Buch Dokumentation - Bilder für den Raum

Konsequenzen, Perspektiven, Profile zur Tagung am 15. Mai 2002, Zeche Westfalen I/II, Ahlen. Zwischenbilanz der REGIONALE 2004

Design: Bauckholt, Ina
Vorwort: Vesper, Michael | Wolters, Friedrich

Erschienen
01.01.2004

Autor
Brock, Bazon

Verlag
Entwicklungsgesellschaft REGIONALE 2004 GmbH

ISBN
3936827036

Umfang
141 Seiten

Einband
Taschenbuch

Impulsreferat

Verehrte Amsivarier,
so lautete die erste Kennzeichnung der Menschen, die links und rechts der Ems wohnten, durch Tacitus: Das ist Ihnen zweifellos bekannt. Was daran aber bedeutsam ist, ist die Kennzeichnung einer sozialen Formation, also einer Bevölkerung, von einer geographischen Gege- benheit her, eben der Ems. Diese Art der Namensgebung war in der Antike üblich. Während dieser Epoche entwickelte man die entscheidenden Kennzeichnungen – heute sagt man Identitätsmerkmale für Gruppen – aus der Verortung dieser Menschen, d.h. aus ihrer Einfügung in einen geographischen Raum, dessen Merkmale im Bewußtsein der Bewohner so hervorragten, daß sie in ihrer Beziehung auf die Lebenswelt eben genau durch diese topographischen Merkmale, durch diese Topoi, durch diese in sich geschlossenen Vorstellungsbilder, geprägt wurden. Von eben genau diesen Verortungen durch die Entwicklung von
„An-die-Geographie-gebundenen“ Vorstellungskomplexen spricht der Titel der Veranstaltung „Bilder für den Raum“; denn Raum ist natürlich der geographische Raum, eben der Raum, in dem die Amsivarier hausen. Was sie kennzeichnet oder kennzeichnen sollte, ist nicht primär eine kulturelle Identität, wie auch immer sie geprägt sein mag. Zum Beispiel nicht durch den hier heute schön entwickelten Begriff „türkisch-münsterländische kulturelle Identität“, wobei die Regionalität durch das Verspeisen eines antiregionalistischen Gerichts wie Kebab hervorgehoben wurde. Und da sehen Sie gleich, in welchen Irrsinn Sie mit einer kulturellen Identitätspolitik geraten: Kebab wird dann zu einem Merkmal der Regionen und das ganze Gegenteil dessen, was es tatsächlich darstellt.

Das ist nämlich der Vorbote der absoluten Globalisierung des Kebab, den Sie unabhängig von Regionen überall verspeisen können – also die Auflösungstendenz. „Bilder für den Raum“ heißt eigentlich: Verortung der Menschen, Einfügung in eine Lebenswelt durch die inneren Vorstellungsbilder, die sie entwickeln, anhand derer sie ihr Verhältnis untereinander und zur Welt regulieren. Die uns allen bekannteste Bildfolge, also eine Topographie der seelischen, inneren Energien, ist natürlich das Bild der Heimat. Heimat gibt es nur als ein solches inneres Bild. Das ist z.B. von Ernst Bloch ziemlich gut dargestellt worden. Es ist ein inneres Bild. Hier wird häufig von Visionen gesprochen. Heute jedenfalls! Heute Morgen zweimal bereits. Es ist ein inneres Bild, das uns Anschauung für unseren Bezug auf andere Menschen, mit denen wir an einem bestimmten Ort zusammenleben, bietet. „Bilder für den Raum“ heißt also: Besetzung eines geographischen Territoriums durch Visionen, durch Erwartungen, durch Phantasmen, durch Traumbilder, durch Märchenerzählungen, durch Schlachtenerinnerungen – kurz durch das, was diese antiken Theoretiker „Memorialwürdigkeit“ nannten, also durch Erinnerungsfähigkeit. Die „Bilder für den Raum“, d.h. die Visionen unserer eigenen Wahrnehmung in einer Geographie, in der wir leben, sind Orientierungen auf die Art und Weise, wie wir uns an uns selbst erinnern können: An uns selbst, als wir Kinder waren. Daher der dominante Begriff der Heimat. Wie wir aufgewachsen sind. Wie wir sozialisiert wurden. Wie wir in eine Gemeinschaft eingeführt wurden, und wie wir uns heute als Repräsentanten einer solchen Lebensgemeinschaft selbst ausweisen und behaupten können. Man sprach in der antiken Lehre dieser Besetzung von Räumen durch Bilder, der Rhetorik nämlich, regelrecht von Erinnerungstheater, Erinnerungsformen, die so zur Vergegenwärtigung kommen, so inszeniert vorgebracht werden müssen, wie man das mit einem theatralischen Stoff macht. Das heißt: Wir selbst müssen uns zu einer dramatis persona, wir selbst müssen uns zum Gegenstand eines interessanten erzählerischen Zusammenhangs historischer oder welcher Art auch immer machen. Wir müssen selbst zum Personal dieses Stückes werden, das wir erzählen. Es ist nicht nur die Erzählung anderer über andere, z.B. eines Shakespeare über Heinrichs Königsfamilie. Sondern indem wir uns selbst zum Gegenstand dieser Erinnerung in einer Region bezogen auf andere Menschen machen, starten wir eine Erzählung. Damit machen wir die Bilder, die einen Raum ausmachen, zu einer kontinuierlichen Darstellung von Visionen als Märchen, als historische Erinnerungen, als Geschichtsschreibung usw., so daß wir, die wir in dieser Region verortet sind, in einer Geschichte vorkommen. Wir können selbst zum Personal der Geschichte werden.

In vier kleinen Punkten will ich Ihnen demonstrieren oder andeuten, wie das, bezogen auf meine Erfahrung jedenfalls, funktionieren kann. Ich will Ihnen einmal die individualpsychologische, an mir selbst demonstrierte, Vorgehensweise für die Entwicklung einer solchen Integration ins Bild, eines solchen Eindringens in das Bild schildern, und dann eine politische, eine historische und eine methodische Betrachtung dazu liefern, wie wir in das Bild kommen, das die Region kennzeichnet. Es geht darum, wie wir sozusagen als Gegenstand der Erzählung anderer und der Aufmerksamkeit anderer „bildwürdig“ werden. Das eigentlich bedeutet Solidarität im humanistischen Sinne: Ein anderer ist für mich ein Thema. Und das reicht vom sozialpsychologisch höchst interessanten Klatsch, von der Rumurologie, wie man das als Fachmann nennt, also von dem Gerüchte - Erzählen – und das gibt es ja hier im Münsterland sehr reichlich, über die Spökenkiekerei, ebenfalls eine münsterländische Spezialität, bis zu einer Erzählung über das „Treffen von Telgte“ – wahrscheinlich Grass’ beste, einzige nobelpreiswürdige Leistung. 

Zuerst der individualpsychologische Aspekt. 1949 bin ich – und das sollten Sie sich merken im Hinblick auf Ihre Türken; denn nur Flüchtlinge sind in der Lage, die Bedeutung der Ausbildung solcher „Bilder für den Raum“ sowohl in positiver als auch in negativ ausgrenzender Weise zu würdigen – als Flüchtlingskind mit 13 Jahren auf einem verrosteten Fahrrad und 65 Pfennig Tagesgeld im Lande herumgefahren. In der Jugendherberge bekam man damals für genau 30 Pfennig eine Linsensuppe, die tagessatt machte mit Nachschlag. 65 Pfennig waren ungefähr so viel wie heute 12 Mark. Ich fuhr also im Lande herum, in das ich als Flüchtlingskind mit 15 Millionen anderen Deutschen gekommen war – zwischendrin interniert in anderen Lagern, in anderen Ländern etc. –, um mich einzufügen in das Bild dieses Territoriums, das ich noch gar nicht kannte. Ich hatte ja keine Vorstellung von dem Deutschland, in dem ich jetzt gelandet war, also von der gerade jung gegründeten Bundesrepublik Deutschland. 

Ich radelte unter anderem auf die Burg bei Wuppertal und traf da auf einen Fotografen, dessen Beschriftung an seiner Koje hieß: „Wir setzen Sie ins Bild!“ 1949! Indem er nämlich gegen geringes Geld – also für mich war das natürlich ein Vermögen – versprach, mich zu fotografieren, d.h. den Einzelnen zu fotografieren und ihn mittels dieser Technik in das Bild der gesamten Region, der Kulturlandschaft einzufügen. Und das ist das Resultat. Sie sehen hier den 13-Jährigen mit Waffe, nämlich mit dem Dolch der Pfadfinder, verteidigungsbreit,  offensiv auf der Parkbank vor der Burg, eingerahmt in die Topographie, die Memorialorte dieser Region. Das ist die Müngstener Brücke, das ist die Talsperre von Remscheid, das ist die Schloß-Burg-Anlage selbst und das ist schließlich der Altenberger Dom.

Was passierte nun? Ich ließ mich integrieren. Das ganze wurde als Postkarte abgezogen und gehandelt und verschickt. Ich ließ mich also darauf ein, zum Repräsentanten dessen zu wer- den, was hier einerseits so lokal demonstriert wurde, daß es schon jemand in Frankfurt gar nicht kannte; wie andererseits universal, oder heute würde man eben sagen global, bedeutsam wurde. Und das machte ich jetzt nicht nur als eine Übung, daß man zum Beispiel neben dem Altenberger Dom als Vergegenwärtigung im christlich-theologischen Sinne des Himmlischen Jerusalems auf das Paradies sehen kann, und daß man mit der Müngstener Brücke die gesamte Technikgeschichte auf ihrem Höhepunkt sehen kann, nämlich ein metaphysisches Unternehmen: Vortrieb in den freien Raum, d.h. etwas von der phantastischen Vorstellung her gar nicht mehr Überbietbares.
Ich habe dann mein ganzes Leben als eine Art von „Logik der Erfüllung“ dieser Integration in globale Paradiesvorstellung und in den freien Vortrieb im regionalen Kontext gesehen, im Bild nämlich des Altenberger Domes und der Müngstener Brücke.

Das ging so weit, daß ich schließlich in Wuppertal zunächst in der Galerie Parnasse und dann an der jung gegründeten Universität, Herrn Raus Lieblingsprojekt, landete, und zwar im Hinblick auf einen einzigen Moment: Ich fuhr durch die Stadt mit der Familie Baum, einer Sammlerfamilie, und hörte, wo ich mich wohl ansiedeln könnte. Überall hatte ich das Gefühl: Nein, ich brauche hier etwas, was diese Vision realisiert. Und dann kamen wir auf einen Hügel im Cronbergischen. Ich hatte das Gefühl: Ja, hier ist es richtig! Warum? Ich guckte aus dem Fenster des zu mietenden Hauses und sah am Horizont die Müngstener Brücke, d.h. ich war wirklich dort angekommen. Ich war dort verortet, wohin ich aufgrund dieser Adaptation wollte, nämlich als Repräsentant eben dieses Zusammenhanges von globaler, allgemeiner, abstrakter Bedeutung und regionaler Verortung. Ich lebe also seither in einem gemieteten Haus, aus dessen Fenster ich jederzeit die Verpflichtung auf dieses Bild selber wahrnehmen kann. Ausschließlich dadurch halte ich es nicht nur in diesem Raum aus.

Sie wissen, das ist so ungefähr die verwüstetste visuell devastierteste Landschaft, die Sie sich vorstellen können. Sie haben vielleicht der Zeitung entnommen, wie es in Wuppertaler Behörden zugeht. Ein Desaster sondergleichen, sozusagen die Hölle der Bestimmungslosigkeit, das Versinken jeder Art von Markierungen. Es gibt keine Pfähle der Anständigkeit, der Orientierung, des Weltsinnes. Man ist vollkommen allein. Und da braucht man solche Bilder der Region. Aufgrund dieser Bilder liebe ich diese Region. Sie ermöglicht mir, meine gesamte innere psychische Energie auf diese Region zu übertragen. In einem großen Zusammenhang von der globalen Bedeutung einer Kathedrale oder eben eines grandiosen Brückenbauprojektes der Zivilisationsgeschichte gelingt mir die Verortung meiner selbst. Man steht unter dem Scheitelbogen der Brücke und memoriert die Texte seiner Kollegen. Das mit Studierenden betrieben, die natürlich nichts anderes lernen können, wenn sie in Wuppertal studieren, als einen Grund dafür, warum man gedanklich in diesem absoluten Nichts operiert.

Und hier erfüllt sich Punkt 1: die Individualpsychologie. Das gesamte Programm einer solchen REGIONALE bedeutet nämlich, die inneren Bilder, die erinnerten Bilder zu entdecken oder wieder zu entdecken, denn sie sind es, die das Bewußtsein, hier in diesem Raum verortet zu sein, hervorbringen. Der REGIONALE kommt damit keine geringere Aufgabe zu, als die Kulturmission der Geschichte schlechthin zu erfüllen in dieser Welt als ortloser Wüste. Das war damals die Hochsee, in der es keine Markierungen gab, keine gewachsenen Identitäten, kein Deutsch-Sein oder Münsterländer-Sein, nichts, keine Territorialmarkierung, keine Hilfskonstruktion wie „Mama, Papa, Oma“, kein Kinderhaus, keine Heimat. In dieser Hochsee, also in dieser Ortlosigkeit der Welt gilt es, mit der eigenen Gedankenkraft so weit Konzepte der Welt, Weltbilder, zu entwickeln, daß man sich in ihnen so orientiert, daß man mit einem Schiff über diese Wüste der Ortlosigkeit an dem Ziel ankommt, das man ansteuern wollte. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß wir überall auf der Welt in die Ortlosigkeit, in die Heimatlosigkeit, eigentlich in die Weltlosigkeit gestoßen sind. Wir klammern uns noch an Blutwurst in Münster. Wir klammern uns noch an die Erzählungen von Oma und Opa. Aber in Wahrheit trägt das nicht mehr, wenn wir es nicht fertig kriegen, diese paar äußeren, herzlich bewahrten Markierungen im Memorialfeld aus uns selbst heraus zu produzieren. Es gilt in der REGIONALE ein Bild des Raumes so zu entwickeln, daß wir uns anhand unserer abstrakten Leistungen tatsächlich in der Welt wie zu Hause bewegen können. Die REGIONALE muß also für den einzelnen Bewohner eine Anleitung geben, mit der er selbst schließlich Gegenstand einer großen Erzählung über diesen Raum wird. Die REGIONALE wird die geistige Struktur schaffen, in der sich jeder Bewohner als Be- standteil einer solchen Erzählung über die Region positionieren kann. 

Jetzt das ganze in politischer Hinsicht. Wir sehen heute die ganze Welt als eine Wüste der Ortlosigkeit, wenn wir sie nicht mit Vorstellungen, und seien sie noch so aberwitzig, beset- zen, wie zum Beispiel mit der Vorstellung des Palästinenserstaates, obwohl es in dieser Re- gion, an diesem Orte dort, nie einen Staat gegeben hat. Es gab nie einen Palästinenserstaat. Man besetzt diese Region so mit einer solchen Phantsamagorie, mit einem solchen Begriffs- schema, daß das eine vorherrschende handlungsanleitende Orientierung für alle geworden ist, obwohl es eine reine Chimäre ist. Es ist ja nichts anderes als nur ausgedacht. Eine reine Chimäre! Es gibt keinen historischen Grund dafür. Es gibt keinen systematischen Grund. Das ist ausgedacht, aber unglaublich stark. Überall auf der Welt werden zur Bestätigung dieser „Bilder für den Raum“ politische Kon- sequenzen angemahnt. Es wird zum „Kampf um Autonomie“ geblasen. Das geht so weit, daß sich Regionen, die kleiner sind als Land „rechts und links der Ems“, kleiner sind als Nordrhein-Westfalen, weltpolitisch in ihrem Befreiungskampf, in ihrem Kampf um Autonomie zu Aktivistengrößen, zu Aktionsgrößen machen, wie es früher nur Weltmächten zukam. Denken wir mal daran, daß der Kaukasus insgesamt kleiner ist als NRW und weniger Bevölkerung hat. Aber was bieten die Georgier und die Aserbaidschaner alles auf? Was stellen sie für Armeen auf? Die beherrschen doch heute mit ihren Aktivitäten die gesamte Welt. Herr Putin kann keine Minute ruhig schlafen, ohne daß er an den Kaukasus denkt. Das geht Gerhard Schröder sicherlich so. Er wird sagen „NRW ist wahlentscheidend“ wegen der Stimmen. Aber er wird nicht in gleicher Weise umgetrieben wie Putin. Warum? Weil eben bisher die Wuppertaler als Barmener, als Cronenberger und Elberfelder noch nicht gesagt haben:
„Wir müssen uns gegenüber der Zentralgewalt Düsseldorf in einem Freiheitskampf bewähren. Wir fordern die Welt auf: Liefert uns Waffen, Nahrungsmittel etc., denn Barmen, Elberfeld und Cronenberg wurden vergewaltigt durch die Politik! 1927 wurden sie gezwungen, diesen Ekelkonstruktionsnamen Wuppertal anzunehmen. Das gab es historisch gar nicht. Ein reines Territorialdiktat! Davon befreien wir uns im Namen unserer Individualitätsautonomie, kulturellen Identität etc. Und wir führen jetzt für unseren Kampf alles an, was wir überhaupt können, nämlich zum Beispiel die Aufstachelung der Kölner, sich ebenfalls von Düsseldorf zu befreien. Das heißt von der Metropole des Preußentums, die es gewagt hat, in einer beispiellosen perfiden Kampagne alles, was uns in dieser Großregion, später NRW geheißen, heilig war, per Diktat der Besatzungsmacht Britannien aufzugeben. Wir sind doch arme Opfer eines solchen bestimmenden Diktats. Weg damit jetzt! Also die perfide Vernichtungsdrohung unserer kulturellen Identität, unseres Bewußtseins, die durch die Preußen systematisch entwickelt wurde, als sie auf das Allerheiligste unserer katholischen Überzeugung, nämlich die Absis des Kölner Doms, die Eisenbahnbrücke zuführten, als wollte diese Horrormaschinerie der Moderne die Oblatenbewahranstalt in der Absis überrollen und verpuffen. Können Sie sich eine Beleidigung religiöser Überzeugung vorstellen, die perfider wäre als das, was da geschehen ist?“ Und das ist Grund, wenn Sie sich die heutigen Gründe der Welt ansehen, um die Kölner zum Freiheitskampf gegenüber Düsseldorf, Preußen, Deutschland, NRW usw. anzutreiben. Nun, Sie haben diese Schlagzeilen noch nicht gehört. Warum? Weil sie nicht auf die Idee kommen, den politischen Hintergrund von Regionalisie- rung überhaupt zu bedenken. Der große gegenwärtig konstruierte Gegensatz „global/regional“, weil es früher politisch hieß „Metropolen gegen Provinz“: Wie harmlos war das! Heute ist Provinz in jeder Großstadt und Metropole auf je- dem Dorf. Der wahre Gegensatz ist heute nicht „Regionalisierung“ und „Globalisierung“, im Sinne von „kleinteilig – vor Ort“ und „groß - denkerisch – zusammenhängend“, sondern es geht um Autonomie und Heteronomie. Das wahre Verhältnis zwischen regionalen Konfi- gurationen und globalen ist das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie. Klar ist allen: Es gibt gar keine Autonomie mehr. Wir sind ab- hängig! Wenn Sie Ost-Timor heute sehen wollen: eine großartige Deklaration der Autonomie! Es ist wirklich wie Wuppertal. Wuppertal erklärt sich für autonom, das ist ungefähr der Maßstab von Ost-Timor. Das wird von allen akzeptiert. Alle schmeißen da ihr Geld hin für Entwicklungshilfe. Australien schickt gleich Tausende von Soldaten, wunderbares Beispiel. Autonomie gibt es nicht mehr. Und das ist die Bedeutung der Region. Wir müssen uns anstrengen, den objektiven Verlust der Autonomie aufzufangen. Deswegen müssen wir ein regionales Bewußtsein ausbilden. Wir würden ja sonst im Bewußtsein der imperialistischen Versklavung durch Düsseldorf schier verrückt werden. Das ganze Sinnen, Trachten wäre Tag und Nacht nur noch dagegen gerichtet. Wie können wir uns gegen diese imperialistischen Großkotze, diese Ministerialbürokratie – gegen- über Brüssel hört man ja solche Töne heute schon wieder – eigentlich behaupten? Das ist natürlich alles Quatsch, aber, wie wir wissenschaftlich sagen, alles kontrafaktisch, alles nur ausgedacht, aber so wirksam.

Die normative Kraft des Kontrafaktischen, d.h. die wirklichkeitsprägende Kraft der inneren Vision und Vorstellung, können Sie doch bei westfälischen Dickschädeln jeden Tag feststellen. Also ist regionalistische Operation das vorsichtige Gewöhnen an die Tatsache, daß wir nicht mehr frei sind, auch nicht sein können. Daß alle pathetischen Erklärungen, die in unsere Verfassung eingegangen sind, nicht mehr per Mutwillen sozusagen durchgesetzt werden können. Nehmen Sie mal die Präambel auf
„Gott“ in der Verfassung. Das ist ein Kontrafakt. Sie alle würden, oder nicht Sie alle hier, aber viele, würden heute sagen: Ich weiß mit dieser Begründung im Grundgesetz, die auf Gott als Legitimation beruht, gar nichts mehr anzufangen. So ist es mit Heimat, mit Region, mit Deutschland, mit politischen Identitäten. Sie sind Kontrafakte. Aber als Kontrafakte normativ, d.h. bestimmend für unsere Bewertung der Sachverhalte in der Welt.

In Wahrheit kann man sagen: Wir werden geradezu gezwungen oder verführt – die Medien würden behaupten, daß sie uns verführten. Objektiv können wir aber sagen, daß wir geradezu gezwungen werden, die Welt nur noch zu bewerten anhand von solchen irrwitzigen Ausgedachtheiten bis hin zum permanenten Verfolgungswahn. Wenn Sie heute ins Internet gucken, um das Weltverhältnis der Menschen zu klären, dann können Sie eigentlich feststellen, daß da nur Wahnsinnige untereinander mit ihrer Weltsicht konkurrieren, die aber in der Tat sehr bestimmend ist und die wir nicht mehr als Ideologie einfach ablegen können.

Ich will sagen, wenn Sie eine REGIONALE, ausgewiesen als den Zusammenhang von Visionen und Vorstellungen, verortet in einem Raum, ausgebildet als Erzählung etc. bieten wollen, dann müssen Sie ein gewisses Versprechen abgeben. Ein Versprechen auf die Zukunft. Ein Versprechen auf Solidarität. Ein Versprechen auf Gemeinsamkeiten in der Orientierung, auf das einzig uns wirklich noch Gemeinsame, und das sind Probleme.

Eine REGIONALE ist also heute da, um zu sagen: Liebe Freunde. Ethnische Zugehörigkeit, rassische Merkmale, Sprachgemeinschaftlichkeit, Kulturinteressen zählen als gesellschaftsstiftende Konsensübereinkunft nicht mehr. Die haben wir nicht gemeinsam. Ich habe mit den Türken keine Kultur gemeinsam. Ich habe zivilisatorische Regeln für das Verhalten gemeinsam, aber keine Kultur. Ich kann mich noch so anstrengen. Ich kann mich nicht auf meine rassische, ethnische, sprachliche und sonstige Zugehörigkeit berufen. Ich kann nur noch rumgehen im Lande und sagen: Wo sind Menschen, die sich mit mir auf Probleme einlassen, regional meinetwegen auf Landschaftszerstörung, wie die gegenwärtig gigantischste aller Landschaftszerstörungen, nämlich die mit Steuersubventionen ermöglichte Besetzung des Landes durch Windkraftanlagen. Der größte Wahnsinn eines Heilsverbrechens, das es überhaupt in der Geschichte gegeben hat. Ich kann nur noch darauf vertrauen, daß ich auf Menschen treffe, die sich mit mir über diese Probleme beugen und wissen, die können wir nicht lösen. Weil wir sie nicht lösen können, deswegen gehören wir zusammen. Wir sind
die unverbrüchliche Gemeinschaft derer, die wissen, daß sie rettungslos ihren Problemen ausgeliefert sind, die wie schicksalhafte Abläufe über sie hinwegfegen, und die, wenn sie sich nicht zusammenschließen, sie zu vernichten drohen. In der Region ist die Fähigkeit der Menschen, sich auf die Probleme eben dieser Region von der Landschaftszerstörung bis zur Infrastruktur, Wasserversorgung und was  immer einzulassen, gemeinschaftsstiftend. Ohne die Besserwisserhaftigkeit „Unser Gott erzählt uns aber!“, oder „Unsere Ideologie sagt uns aber!“, „Unser Parteiführer hat aber versprochen!“ Nein! Hier sitzen wir, die wir ausgesetzt sind, ohne Hoffnung, und das ist das einzig Unverbrüchliche, was wir leisten können. Das fordert natürlich die Fähigkeit, sich auf der individualpsychologischen Ebene in die Denkmuster, in die Denkbilder, die den Raum ausmachen, einzufügen.

Nun, neben dem Individualpsychologischen, das war für mich diese Postkartenintegration, oder dem Politischen, das ist die große Kultur der Identitätsdebatte und ihre völlige Sinnlosigkeit, ihre völlig zerstörerische Blödigkeit: Wenn Sie hier von türkisch-deutscher Gemeinsamkeit sprechen, dann führen Sie bitte ab Morgen Türkisch als Amtssprache ein. Und dann die anderen Minoritäten, die Sie hier auch haben. Dann sind Sie bestenfalls berechtigt, von einer solchen Gemeinsamkeit zu reden. Da werden Sie sich hüten, weil das natürlich jede Funktionsfähigkeit auflöst. Also sollten wir aufhören, mit diesen Kulturschmökern, mit diesen Versöhnungsgesten die Köpfe der Leute zuzukleistern, anstatt sie auf die wirklichen Probleme hin anzusprechen, und ihr Verständnis für die Unlösbarkeit der Probleme zu wecken und dadurch die gemeinschaftsstiftende Kraft der Orientierung auf die Probleme zu stärken. Kulturen lassen sich nicht versöhnerisch miteinander verbinden. Alles Lug und Trug! Es gibt in der Geschichte nicht ein Beispiel, was man sich da über den Islam, über Spanien, erzählt. ... Jeder Fachmann kann Ihnen das widerlegen. Das gab es nicht! Kultur heißt Kampf und sonst gar nichts. Vorherrschaft, Suprematie, Verdrängung, Landnahme, das heißt Kultur. Dagegen haben wir ab dem 18. Jahrhundert die große Idee der zivilisatorischen Regeln gesetzt, weil man hier im Münsterland wußte, was Kultur bedeutet. Katholiken gegen Protestanten, 60 Jahre Abschlachterei, das ist Kultur, sonst nichts! Also sagt man: Weg mit der Kultur! Säkularisierte Kultur! Hört auf mit diesen religiösen Identitätsstiftungen! Zivilisation, 18. Jahrhundert, Aufklärung heißt: Es gibt Regeln für alle. Basta! Keine Minoritätsausnahmen, keine Besonderheiten, keine Arschkriechereien im Hinblick
auf irgendwelche Annahmen von göttlicher Offenbarung oder höherem Wissen oder was auch immer. Regeln für alle, und die werden durchgesetzt, sonst gar nichts. Was die Leute privat glauben mögen, was sie kulturell treiben, wie sie ihre Brotmuster, ihre Batiken vornehmen, das ist ihre Privatsache. Da mögen sie privat selig werden. Das gehört aber nicht in die Politik und nicht in die Öffentlichkeit. Kultur ist, sobald sie in die Öffentlichkeit dringt, zerstörerisch. Kulturkampf zerstört jede Gesellschaft. Es gibt keine Ausnahme in der ganzen Weltgeschichte. Das ist nämlich der Sinn des Aufbaus einer kulturellen Identität.

Also laßt uns doch mal anfangen, eine Region, die diese Erfahrung der Kulturkämpfe des 17. Jahrhunderts im 30-jährigen Krieg gemacht hat, zu begreifen als eine Region, in der so gut trainierte zivilisierte Menschen leben, die sich gemeinsam für die Probleme interessieren können, die es objektiv gibt, weil sie nicht lösbar sind. Die sind nicht so blöd zu glauben, der nächste Ministerpräsident, das nächste Parteiprogramm löst ihnen die Probleme. Sondern sie sind Manager der Probleme. Sie können die Probleme aushaltbar machen und sie leben zusammen, um uns zu sagen: Wir versichern uns wechselseitig, Lehrer und Schüler, Professoren, Studenten, Nachbarn. Wir laufen nicht davon. Wir bleiben hier. Wir halten dem stand.

Jetzt zu der historischen Frage. „Die Nibelungen zogen nordwärts“ ist der bescheidene Titel des großartigen Historienwerkes, das vor 20 Jahren der geniale Dilettant Ritter Schaumburg verfaßte. Ritter Schaumburg ist Ingenieur und beweist in seiner frappierenden real-historischen Rekonstruktion dieses nationalen Mythos seine wahre Berufung zum Universaldilettanten. Ritter Schaumburg entwickelte als Universaldilettant auf Basis der literarischen Vermittlung eine fantastische, wissenschaftlich völlig einwandfreie Theorie der Nibelungen-Geschichte, die für die Projektion dieses weltgeschichtlichen Großstoffs eben den Bilderrahmen in der Region entdeckte. Die Nibelungengeschichte, dieser Riesenstoff, von der im Süden ganze Regionen leben – ja der gesamte Südosten von Ungarn bis an die Donau hält sich ja zugute, das Nibelungenland zu sein. In seinem Werk „Die Nibelungen zogen nordwärts“ projezierte Ritter Schaumburg den Riesenstoff anhand historischer Quellen, nämlich der zwei ältesten Fassungen des Nibelungenlieds, zurück, wobei sich herausstellte, daß die Donau, die ja nirgends in den Rhein fließt, im Originaltext schlicht und einfach die Düna war, die genau da, wo heute das Chemiewerk Bayer Leverkusen steht, in den Rhein floß, und daß Bern im Mittelalter bis 1246 Bonn gewesen ist, und daß der König Attila ein Regionalfürst von Sieg- burg gewesen ist, den wir historisch nachweisen können, und daß die Nibelungen nichts anderes waren als ein Großgeschlecht an der Neffel, die zwei Kilometer von Zülpich entfernt dahin floß – so wie Sie eben von Tacitus Amsivarier genannt wurden, so wurden die Anrai- ner der Neffel eben Niffel genannt. Und da passiert etwas Phantastisches. Hier kommt nun Ritter Schaumburg, ein Ingenieur wie gesagt, und dazu ein Regionalist, und sagt: Wunderbar! Ganz einfach: ein Vierkanthof bei Zülpich, der Fluß heißt Neffel, die Leute ziehen im 18er Verband einer Großfamilie, das war ja ganz üblich, unter Hinzuziehung von ein paar Leuten nach Bern, dann an Köln, das babylonische Namensgebungstradition hat, über den Rhein, nämlich genau dahin, wo dann auf der einen Seite das Chemiewerk Bayer Leverkusen und andererseits Altenburg gebaut ist – in der Regionaltradition immer bekannt gewesen – auf dem Höhenrücken nach Torta, Dortmund und Susa, Soest. Diese Weltprojektion läßt sich abbilden auf eine Region, in einen kleinen Teil des realen Raumes. Das Ganze wird so zu einer erfahrbaren Dimension für jedes Individuum in bezug auf sein eigenes Leben. Für diese Region muß es also eine Möglichkeit geben, einen solchen Kosmos der „Bilder im Raum“, ein solches Weltbildgefüge tatsächlich zurück- zuprojezieren auf dieses Land, auf diese Emsseitenufer, und ich könnte da einiges anbieten, wenn Sie mich einladen, mache ich das gegen ein geringes Honorar gerne publik.

Nun methodisch. Was bedeutet es, eine REGIONALE durchzuführen? Es bedeutet, die Fähigkeit der Bewohner, die sich bestimmen durch die Tatsache, daß sie nach Tacitus dort, also auf beiden Seiten der Ems verortet sind, die Fähigkeit zu entwickeln, Wert zu schätzen, etwas anzuerkennen, etwas vor anderem aus- zuzeichnen. Kurz: Sie in die Lage zu versetzen, gegenüber den Bestimmungsgrößen, getragen von der Geographie, von der Geopsyche – das ist die fachmännische Bezeichnung für den Einfluß einer geographischen Formation auf den psychischen Apparat – so euphorisiert und enthusiasmiert zu sein, daß sie voller Elan und Begeisterung zu anderen sagen: „Hört einmal! Guckt her! Hier ist was. Jetzt erzählen wir Euch etwas. Das ist toll! Das hat Einfluß. Das hat Kraft! Hier hängt eine ganze Geschichte dran. Jetzt erschließen wir Euch das. Das macht neugierig und weckt Interesse!“
Also kurz gesagt: Die REGIONALE muß es fertigbringen, daß die Bewohner der Region etwas für wertvoll erklären. Das nennen wir Strategie der Luxurierung. Und dies sind die Insignien des kulturpraktischen Prinzips der Luxurierung. Die Hinteren sehen es nicht, aber die Vorderen: Das ist eigentlich ein Paar goldener Eßstäbchen. Warum sind das die Insignien des Logos Topos? Weil sich in ihnen alle Aspekte einer solchen Strategie zusammenfügen. Zunächst einmal der ökologische Aspekt. Es ist sicher- lich sinnvoll – das läßt sich ausrechnen, ist längst ausgerechnet – jedem Neubürger – in Ihrer Region müßte das etwas Entsprechen- des sein – ein paar goldene Eßstäbchen zu schenken, so wie früher Tante Emma zur Taufe ein goldenes Löffelchen schenkte. Warum? Weil es so wertvoll ist. Deswegen kostet es 2.800 DM, also jetzt 1.400 Euro. Weil man es alleine wegen seines ökonomischen Wertes schätzt. Das ist unsere Einführungsstrategie. Wenn etwas teuer ist, kostbar ist, dann hat es einen Wert. Also preisen wir den Wert. Das bedeutet, wir werden es nicht wegschmeißen. Wir werden es bei uns tragen, wir werden es benutzen. Und wenn wir es benutzen, dann werden wir es vermeiden, die Millionen täglich verbrauchter hölzerner Eßstäbchen zu vermehren, die dazu führen, daß japanische Unternehmer ganze Regionen des Urwalds monatlich in Südamerika abschlagen. Es ist also ökologisch höchst sinnvoll, Höchstansprüche an die Werthaftigkeit der Dinge, der Objekte, des Designs, der Alltagsgegenstände, der Kleidung zu stellen. Je wertvoller, desto intelligenter verhalten sich die Leute, weil die Werthaltung, die Wertschätzungsstrategie auf dieser Ebene dafür sorgt, daß man mit den Dingen pfleglich umgeht, weil man sie ja eben schätzt. Der zweite Grund für die Wertschätzung ist der hygienische Gesichtspunkt. Sie wissen, daß Gold keinerlei Verschmutzung annimmt. Sie brauchen es also gar nicht zu waschen. Sie können sicher sein, wenn Sie das benutzen, wo immer Sie sind, kriegen Sie keine Bakterien in den Mund geschoben. Daran läßt sich also eine zweite Großstrategie festmachen, die wir mit Vorsorge, Fürsorge, Wertschätzung der eigenen Gesundheit verbinden. Es ist für die Luxurierungsstrategie ganz grundlegend, daß wir lernen, die Pflanzen und die Tiere und die Menschen im Sinne eines solchen Systems der Natur zu schätzen. Wir haben also die Wertschätzung im Hinblick auf den Preis, den die Sache hat, Wertschätzung im Hinblick auf die Reflexion, die es für uns als organisches System darstellt und eine ganze Reihe anderer mehr.

Wenn es die REGIONALE also leisten will, ein solches Emblem zu finden, von dem aus sich vier, fünf, sechs wesentliche Vorgehensweisen, Denkschritte oder Bewertungsformen festmachen lassen, die jeder versteht, wenn er das Emblem sieht oder in der Hand hält, dann sollte es in erster Linie das Generalthema der Luxurierung sein mit dem Appell: Luxuriert Eure Bestände! Treibt Sie raus ins Kostbare, ins Wertvolle, macht sie wertvoll, indem Ihr sie schätzen lernt. Das ist eigentlich nichts anderes als Training in der Wertschätzung. Wertschätzung für das Unauffällige, bisher Übersehene, bisher durch die Kriterienunterscheidung gar nicht Hervorgetretenes. Dann würde natürlich ein Tourist sagen: „Jetzt gehe ich dahin, um zu erfahren, auf welche Weise Menschen, die dort verortet sind, in diesen Vorstellungs- zusammenhängen historisch und politisch auftreten können. Wie sie es mir nahe bringen, was sie schätzen. Was sie für wertvoll halten. Auf welche Weise sie ihre Fähigkeit zum Pflegen, zum Hegen, zum Herausstellen, zum Bewahren, zum Konservieren, zum Restaurieren tatsächlich geltend machen. Denn ich möchte unter Menschen leben, mich aufhalten, an ihnen orientieren, die mir gegen meinen eigenen Zweifel, gegen meine eigene Gleichgültigkeit, meine eigene Verstiegenheit usw. zeigen können: Es gibt keinen Grund zu verzweifeln, zu verzweifeln an der latenten Vermüllung, an der Einebnung aller Werte, am Verschleißen aller Unterschiede.“

Das ist ja die generelle Globalisierungstendenz: generelle Vermüllung! Es gibt Menschen, die mir zeigen, daß das nicht unser Schicksal ist. Sei es sogar so weitgehend, und das wünschte ich mir hier als Intelligenz, daß wir schließ- lich den Müll zu verehren lernen; denn höchster Ausdruck der ganzen Problematik unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens kommt in dem Müll zur Geltung, der ja Konsequenzen für das Leben der nachfolgenden Generationen hat. Wir nennen das generell den „strahlenden Müll“. Die Kultur, in der wir jetzt stehen, ist eine Einheit von globalen Problematisierungen und regionalem „Aushaltenmüssen“. Denn global hält keiner was aus. Das sind Finanzströme.

Da gibt es keinen, der leidet. Da gibt es keinen, der Herzschmerzen hat. Nur regional, lokal vor Ort sind Individuen konkret, die darunter leiden,  die die Auswirkungen nämlich spüren, die diese abstrakt-globalen Konzepte entwickeln. Sie haben in der Einheit beider im Grunde genommen nur noch eine einzige wirklich verpflichtende Orientierung. Wenn man verpflichtende Orientierung früher für Kultur und Gott nannte, dann waren das die historischen Perspektiven, die Langzeitperspektiven, die Ewigkeitsstrategien, das Aufdauerstellen. Heute heißt das bequem „Nachhaltigkeit“. Und was ist heute
an der Stelle der Göttervorstellungen allein aus objektiven Gründen für uns getreten? Kontinuitätsstiftung! Zeitstiften! Zeithorizontstiften! Was in anderer Hinsicht, was ist es mehr oder besser als strahlender Müll? Unsere Kultur wird durch Zeithorizonte bestimmt, die keine andere Kultur, oder besser gesagt, Zivilisation je erreicht hat. Tausendjährige Reiche! Das war politisch ein gigantischer Maßstab. In Rom, in Venedig, in Ägypten, in – na, hier bei uns dauerten sie 12 Jahre, aber der Anspruch war da. Tausendjährigkeit! Was ist ein tausendjähriges Reich? Was ist die Ewigkeit einer kirchlichen Institution – selbst Rom hält Weltrekord! – gegen 15.000 Jahre Halbwertzeiten. Die Götter, die wir verehren, die uns Kontinuität der Geschichtsbetrachtung und Orientierung auf die nächsten Generationen garantieren, sind die „Götter des strahlenden Mülls“! Wir müssen ihnen endlich Kathedralen bauen! Wir müssen ihnen Wertschätzungskästchen sozusagen „kathedral“ als Schmuckkästchen präsentieren mitten in unseren Städten, die unser Geschichtsbewußtsein tatsächlich beherrschen, nämlich als einzige, völlig unbestreitbare, transkulturell über allen Glauben hinweggehende Bedingung der Zukunft. Wenn wir uns um das nicht kümmern, was die Folgen unseres eigenen Han- delns sind, nämlich Müll, dann werden wir selbst vermüllt.

Also müssen wir Gott und Müll oder Müll anstelle des Gottes oder Müll in der wirklichen Dimension der Zukunft und zeitstiftenden Größe Gottes sehen, d.h. wir müssen wirklich christlich werden. Das Niedrigste, den Dreck, den Abfall, und das war die Weltsensation des Christentums, schätzen lernen. Einer kam aus dem Müll eines Stalls. Er wurde nicht als Fürst der Welt geboren, nicht in Samt und Seide. Er kam aus dem Dreck. Der Müll ist es, der Dreck, das Kleinste, das Niedrigste, das die Begründung der christlichen Auffassung darstellt. Wertschätzung des objektiv materiellen Nichts, weil die einzige Form der Wertschätzung unser Glaube, unsere Vorstellung ist, die Kraft unserer Ideen, unsere Fähigkeit, „Bilder der Welt“ als Welt zu gestalten.

Also eine wirkliche Christianisierung. Sie müssen sich einmal klarmachen: Christentum heißt Müllverehrung! Und das ist unsere Zukunft und sonst haben wir gar keine.
Ich danke Ihnen für heute und drohe an, bei der nächsten Gelegenheit Sie mit Einzelheiten zu dem Beispiel der Amsivarier zu belästigen.

Vielen Dank!