Magazin FILM 10/1965

Eine deutsche Filmzeitschrift

Film 10/65
Film 10/65

Erschienen
01.10.1965

Verlag
Erhard Friedrich

Erscheinungsort
Velber bei Hannover

Issue
10/1965

Seite 46 im Original

Zum siebten Male: Bazon Brock:

Ein Kritiker dessen, was es noch nicht gibt

Der empirische Charakter schießt

Das Todesproblem steht nach Schopenhauer am Eingang jeder Philosophie. Und inmitten jeden Action-Films! Warum?

Der scharfe Anriß des Problems in der Kolumne des Heftes 9/65 legt folgenden Schluß nahe:

Distanz gegenüber dem gesellschaftlichen Leben ist heute aus der erhofften Identifikation des Individuums ebensowenig möglich wie aus der Gewißheit des Todes. Wo solcher Versuch der Distanzierung dennoch betrieben wird, wird er zur Ausprägung von Moden und zur unbeabsichtigten Bestimmung der Fragen nach dem Sinn des einzelnen Daseins als private Anliegen. Was also die sogenannten universellen Werte ausmacht wird zur modischen Attitüde der Privatheit (selbst Kunst und Philosophie nicht ausgenommen). Darin kehrt sich die Arbeitsleistung des Individuums in der Gesellschaft gegen es selbst: es wird verleitet, immer wieder hinter sich selbst zurückzufallen, hinter den Grad der Reflektiertheit seines Lebens, und das heißt vor allem, die Reproduzierbarkeit des Lebens immer wieder zu verweigern. Es fängt dann jeden Morgen von neuem gleich dumm an, liefert sich jedem Ereignis gleich unmittelbar aus, als sei es „das erste Erlebnis“. Es weigert sich, Erfahrungen zu machen, die wie die Reproduktion natürlich die Aufhebung der Privatheit zur Folge haben.

Jede Produktion ist äußerste Formalisierung, die volkswirtschaftliche so gut wie die individuelle. An ihrem höchsten Grade aber – und das ist noch ganz unbegreiflich – vermag auch solche die Formulierung begründende Rationalität inkommensurabel zu werden, das heißt sie verbraucht sich nicht durch ihren Gebrauch. Darin liegt, daß sich Zukunft nicht mehr zu ereignen vermag, da das Neue nicht mehr als das Unterschiedene erscheint: der Unterschied verschwindet in der Inkommensurabilität des Prozesses. An der großen Flut der jetzt im Verleih befindlichen Zukunfts- und Weltherrschaftsfilme wird diese Problematik thematisch. Diese Filme zeigen nachdrücklich den Versuch eines jeweils einzelnen Protagonisten, die Inkommensurabilität des Zukünftigen zu durchbrechen, indem sie glauben machen wollen, ein einzelner könne gegen das begründete System angehen. Sie machen dabei zwar den Mechanismus der „bösen“ Macht sichtbar, sie zeigen wie dieser oder jener Mächtige zur Macht kam und demzufolge ihrer auch wieder beraubt werden könne. Jedoch: der durch die Aktion sichtbar sich herstellende Zustand der Welten, der Gesellschaften, ist nur als der schon existierende zu beschreiben: die Gegenwart als Zukunft, womit nichts gewonnen ist. Die Zukunft wird ohne Zeit. Was erst eintreten konnte durch den zeitlichen Ablauf des Prozesses, wird nach Erreichen nur Gegenwart. So schloß sich auch für Godards ALPHAVILLE der Kreis: die Zukunft wird zum Terror des gegenwärtigen Lebens und das Leben eben deshalb aufs Zukünftige beschränkt. Diesem Dilemma versuchen sich einzelne Autoren zu entziehen. Godard als der wichtigste läßt anstelle der Unbestimmbarkeit des Neuen wieder das genau so unbestimmbar gewordene Gegenwärtige treten: die Poesie, die Schönheit und was er so Humanität nennt. Doch hat sich die platte Lächerlichkeit dieses Ansinnens selbst den anspruchlosesten Betrachtern von ALPHAVILLE mitgeteilt. Von dieser Seite her wußte der Action-Film ebenso wenig zu leisten wie der Kunstfilm. Er hat jedoch vor aller Rettung, die nicht interessieren sollte, den Vorzug, beschreiben zu können, wie denn der Gang der Handlung, der Verlauf des Prozesses, neben dem Problem unsere eindeutige Form des Lebens sein kann. Er reproduziert den notwendigen gesellschaftlichen Charakter, den empirischen, und seine Verkehrsformen.

Auf solche Verkehrsformen reduziert sich vollkommen wertfrei das Leben unserer Gesellschaft. Mode und Tod sind zwei ihrer deutlichsten. Die Vergesellschaftung des individuellen Todes hat in deren Verkehrsformen J. Mitfort jüngst für Amerika beschrieben; die Aufhebung der individuellen Identität in der Mode beschrieb Georg Simmel vor 50 Jahren. Beide Autoren bedauern, was sie zu beschreiben genötigt waren, weil sie noch zu stark dem Begriff der Produktion in der bürgerlichen Gesellschaft verpflichtet sind, wonach der Produktionsgang in einem Produkt zu enden hat, von dessen fertiger Form rückwirkend der Prozeß zu kritisieren ist. Über die entwickelten Industriegesellschaften ist aber das Produkt nur Moment des Prozesses selbst. Dadurch entfällt die Möglichkeit einer kritischen Aufhebung des Prozesses, allgemein die Kritik dessen, was ist. Der hier stets gemeinte oder antizipierte Action-Film ist die am weitesten entwickelte Reproduktionsform unserer Gesellschaft. Seine Prozesse entsprechen den ihren. Seine Problematiken sind ebenfalls nicht mehr die der Sachen, sondern ihre Verkehrsformen. Die Sachen selber haben die Fähigkeit eingebüßt, sich als kritische Instanzen der Gesellschaft entgegenzustellen: so eben der Tod oder die Liebe oder die Natur: sie sind in der Mode, die eigentlich ihre Leugnung sein wollte, aufgehoben. Die berühmte Formel Thomas Manns müßte heute also lauten: der Mensch soll um seiner selbst willen weder dem Tod noch der Liebe und Güte Macht über seine Gedanken, seine Reproduktionsformen, gewähren. So ganz formalisiert, bedeutungslos, so ohne den Inhalt als Sache ist die Hauptverkehrsform des Action-Films zu verstehen: das Schießen. Der empirische Charakter schießt nicht mehr, um in verständlicher Intentionalität zu einem Produkt seiner Arbeit zu kommen, wobei die Motivation des Handelns sich gegen jede gesellschaftliche Vermittlung durchsetzte (Thema des Kunstfilms), sondern gerade in der Ausweitung gesellschaftlicher Erfahrung über sein Leben. Er formuliert den gesellschaftlichen Prozeß durch Imitation in augenblicklichen Übersichten, die meistens als Gag geschossen werden. Das Moment der Imitation wird im Action-Film stark betont, wodurch ein Vorgriff geleistet werden soll, der seinerseits wiederum gesellschaftlich imitierbar ist (in der Mode). Die Protogonisten von Action-Filmen sind somit niemals kriminelle, also gesellschaftlich nicht vermittelte Charaktere. Es ist so verständlich, warum gerade in den Kunstfilmen der Schießende als Täter jener Tat und ihrer Motivation verstanden wird, als der er dem Action von den Kunstfilmkritikern als unverständlich unterschoben wird. Doch ist nur im Kunstfilm die persönliche Leiche das Resultat des Ganzen. Der empirische Charakter bedient sich nicht der Motive einer privaten Eschatologie sondern der Verlaufsformen eines Produktionsprozesses. Es ist eben leider ein Irrtum, daß der Produktionsprozeß unmenschlich sei, weil er etwa die Massentötungen autoritärer Systeme zur letztlichen Folge habe. Der Produktionsprozeß verlangt um seiner Aufrechterhaltung willen genau das Gegenteil von Tötungen: er schafft den Tod ab. Der Tod im Action-Film ist also nicht jener individuellen Lebens – es wird nicht gemordet. Wie die Gesellschaft nicht mehr den individuellen Tod erfahren lassen kann, so bringt auch der Action-Film nicht mehr die einzelnen Tötungen zu Gesicht, sondern Verlaufsformen gesellschaftlichen Lebens. Solcher Tod ist unvereinbar mit den langwierigen Verlaufsformen, die das gesellschaftliche Leben bestimmen, ist deren äußerste Verkürzung, die zur Aufhebung aller Vermittlung führen würde. Die Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung zur rigorosen Lösung einer Sachlage bliebe nur individuell. Gelöst aber wird im Action-Film nichts, höchstens nach Art der Werbe-Spots: die schaffen erst den Wunsch nach der Lösung eines Problems. Diese aber verweigert zu recht jede entwickelte Gesellschaft, wie sich der Action-Film dem Tod als Lösung verweigert. Als Resultat muß er ihn manchmal zur Kenntnis nehmen, um ihn desto schneller hinter seinem Fortgang zu lassen. Die umstandslose Reduktion aufs Wesen, wie es doch im Tode immer noch angeblich erscheinen soll, würde den Action-Film in den Bereich des bürgerlichen Kunst-Films zurückstellen, für den es allerdings nur noch den Tod als vermittelnden Zusammenhang gibt. Das Feststellen des Lebens im Tode, die Produktion von Ewigkeit, ist eine typische Leistung der vergangenen Kunst. Die Ehrfurcht vor den Toten ist die vor dem fertigen Produkt, das eine Steigerung nicht mehr erfahren kann. Ehrfurcht ist ein gesteigerter physiologischer Affekt, aus dem keine Reproduktion von Leben zu leisten ist. Das Aufzeigen eines beständig sich entfaltenden Prozesses, innerhalb dessen der Tod Form der Kommunikation von Lebenden höchstens ist und als Verlaufsform des Prozesses nicht unterbestimmt bleibt, ist die besprochene Leistung des Action-Films.

Was die Gegenwärtigkeiten sich zum Typ erwählen, zum Kunstverstand, zum Einverständnis, gibt Aufschluß über das, was sie von sich wissen oder wissen wollen. Können könnten sie. Wenn sie nicht wollen, kann es geschehen, daß die Gegenwart sie selbst verkehrt und mit dem Gesicht zur Wand stellt. Dann müssen sie es sich gefallen lassen, als Mode konstatiert zu sehen, was ihnen universelle Werte sind, und als Tod, was ihnen ewiges Leben hieß. In diesem Verstande wechseln die Moden nicht, sondern die Ewigkeiten; die Sterblichen währen, dieweil die Unsterblichen vergehen. Im Kino.

Film Zeitschrift 10/65 Text S.46
Film Zeitschrift 10/65 Text S.46

siehe auch: