Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
11.10.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
11.10.1994

Gefesselter Flügel

Zum 20. Juli 1994 wurde eine 10-Mark-Münze aufgelegt, auf deren einer Seite der Bundesadler, das alte Hoheitstier von Papa Zeus und seiner Nachfolger in irdischen Imperien - auf der anderen Seite ein einzelner zusammengefalteter Flügel des gottvollen Tieres zu sehen sind. Und dieser Flügel wird von einer schweren Kette umfaßt. Die Umschrift lautet: "Der deutsche Widerstand 1933-1945 20. Juli 1944."
Selten hat ein heraldisches Zeichen gegen den oberflächlichen Anschein seine verborgene Wahrheit derart offenbart.
Oberflächlich betrachtet, sollte wohl der gefesselte Flügel den verhinderten Flug der großen Gedanken und Taten zur Anschauung bringen; die gestutzten Flügel des wahren deutschen Genius, den die Widerstandskämpfer repräsentierten. Ihnen ist ja die Gedenkmünze gewidmet.
Aber bei einer Widmung hätte die Umschrift wohl lauten müssen: "Dem deutschen Widerstand ... ", anstatt, wie tatsächlich zu lesen: "Der ... " Demnach beschreibt der gefesselte Flügel, was deutscher Widerstand sein sollte und gewesen sein sollte. Statt Kampf gegen die Fesselung durch autoritäre Gewalt: Selbstfesselung; statt gegen die Ketten schlagender Befreiungsversuch: Selbstzähmung und freiwillig auferlegte, wohlweisliche Einschränkung der Machtgesten, der großen Taten und jeglichen heroischen Anspruchs.
Haben wir nicht erlebt, mit welchen grausamen Folgen sich die schranken- und grenzenlose Entfaltung noch so gut gemeinter Konzepte und Projekte der Weltrettung und der Weltverbesserung ins Werk setzten? Ist nicht gerade die Geschichte der europäischen Moderne bestimmt vom Terror aus Tugend, von Kriegen zur Durchsetzung des Guten, Wahren und Schönen, von beliebigen Menschenopfern im Namen ihrer Erlösung aus elendem Dasein und aus peinigenden engen Verhältnissen des kleinen Lebens?
Und muß man nicht vor diesen Opfern verständlichen, aber vergeblichen Strebens nach Größe und Erhabenheit zu der Schlußfolgerung kommen, für die der gefesselte Flügel unserer Gedenkmünze steht, nämlich Widerstand gegen die Tod und Verderben bringenden göttergleichen Kräfte der Ideen zu leisten?
Der aufgeklärte Intellektuelle und Weltbildhauer, der seiner selbst gewisse Künstlerpolitiker, wird sich nicht mehr als an den Fels geschmiedeter Prometheus, als göttlicher Lichtbringer verstehen dürfen. Sie alle, die die Gefährlichkeit ihrer Ideen am besten kennen, sollten darum besorgt bleiben, die Produkte ihrer Phantasien und ihrer Gestaltungskraft unter Kontrolle zu halten.
Statt wie bisher sich als Jahrmarktsattraktion der lebensgefährlichen Entfesselungskunst zur Schau zu stellen, zum Kitzel ihrer erlebnisgeilen potentiellen Opfer, sollten sie es zur Fertigkeit bringen, sich selbst zu fesseln. Das erst wäre, so sagt unsere Münze, die wahre Kraft des Widerstands.
Auch dem historischen deutschen Widerstand wird das Zeichen gerecht, denn es ist ja mehr als zweifelhaft, ob die politischen und sozialen Vorstellungen der Männer des 20. Juli, hätten die denn Erfolg gehabt, dem Glück und der Freiheit der Deutschen soviel förderlicher gewesen wären, als die uns nach 1945 zugefallenen.
Wie auch immer: Ihr Widerstand hätte doch nur darin erfolgreich sein können, den wahnhaften Ideen germanischer Rassenreinheit und großdeutscher Weltmission Fesseln anzulegen, um die Zahl der Opfer wenigstens nicht noch größer werden zu lassen.
Soweit die Männer des 20. Juli ihrerseits diesen Ideen begeistert gefolgt waren, hieß das also, daß sie sich selber hätten fesseln müssen.
Dem Entwerfer der Gedenkmünze ist ein Name in der deutschen Ideengeschichte zu wünschen.