Magazin art, das Kunstmagazin

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Nr. 1/ Januar 1986

Erschienen
01.01.1986

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Gruner + Jahr AG & Co KG

Verlag
Gruner + Jahr AG & Co KG

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
01/1986

Rückblick auf ein Jahr der Flaute

Nicht um eine Chronik hat die ART-Redaktion den Zivilisations-Kritiker Bazon Brock, 49, gebeten - sondern um eine subjektiv formulierte Bilanz des Kunstjahres 1985. Grund zum Jubel fand er nirgends, Anlaß zur Polemik überall. Dennoch konzentrierte sich der Skeptiker aufs Positive auf die wenigen "bleibenden und hoffentlich nachwirkenden Ereignisse". - Brock, der seine Karriere 1957 als Lyriker, Aktions- und Happening-Künstler begann, lehrte seit 1965 an Kunsthochschulen in Hamburg und Wien, entwickelte 1972 die "Besucherschule" der Kasseler documenta, führte sie 1977 und 1982 (in Buchform ) fort und brachte 1985 seine Performance .,Wir wollen Gott! Aus dem Unterhaltungspragramm für die Hölle" als Video-Kassette im Kölner Verlag DuMont heraus. Bazon Brock hat eine Professur für Gestaltungstheorie an der Gesamthochschule Wuppertal.

Minus: Die Theorieleindlichkeit der Künstler
Minus: Die Pariser Schau "Les Immateriaux"
Minus: Die Bäume der Laurens-Ausstellung in Wuppertal
Plus: Das Buch"Tiefe Blicke"
Plus: Rüdiger Schöttles Schau "Ludwig XlV. tanzt"
Plus: Die radikale Gruppe der Düsseldorler "Langhelmer"

Achtung die Kunst. Zwar echote der Ruhm deutscher Gegenwartskunst auch in 1985 nachhaltig aus den Schründen westlicher Metropolen, und der Hochmut deutscher Künstler, vor allem der ihrer Galeristen, schien noch von verbindlichen Werten gerechtfertigt zu werden. Die Kasse stimmt zwar, die Bilanz aber nicht.
Zum erstenmal seit 1970 müssen die bildenden Künste mit ernsthafter Konkurrenz der schreibenden rechnen ach was, die schreibenden Künste bestimmen tatsächlich schon das Klima, in welchem wir Geistesarbeiter zu Tätertypen heranwachsen, vor denen sich auch die dickfelligsten Politfunktionäre sowie ihre wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Vollzugsgehilfen erschrecken werden.
Immer noch werden neue Kunstzeitschriften kreiert. Keine der heute vertriebenen, ob etabliert oder frisch eingeführt, ob kostbar ausgestattet oder als Schnellschuß ins Blaue abgegeben, kann es jedoch mit dem 38 Jahre alten, von Karl Heinz Bohrer neu herausgegebenen "Merkur" aufnehmen.
Wie bitte? Ja doch: Insofern radikaler Antihumanismus getarnt als Absage an sozialdemokratischen Reformismus, insofern knallhartes Auftrumpfen Aggressivität als vorherrschende Sozialtugend ausweist und insofern die Bereitschaft zur Selbstvernichtung als Beleg für spirituellc Kreativität von Individuen wie von Gemeinschaften gewertet werden kann - insofern hat die Kunstszene schon nichts mehr über den Lauf der Dinge zu melden oder doch nur Weniges, an das ich mit meinem Rückblick auf das Jahr 1985 erinnern will.
Das vorherrschende, also das fortwirkende Ereignis aus 1985 ist die unaufhaltsame Entstehung der eben angedeuteten Tendenz. Ihr wurde zumindest Vorschub geleistet von vermeintlich schon auf dem Parnaß inthronisierten Vollblutkünstlern, die durch ihren Erfolg dazu verführt wurden, Kritik und Diskussion, Information und Gespräch als bloße Propagandaveranstaltung für sich selbst mißverstehen zu dürfen.
Die Theoriefeindlichkeit von Bauch- und Urinkünstlern steht hinter der von naiven Kunstwissenschaftlern nicht zurück. Aber Gedankenlosigkeit darf wohl nicht in jedem Fall als prinzipielle Offenheit verstanden werden, und keinen Standpunkt zu haben, ist nicht notwendigerweise als lobenswerte Vielseitigkeit auszugeben.
Muß ich allgemein bleiben? Ich jedenfalls bin dazu übergegangen, mich von allen in meinem Besitz befindlichen Arbeiten derjenigen Künstler zu trennen, die auf meine theoretischen und kritischen Überlegungen nur so lange freundlich, ja herzlich reagierten, als ich für sie Ruhm herbeizublasen schien. Wohlgemerkt: Ich bekam die Arbeiten nicht geschenkt, sondern habe sie samt und sonders gekauft; in zwei Fällen erhielt ich je eine Arbeit als Honorar für ausführliche Katalogbeiträge beziehungsweise als Entgelt für ein Rahmenprogramm.
Gäb's keine anderen Gründe, ich müßte mich ja für dämlich halten, für Künstler kostenlos Reklame zu laufen und dann auch noch ihre Arbeiten zu bezahlen. Um mich nicht bei Kleinigkeiten aufzuhalten: So sehr ich auch Werke von Anselm Kiefer liebte und liebe - als meine nicht ganz belanglosen theoretischen und kritischen Außerungen zu seinem Werk von ihm selbst nur noch als eine Stimme im Chor der Ruhmredner geschätzt wurden, fiel für mich der Vorhang sogar vor seinen Meisterwerken.
Als mir der große Bruder Joseph Beuys, allerdings heiter prustend, zu verstehen gab, daß meine Begeisterung für Künstlerarbeiten so wirke, als wollte ich Durchschnittlichkeit in Qualität umfälschen, rächte ich mich mit der Umfälschung Beuysscher Qualität in Gemütskitsch. Natürlich hat Beuys das verstanden, er ist eben ein Meister.
Jetzt steht mir eine neue Prüfung bevor. Ich besitze unter anderem noch zwei beachtliche Bilder von Georg Jiil Dokoupil/Gerard Kever und von Peter Bömmels, besonders sprechende Frühwerke der "Mülheimer Freiheit" von 1980. Bömmels zum Beispiel interessiert sich für mein Geschreibsel nicht mehr, seit er meine Texte zu seiner Dortmunder Ausstellung als Majestätsbeleidigung verstand. Was also soll ich noch länger mit einem Bömmels-Bild, wenn der Künstler mich nur als Werbefritzen brauchbar findet?
Gegen dieses Urteil hätte ich so wenig wie jeder andere Schreiber, wenn der Herr Künstler dann gefälligst auch für derartige Werbung die in der Wirtschaft üblichen Preise zahlen würde. Das will Bömme!s ebensowenig wie sein Galerist Paul Maenz, dem ich anbot, mir die Werke zum damaligen Kaufpreis plus Inflationsausgleich wieder abzunehmen. Das Jahr 1985 über standen sie in seinem Depot, jetzt gab er sie zurück, weil sie weder ihm noch seinen sonstigen Kunden den Einstand wert seien. Ich hoffe, sie an Leser von ART versteigern zu können, um auf diesem Wege zu erfahren, wie fiktiv die Angaben von Galeristen über die Preise sind, die ihre Künstler erzielen. Warum fallen eigentlich die Preise für Bilder von Künstlern nicht, deren Werke unverkäuflich sind?
Und wieso... halt!
Das reicht! Sonst Säge, Ast, Runterfallen.
Aber ich wiederhole: Nach meiner Meinung verlor in 1985 die bildende Kunst an Kraft, dem Zeitgeist Gestalt zu geben, weil sie sich anmaßend selbst schon als Zeitgeist begriff. Das stimmt natürlich nur aufs Ganze gesehen. Auf Einze!ereignisse des Jahres 1985 bezogen, komme ich ja doch zu einem Panorama von Erscheinungen am lockenden Horizont. Natürlich ist die Ferne nur als solche schön; man sollte sie nicht zu überbrücken suchen.
Das Fernste war mir im vergangenen Jahr die Ausstellung des Werkes von Henri Laurens (1885 bis 1954) in Hannover und Wuppertal. Nach Hannover bin ich gejettet, nach Wuppertal gekrochen an einem Werktag mit Spätöffnung, allein im Von der Heydt-Museum, bei Raum- und Beleuchtungsverhältnissen, die diesen Ort zum Vorhof ewigen Vergessens werden lassen. Selbst der Regisseur Michael Grüber hat dergleichen Hoffnungslosigkeit allen menschlichen Tuns, und erst recht des künstlerischen, nicht inszenieren können.
Aber erst in dieser rahmenlosen Sozialbauatmosphäre haben große Werke eine unausschöpfbare Tiefe der Verlorenheit und Weltvergessenheit zugleich. Dafür sind von Rembrandt gemalte Gesichter der höchste Maßstab unserer Kunstgeschichte; in der Skulptur erreichte erst das 20. Jahrhundert mit Lipchitz, Archipenko, Brancusi, Picasso, Zadkine und eben Henri Laurens diese Dimension. Wie deutlich wurde bei dieser Gelegenheit, daß die Führung der Kunst unseres Jahrhunderts bei der Plastik lag. Auch die Malerei erhielt erst über die Materialreliefs der Kubisten und Dadaisten ihren fruchtbarsten Impuls. Übrigens sind etliche Laurens-Skulpturen von guter Qualität noch heute zu Preisen im Handel (etwa in der Galerie Brusberg), für die mancher Großmaler der fünfundachtziger Szene kaum mehr als einen Monat arbeitet.
Eiseskälte, Schwindelanfälle, eine merkwürdige Ortlosigkeit und Distanziertheit kennzeichnen alle bedeutenden Ausstellungen des Jahres, auch dann, wenn, wie im Fall von Jean-Francois Lyotards "Les Immateriaux" (etwa: Die Immaterialien), sich die Wirkungen von den Vorgaben der Veranstalter weit entfernten. Der Philosoph Lyotard glaubt ja wohl, daß mit dem Einzug des elektronischen Zeitalters in unsere Weltbilder auch eine neue Welt zu erwarten ist; eine kindische Annahme, und das, obwohl 500 Meter Luftlinie vom Ausstellungsort Centre Pompidou entfernt mit der Kathedrale von Nötre Dame die Wirklichkeit des Geistes im Paradies der gedanklichen Abstraktion und affektiv aufgeladenen Vorstellungen beweist, wie sehr das Mittelalter im Sinne Lyotards ein elektronisches Zeitalter gewesen ist. Die farbigen Fenster der gotischen Kathedrale sind die überzeugendsten Beispiele für das, was "Les lmmateriaux" bezeichnen.
Der Ausstellungsmacher Lyotard nahm auch nicht zur Kenntnis, daß schon das vorelektronische Design unsichtbar ist und daß inzwischen Strukturen und Funktionen von jedem Bürokraten oder Produzenten für wesentlicher gehalten werden als Formen und Materialien. Die Ausstellung des Philosophen Lyotard reichte an das durchschnittlichc Niveau einer Industriemesse nicht heran. Und doch ist sie eines der bleibenden, also fortwirkenden Ereignisse des Jahres 1985. Sie erzwang die Diskussion um ein Problem, das bisher kaum Spezialisten .ernstnehmen, geschweige denn die Offentlichkeit: Angeblich leben wir im optischen Zeitalter; doch alles tatsächlich unser Leben Bedingende ist unsichtba!, untastbar, unschmeckbar. Selbst die Ubersetzung dieser Verhältnisse in die Erscheinung tendiert zu Miniaturen und hebt sich damit weitgehend auf.
Was also heißt noch Prägung, Gestaltung, Bildung der Lebenswelt im Zeitalter der Mikrochips und der elektronischen Simulation?
Um simulierte Erscheinung ging es auch in der Diskussion um ein Kulturforum für Berlin. Der intelligenteste Vorschlag stammt vom österreichischen Architekten Hans Hollein. Die innere Größe seines Entwurfs entdeckt man aber erst, wenn man ihn gegen die Auslober und vielleicht sogar gegen den Urheber liest. Holleins Definition des Kemperplatzes als Ereignisbühne sollte die Charakteristiken eines Bühnenaufbaus ernsthaft nutzen. Zu diesen Charakteristiken gehört Widerrufbarkeit der Begrenzungen als bloße Kulisse, dramatisierende Uberzeichnung und ruinöse Zeitlichkeit.
Wer diesen postmodernen Werten wirklich traute, würde demzufolge das Berliner Kulturforum zwar von Hans Hollein in wunderbarer Weise formulieren lassen, aber nur für ein Sommerhalbjahr und nicht in Stein, sondern in jenem Material, aus dem die Filmkulissen der Open-Air-Studios gemacht werden. Im nächsten Sommerhalbjahr folgte dann ein zweiter Entwurf, entweder wieder von Hollein, oder von einem anderen und so weiter. Dieses Vorgehen wäre nicht nur postmodern im eigenlichen Sinne; es würde auch der Bevölkerung, die keine Architekturpläne lesen kann, die sinnvolle Diskussion um Stadtgestaltung mit solchen Eins-zu-eins-Kulissen einer Wirklichkeit ermöglichen, die es jenseits der wechselnden Kulissenwelt gar nicht mehr geben kann.
Berlin würde zum Pilgerziel der Welt, die es mit der einstigen deutschen Hauptstadt weder an Erfahrungen von vergänglicher Größe noch an ewiger Misere aufnehmen kann. Berlin hätte eine wirkliche Einmaligkeit zu bieten, wie sie Touristik-Manager überall sonst nur behaupten, aber nicht belegen können.
In der Galerie der Künstler, dem Domizil des Berufsverbandes Bildender Künstler in München, durfte der Galerist Rüdiger Schöttle eine Inszenierung unter dem Titel "Ludwig XlV. tanzt" bieten. Obwohl er sich für die Gestaltung der großartigen Raumfolge auch der Mithilfe anderer bediente, muß man ihm doch wie einem Meister huldigen, einem Intendanten jenes Jesuitentheaters, das zum Beispiel die Dresdner Hofkunst des Spätbarock beherrschte.
"August der Starke tanzt" wäre eigcntlich richtiger gewesen, aber dessen Heldenleben fehlt ein moderner Zug, nämlich die Bereitschaft zur Selbstvernichtung durch heroische Blindheit für alle evidenten Wahrheiten.
Wie Rüdiger Schöttle durch Lichtsimulation in Hinterglasfotografie (von Jeff Wall) oder in Stimmungsmalerei, wie er mit Draperien der Entgrenzung und in oasenhafter Vereinzelung zentrale Sichtweisen des Barock von heute aus wirksam werden läßt - das wird ein bleibendes, weil hoffentlich nachwirkendes Ereignis des Jahres 1985 werden. Ist es nun bald so weit? Sind wir endlich in der Lage, den Barock zu rezipieren, die für die Geschichte der Moderne bedeutsamste historische Epoche, die zugleich monströseste und geschichtsmächtigste, eine Zeit, in der nicht nur Pest und Syphilis, sondern auch der Krieg die Bevölkerung Deutschlands um die Hälfte dezimierte - in der Tod die Traumata des deutschen Nationalcharakters schuf und damit den Deutschen selbst?
Schöttles Inszenierung der Furie des Verschwindens ließ erahnen, was wir Unerhörtes an uns selbst zu entdecken vermöchten, wenn wir diese unbekannte Wüste unserer Geschichte endlich zu durchqueren wagten.
Die Höhepunkte des Kunstjahres waren für mich zwei Ausstellungen von Gerhard Merz, die er einerseits vom Konzept her entwickelte und die er andererseits inszenierte und auch mit eigenen Werken beschickte. Die erste veranstaltete die Galerie Tanit in München als "Eine mißlungene Ausstellung". Das dreistöckige, relativ kleine Galeriehaus hatte Merz von einer der entscheidenden Leistungen moderner Ausstellungskonzeptionen befreit: von der weißen Wand. Die Haupträume wurden, zum Teil inklusive der Fußböden, jeweils pastellgrün, pastellocker und pompejanischrot gestrichen. In diese Farbräume plazierte Merz mit extremer Sparsamkeit Dialoge zwischen Werken von Cocteau, Domela, Le Brun, de Chirico; Merz, Buffet, Garouste, Derain, Mayodon. Gerhard Merz ist einer der wenigen intellektuell leistungsfähigen Gegenwartskünstler; zudem ist er immens in der Kunst- und Kulturgeschichte beschlagen und hat aufgrund seiner Biografie eine entsprechende Charakterstärke, sich gegen noch so verführerische Gruppenbildungen immun zu halten.
Die ausgewählten Werke schienen für extreme Positionen zu stehen, für etwas Einmaliges, ja, für etwas Wirkungsloses. ln der Tat hat ja weder der hier gezeigte Buffet noch der de Chirico, haben weder Cocteau noch Domela eine bemerkenswerte Konsequenz für die Werke anderer Künstler gehabt. Im Gegenteil, sie wurden zumeist als manieristische Geschmacklosigkeiten für Snobs abqualifiziert. Cocteaus Gesichtsstele in Murano-Glas, de Chiricos blond gewellte Rosse am Strand, Buffets Fledermaus-Asket und Derains akademische Fruchtschale wie auch Domelas Aluminium-Lineamente mit eleganten Edelholzauffüllungen schienen dem Weltsprachenpathos der informellen, der tachistischen und der abstrakt expressionistischen Kunst der fünfziger Jahre gegenüber bestenfalls noch so etwas wie Dokumente der Senilität und der geschmäcklerischen Verpackung unsäglicher Banalität zu sein.
Merz diskutiert nun die sehr brauchbare Hypothese, daß vornehmlich in den zu Boutiquen-Kitsch herabgesunkenen Werken der ,,Wille zur hohen Kunst" überlebt hat, also die Forderung an den gebildeten Künstler, ein Herr in hündischer Welt zu sein und das Geschmacksurteil dort zur letzten Instanz zu erheben, wo ansonsten nach Wahrheitskriterien oder nach den diversen Opportunitäten geurteilt wird. Das ist sicher problematisch, weil allzu leicht der Dandy als Heros solchen Künstlerverständnisses wiederbelebt zu werden droht.
In der Ausstellung wurde jedenfalls klar, daß es um mehr geht. Dem Geschmacksurteil wird etwa das abverlangt, was der aufgeklärte Zeitgenosse als unfreiwillige Kulturleistung der Zensur zuschreibt: Wer künstlerische Äußerungen der Zensur unterwerfen möchte, dokumentiert damit ja einen extrem hohen Glauben an die Wirkungskraft der Künstler.
Die zweite Ausstellung von Gerhard Merz, ebenfalls in München, aber in einem ehemaligen Ladenlokal eingerichtet, führte den Titel "Schwere Reiter", eine Zurschaustellung vergleichbarer Gewichte. In den Räumen, unter schweren Kristallüstern, zwischen orientalischen Möbeln, bunten Dekorationsgläsern und einem weißen Architekturmodell, hängen vier kostbare Bilder und zwei Wandstücke. Über den Rundbögen stehen in rot gefaßten Buchstaben die Namen der ausstellenden Künstler und der ausgestellten Gegenstände:
Manolo Nunez: "Les arenes de Picasso". Gino Cenedese: "Richiama anatre, Flaconi". Carlo Maria Mariani: "Pictor Philosophus, Poseidon". Carlo Bugatti: "Credenza, Trono, Sedie". Gerhard Merz: "Gloria, Habemus Papam". Grotto: "Stuhl." Sol LeWitt: "Symbols". Salviati: "Manu surrealistica". Worüber triumphiert solche Kunst?
Denn daß sie triumphierend von Merz gezeigt wird, kann dem Ausstellungsbesucher schwerlich entgehen. Es ist der Triumph über die zeitgemäße Vereinzelung des Werkes als Museumsgut in Kunstkliniken. Merz will nicht zur Salon- und Palasthängung zurückkehren, durch die auch Kunstwerke bloß Bestandteile einer hochkomplexen, einer vollgestopften Lebensbühne waren. Dennoch und über das Paradox hinaus:
Kunstwerke werden erst wieder überragende Bedeutung jenseits der Museumspräsentation gewinnen, wenn sie weniger Anspruch auf herausragende Positionierung als auf Integration in die Lebenswelt erheben. Gerhard Merz gab Beispiele für solche Integration der Werke in übergeordnete Erscheinungsbilder.
Eine einmalige Erscheinung in der BRD sind "Die Langheimer"; als solche firmieren die ehemaligen Beuys-Pennäler und Beuys-Quäler Ulrike Zilly, Robert Hartmann, Werner Reuber und Nils Kristiansen. Sie residieren in Schloß Benrath bei Düsseldorf; ihren Namen leiten sie jedoch von einer verfallenen Abtei in Oberfranken ab, in deren Nähe sie vorletzten Sommer die Lebensborn-Akademie Hottenlanz ausgruben.
1985 stellten sie sich in Schloß Benrath mehrmals als "Hüter des Erbstroms" aus; ganz recht, als Hüter jenes deutschen Traums von der Züchtung des ganz anderen, aber desto mächtigeren Gottes, als dessen Propagandablatt der anfangs erwähnte "Merkur" herausgegeben wird. Die Langheimer führten jenen deutschen Phantasietypus nach Hottenlanz. Wenn man bedenkt, daß das bloße Vorzeigen jener Phantasien der stählernen Romantiker von Schrecken begleitet ist - jedenfalls bei Mainzelmännchendeutschen, wie ich einer bin -, dann nimmt es nicht wunder, daß die Diskussion erst nach einem beruhigenden "Fürchte-Dich-nicht" beginnen kann.
"Fürchte Dich nicht, daß ich nicht lache!" versichern die Langheimer. Sie lachen, und wie! Wie Ubu Roi oder wie Dada-Maxe. Und deshalb werden sie gefürchtet, gar geächtet in Kunstdeutschland. Aber ich sage Euch allen, daß ihre Enthüllungen und Forschungen in der klaffenden Moderne für unsere Tage kein falsch Zeugnis ablegen.
"Komm, kranker Panther, lach doch mal. Klaffende Moderne - Neuer ÖItyp", "Das Niveau braucht keinen Euter - Wehe, wenn der Mäzen abspringt", "Der Kunsthund knurrt - Der neue Spiritismus in der Kunst", "Die Hüterinnen des Erbstroms - Deutsche Gleichung mit Unbekannten", das sind Projektbücher, die Zeitzeugen bleiben werden für Kreuz, Krücke und Kreatur. Wann wird man das verstehen? Und wer?
Ich denke an Kippenberger! Der muß das verstehen! Immer häufiger denke ich an die Maler Martin Kippenberger, Werner Büttner, Albert Oehlen. Denken heißt fürchten - also fürchte ich wohl, die drei könnten absacken ins Bodenlose des Niveaus, wie die Maenz-Männer, vom schweren Geld des Erfolges hinabgezogen ?
Nein, alle drei haben 1985 wieder zugelegt; mit rund einem Dutzend Aktivitäten, wie zum Beispiel Büttner bei der Galerie Crone in Hamburg, Oehlen bei Friedrich in München und Kippenberger bei Ehrhardt in Frankfurt. "Acht Ertragsgebirge und drei Entwürfe für Müttergenesungswerke", letztere als gestapelte Holzplatten. Die gemalten Ertragsgebirge sind tatsächlich ein Ertrag für die Malerei - ein Qualitätssprung auf die ersten Plätze des Gewerbes; richtig groß gemalte Bilder, so schön wie ein Braque, so wahr wie eine Bilanz, so erhellend wie eine Wettervorhersage!
Aber bevor ich hier etwas Gewesenes groß beschwöre, verweise ich lieber auf etwas jederzeit Überprüfbares: 1985 erschien "Tiefe Blicke - Kunst der achtziger Jahre aus der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Osterreich und der Schweiz". Obzwar eine Bestandsaufnahme der Sammlung im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, ist dieser Band doch seinem Titelversprechen gewachsen. Einfach vorbildlich gemacht mit Werken von vielen guten Künstlern - stark vertreten unsere drei. Der Autor Stephan Schmidt-Wulffen fängt mit der Kunstgeschichte noch einmal ganz von vorn an wie weiland Vasari, und der Fotograf Thomas Walther liefert Künstlerporträts, wie man sie seit 50 Jahren nicht mehr sah.
Schließlich, aber doch wie in so vielen Jahren unüberbietbar an Kraft zur Askese und Zielstrebigkeit: Hanne Darboven zeigte in Raum 41 in Bonn "Regenmacher 85 - Kunst, Wissenschaft, Reklame, Propaganda, Werbung". Ein weiterer Gottesdienst für uns, die armen Angeber der Künste, oder vielmehr ein Regenzauber. Ihre private Wissenschaft des Zählens und Zeichnens ist ausgereift und leistungsfähig.
Zu den entsprechenden Leistungsnachweisen für ihre Tagespensen zeigt Hanne Darboven 102 hochprofessionelle Fototafeln von Kulturobjekten des Jahrhunderts, die von ihr wie Zeichen am Himmel gelesen werden. Sie macht ja keinen Schmus und zeigt keine imponierenden Interpretationen. Sie erarbeitet Konstellationen. Sie erfüllt ihre Arbeitszeit in täglicher Pflicht eines Angestellten des Büros für Endzeitabrechnung. Und Gott ist ihr Auftraggeber. So wie es die Mönche taten, läßt sich von ihm durchaus noch etwas erfahren, auch heute. Diejenigen aber, die ihn mit heroischem Pathos in ihre Welt zwingen wollen, machen nur Propaganda für den Tod und reklamieren Straffreiheit für sich selbst. ,,Wir wollen Gott und damit basta!" Aber dann muß auch basta sein!