht in gleicher Weise tatsächlich als das verpflichtende Dritte vorgeben kann.
Es ist also nicht die Frage, ob Kirche oder nicht, institutionalisierte, soziale Größe oder nicht, sondern in welcher Art wird Kirche institutionalisiert? Diese beiden Aspekte darf man nicht verwechseln. Das heißt die Kritik der Christen an ihrer Kirche als Institution bedeutet nur Kritik an jeweiligen historischen Formen der Institutionalisierung.

Religion heute: In der Bundesrepublik sind Demokratie und Toleranz historisch weniger verwurzelt als beispielsweise in England, Frankreich, Italien. Der Verlust an Tradition und die Flucht in den Konsum ist nirgendwo in Westeuropa ausgeprägter als bei uns. Bei uns ist die Freiheit nicht durch die liberale Rechtsordnung, wohl aber durch den Mangel an erprobter Toleranz gefährdet. Systemveränderungswillige befinden sich bei uns in der Gefahr, stigmatisiert zu werden.
Gibt es so etwas wie eine spezielle politische Charakterologie des Deutschen und wie läßt sie sich erklären?

Bazon Brock: Es gibt in der Tat so etwas wie eine spezifische deutsche Charakterologie. Die Deutschen waren durch die geschichtliche Situation, in der sie sich befanden, in hohem Maße gezwungen, abstrakte Konstruktionen, wie z.B. gesellschaftliche Utopien, philosophische Weltmodelle, wortwörtlich zu nehmen. Heine hat schon gesagt, die Deutschen mußten in der Zeit, als die Engländer und die Franzosen längst auf Erden, zu Lande und zu Meer ihre Weltreiche schufen, aufgrund ihrer Situation sich mit dem Reich der Lüfte, der Spekulationen und Vorstellungen zufrieden geben. Wir waren also gezwungen, uns in einem hohen Maße auf unsere gedanklichen Konstrukte einzulassen als Äquivalente für das, was die anderen tatsächlich handfest auf Erden taten. Die Entwicklung von Musik, Technik, Philosophie, in Deutschland ist deswegen so rasant gewesen und - das kann man ohne Chauvinismus sagen – weiter entwickelt gewesen als sonstwo in der Welt, weil den Deutschen gar nichts anderes übrig blieb, als sich radikal auf philosophische Konzepte und gedankliche Konstruktionen einzulassen. Daraus ergab sich aber gleichzeitig die spezifische Gefährdung der Deutschen, nämlich besonders in die Irre zu gehen, in diesem Sinne besonders intolerant zu sein gegenüber jedem, der von diesen hypothetischen Konstrukten abwich und der seinen ganzen Idealismus nicht darauf verbrauchte, diese Konstrukte für die Wirklichkeit zu halten oder als genauso wirksame Kräfte in der Welt, wie Armeen, Rohstoffe und Organisationsformen, die die Engländer oder Franzosen für die politische Verwaltung entwickelt hatten. Der Mangel an Toleranz war also mehr oder weniger eine Art von Notwehr gegen diejenigen, die sich aus utopischer Distanz der Kritik gegen diese hypothetischen Konstrukte wendeten. Das waren vor allem jüdische Intellektuelle, auch schon vor Heine, und der Antisemitismus ist in Deutschland deswegen so besonders entwickelt worden, obwohl bestimmte andere Formen des Antisemitismus in Frankreich viel stärker waren. Aber derjenige Antisemitismus, der sozusagen auf den Intellektualismus, auf die Kritikasterei der Juden, auf den permanenten Einspruch reagierte, dieser Antisemitismus als gleichzeitige Intellektualfeindlichkeit ist entstanden, weil die Juden aufgrund eines bestimmten Stranges ihrer religiösen, theologischen Argumentation von vornherein nicht gewillt waren, das von Menschen Ausgedachte für eine Heilsmöglichkeit in der Welt zu halten und die deswegen auch in Deutschland halt nicht nur mit Häme und Spott, sondern tatsächlich mit Existenzverlust bedroht wurden, weil sie satirisch, kritisch, scharfzüngig gegen die Gedankenkonstrukte und ihren Anspruch auf Realität sprachen. Die Deutschen hatten keine andere Möglichkeit, das muß zugestanden werden. Deutschland war ein berühmter Flickenteppich aus kleinsten partikularischen Einheiten mit unglaublichen Konsequenzen. Deutschland hatte zumindest seit dem 30jährigen Krieg Formen der Auseinandersetzung zu bewältigen, die es daran gehindert hat, sich wieder auf die Austragung von Problemen unter irdischen Bedingungen einzulassen, die halt in England und Frankreich gegeben waren. Das sitzt uns ja heute noch in den Knochen, und Deutschland war deswegen auch auf eine andere Art der Ausgrenzung aller derjenigen ausgerichtet, die diesen Wirklichkeitsanspruch des bloß Ausgedachten und Konstruierten kritisch aufs Korn nahmen. Das Bedeutsame an der deutschen Situation ist eigentlich gar nicht das, was sich in der deutschen Geschichte ereignet hat, sondern das, was sich nun unter Druck weltweiter Entwicklung in der ganzen Welt vollziehen wird. Wir können eigentlich an dem sehen, was in Deutschland passiert ist, was in der ganzen Welt passiert. Vorsichtiges Stichwort heute: Israel und die Araber und die Auseinandersetzungen zwischen den Fundamentalisten in aller Welt mit den Pragmatikern. Dieser Widerspruch spitzt sich zu, so wie er sich in Deutschland auch zugespitzt hat, weil die Entwicklung der Technik immer weitergehend von den bloßen Ausgedachtheiten, von willkürlicher Konstruiertheit von Technik auf dem Papier beispielsweise, abhängig ist. Durch die weitergehende Technisierung wird die Bedeutung reiner Ausgedachtheiten, von gedanklichen Konstrukten immer größer und deswegen kommt der ganze Rest der Welt jetzt in dieselben Schwierigkeiten, wie sie die Deutschen, von Luthers Zeiten an, vornehmlich im 30jährigen Krieg und dann im 19. Jahrhhundert bis ungefähr noch in die 50er Jahre dieses Jahrhunderts gehabt haben. Da gibt es ja eine wirkliche Kontinuität. Der deutsche Sonderweg wird heute am besten in den Auseinandersetzungen deutlich, die die Fundamentalisten erzwingen. Ich meine jetzt nicht nur theologische Fundamentalisten, ich meine die technischen Fundamentalisten aut der Ebene der Atomkraft, auf der Ebene der SDI-Konstrukteure oder auf der Ebene der Vorstellungen einer Kunstwelt, die das Raumschiff Erde wirklich zu einem Raumschiff werden läßt. Dieser technische Fundamentalismus, dieser formalwissenschaftliche Intellektualismus, dieser formalistische Fundamentalismus der positiven Wissenschaften, das ist das eigentlich Gefährliche und darin waren die Deutschen nun wirklich führend im 19. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert hinein. In absehbarer Weise wird das Schicksal der Welt sich dem Sonderweg Deutschlands immer weiter annähern. Nun scheint die Entwicklung in China oder Sowjetrussland zu widersprechen. Denn mit Gorbatschow scheint sich ja eine antifundamentalistische Haltung breit zu machen. Das ist aber ein Irrtum. Was sich dort auf der politischen Ebene als Antifundamentalismus erweist, nämlich Abschwören von Marxschen Doktrinen, Dogmen etc., ist weit überholt durch den Versuch, den technischen Fundamentalismus an die Stelle setzen zu wollen. Sie wollen das Dogma von Lenin und Marx ersetzen durch das Dogma der positiven Wissenschaft und ihrer technischen Anwender, die nun sagen, so muß es gemacht werden, damit wir Sibirien entwickeln, und so muß es gemacht werden, damit die Ströme die Energien liefern, die wir wollen. Es wird viel schlimmer, weil ja bisher in Russland beispielsweise der pseudoreligiöse Politfundamentalismus die Ausbreitung des technisch-positivistischen Fundamentalismus verhindert hat. Bei uns grassiert das ja längst. Und heute kann man doch gegen die Dogmen der entfalteten Industriegesellschaft viel weniger antreten als je in historischen Zeiten gegen die Dogmen einer Kirche oder irgendeiner weltanschaulichen Gruppierung. Das macht die Sache so spannend und das wird auch meiner Ansicht nach die Hauptauseinandersetzungsformen in den nächsten Jahrzehnten bestimmen. Wenn dann nicht schon der Fundamentalismus mit seiner Erzwingungstrategie des Absoluten das Ende der Welt herbeigeführt hat.

Religion heute: Künstler haben sich häufig als Indikatoren für gesellschaftliche Veränderungsprozesse erwiesen, die Struktur ihrer Beziehung zur Gesellschaft ist vielfach vergleichbar mit der von Propheten, nämlich außerhalb von Kirche und Klerus. Kann man von der modernen Kunst behaupten, daß sie eine Diagnose der Zeit liefert und soziale Konstellationen bewußt macht, oder muß man nicht sagen, in der modernen Kunst gibt es keine Ordnung im verbindenden Sinn mehr, vielmehr nur subjektive Willkür?

Bazon Brock: Durch eine Reihe von Forschern ist belegt worden, daß die Entwicklung der sogenannten abstrakten Kunst das ganze Gegenteil von Entfaltung von Willkür gewesen ist oder Individualismus, das ganze
Gegenteil von Abschwörung gegenüber jeder Art von übergeordnetem Gesichtspunkt oder gar Programmatik. Was die russischen Konstruktivisten machten, was in Deutschland Kandinsky, Marc, der Blaue Reiter programmatisch entwickelten, oder der Musiker Schönberg, was in den Niederlanden De Stijl entwickelt hat, Mondrian beispielsweise, das war gerade als abstrakte Sprache nur um so bedeutsamer und um so direkter an politische und weltanschauliche Programmatiken gebunden. Man hatte es eingesehen, daß man die politischen und weltanschaulichen Programmatiken nicht mehr mit den Allegorien des 19. Jahrhunderts, also Vermenschlichungen der abstrakten Begriffe, (die Freiheit als Dame mit Fackel) darstellen kann, sondern daß dazu etwas Anderes gehört. Selbst eine theologische Programmatik war nicht mehr darstellbar in der Gestalt der herkömmlichen Ikonen. Nichtsdestoweniger schuf aber Malewitsch Ikonen. Das schwarze Quadrat ist eine Ikone, ist auch als solche gemeint. Die angeblich bloß individualistische Willkür der abstrakten Künstler, die mal hier, mal da was hinsetzen und dann die Formen noch einmal ein bißchen mit Chichi umkleiden, das ist die Vorstellung der Gegner gewesen. Warum? Weil natürlich die Gegner genau wußten, welche Macht hinter diesen Kunstformen steckt, gerade weil sie eben nicht individualistisch subjektiv waren, sondern weil sie auf Programmatiken verpflichtet waren, vornehmlich sozialrevolutionäre und theologisch begründete Programmatiken. Die Kampagne ‚Entartete Kunst‘ wäre ja nicht entstanden bis hin zur Vernichtung von Künstlern, wenn man angenommen hätte, daß das Schmierereien von Irren sind. Das hat selbst Hitler gesagt: "Also liebe Leute, wenn ihr nun leider unter einem Defekt der Wahrnehmung leidet oder sonstwie psychisch destabil seid, dann wollen wir euch alle Hilfe angedeihen lassen, die man in unseren psychiatrischen Kliniken für solche Fälle bereitstellt." Aber leider war das ja offenbar bei der Mehrzahl der Leute gar nicht der Fall, die waren gar nicht irre. Die waren mit ihrer Kunst in einem gefährlichen Maße auf Programmatiken des Sozialismus und auf Weltanschauungsprogramme eingeschworen, die die Nazis einfach nicht tolerieren konnten.
Der Widerspruch entstand also gegen diese abstrakte Kunst, weil sie in hohem Maße programmatisch gewesen ist. Sie ist in erster Linie sozialrevolutionär gewesen, in zweiter Linie theologisch und in dritter Linie philosophisch. Nun sind aber - gerade weil sie auf Programmatiken eingeschworen waren - die Künstler keine großen Analytiker ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Umfelder und des Zustandes ihrer Gesellschaft gewesen. Sie haben selten mehr gewußt als die Angehörigen anderer Handlungsbereiche. Die Frage, woher eigentlich Propheten wissen, was sie wissen, haben die Künstler ziemlich eindeutig beantwortet, soweit sie eben modern waren, nämlich durch Arbeit. Da ist ein Entwicklungszug, den sie mit anderen Bereichen teilen, aber der sie keineswegs fähig macht, den anderen voraus zu sein. Wenn man also durch Arbeiten seine Aussagen konstruiert, dann schränkt man sich auch im Geltungsanspruch sofort wieder ein. Man kann nur sagen, die Künstler haben sich auf ihre Person hin radikaler den Konsequenzen solcher Haltungen gestellt. Sie sind weniger rücksichtsvoll mit sich selbst umgegangen, aber ob das nun ein großer Vorteil gewesen ist, mag dahingestellt sein. Mir ist jedenfalls nicht recht einsehbar, warum jemand, der als halbverhungerter Künstler auf irgendeinem Dachboden dahinvegetiert, deswegen ein verehrungswürdiges Wesen ist, weil er Verzicht leistet auf die Einlösung bestimmter Rechte, die wir jedem Menschen zugestehen. Insofern sind die Künstler wohl schlechte Beispielgeber. Denn wir können einfach den Menschen nicht zumuten, sich solchen Risiken auszusetzen. In einem ganz andern Punkte sind aber Künstler für alle anderen Bereiche, vor allem gegenwärtig auch für die politischen, wirtschaftlichen, von großer Bedeutung gewesen. Dazu muß man allerdings Künstler in einem bestimmten Sinne definieren, nämlich daß ein Künstler jemand ist, der im Unterschied zu allen anderen Bereichen, seinen Aussageanspruch nicht durch Promotion, Approbation, durch Wahl, durch Repräsentanz von größeren Gruppen, durch Delegation begründet, sondern der seinen Aussageanspruch ausschließlich dadurch begründet, daß da einer etwas sagt. Das ist natürlich unglaublich, warum sollen wir Interesse an etwas haben, was einer sagt, der von vornherein erklärt, hinter mir steht nichts, keine Partei, keine Kirche, keine Bürgerschaft, kein Amt, keine Kollegen, keine Autorität. Wenn ich in der Wissenschaft einen Aussageanspruch erhebe, dann wird der insofern bedeutsam, als ich sagen kann, diese Aussage teile ich mit den Spitzen meines Faches. 30 Leute dieser Art haben dem zugestimmt. Oder für die Partei: diese Aussage mache ich, nachdem wir uns in einem Gremium auf diese Sprachregelung oder auf dieses Verständnis geeinigt haben. Oder, diese Operationstechniken wende ich an, da sie bestätigt wurden durch bestimmte experimentell abgesicherte Vorgehensweisen. Das würde ein Künstler dann nicht sagen, sondern er wird auch als Mediziner, als Politiker und Ökonom sagen, das, was ich hier vortrage, ist durch nichts legitimiert, aber vielleicht gerade deswegen von größerer Bedeutung. Denn wir sind ja alle Individuen und unser Weltverständnis, unsere Existenz sind ja auf uns ausgerichtet und nicht auf die anderen. Also kommt es schlußendlich nur darauf an, was ich als einzelner aus einer Sache machen kann. Was ich glauben kann, was ich wissen kann, und insofern ist es wieder entscheidend, was ich selbst auch behaupten kann.

Religion heute: Herr Professor Bazon Brock, wir danken für dieses Gespräch.