Buch Bilder, die ins Vergessen führen
Wenn China uns folgt, geht das Erinnern verloren
Wenn China uns folgt, geht das Erinnern verloren
Seite 5-7 im Original
Matthias Drescher hat uns als enthusiastischer Zeitgenosse, also als Pathetiker des guten Rats, einen Vorschlag zur Güte gemacht. Was hieße es, die Entwicklung Chinas besser zu verstehen, als die Chinesen selber?
Wir sollten davon ausgehen, dass Dengs Korrektur der maoistischen Zerstörung des chinesischen Kulturverständnisses gerade dadurch gelang, dass er die drei entscheidenden Triebkräfte europäischer Weltherrschaftsanmaßung – Nationalismus, Kapitalismus und Kommunismus – den Europäern entwand. Man empfand es bisher als mirakulös, dass Deng und seine Nachfolger glauben konnten, mit der Übernahme des totalitären Kapitalismus und des fundamentalistischen Universal- wie Nationalsozialismus nicht auch das Schicksal des Westens für die Zukunft Chinas heraufzubeschwören: Durch Erfolg zerstört.
Mit Dreschers gutem Rat können wir den Gedanken akzeptieren, dass die ungeheuerliche Dynamik der chinesischen Entwicklung seit Dengs Widerruf der Kulturzerstörung durch Mao gerade durch das erneute unerschütterliche Beharren auf einer dreitausendjährigen kulturgeschichtlichen Prägung ermöglicht wird. China ist die einzige Kultur, die ohne offenbarungsreligiöse Intervention auskam und auskommt, weshalb dort auch Nationalismus, Kapitalismus und Kommunismus nicht wie im Westen üblich als solche Offenbarungen verstanden werden, sondern als reine Instrumente der Macht der chinesischen Kultur.
2000 Jahre paulinische Christianisierung scheinen zwar auch ein Argument für die kontinuierliche Wirkung einer Idee zu bieten, aber die parallele Entfaltung der chinesischen Kultur nach dem Gelingen der Han-geführten staatlichen Einheit wurde zudem in einer unveränderten sprachlichen Weltorientierung erreicht. Selbst das Lateinische als lingua franca Europas konnte nur partiell Einheit der Weltdeutung bewirken. Können wir trotz der Triumphe der Philologie und Sprachphilosophie überhaupt ermessen, was es heißt, seit der Achsenzeit (500 v. Chr.) das einmal erreichte höchste Niveau der Weltdeutung in konstanter Zeichenbedeutung aufrechtzuerhalten? Gerade in Zeiten globalen Gestotters wird uns bewusst, welche Überlegenheit die Kontinuität der Sprachzeichen über alle opportunistische sprachliche Anpassung darstellt.
Ich vermute auch im Kern der Drescher’schen Sicht die Zuversicht, dass uns die chinesische Usurpation unserer westlichen Allmachtsphantasien dazu anleiten wird, dass im Beharren die Kraft liegt und nicht im läppischen Überbietungswettbewerb nichtssagender Neuheiten.
Mein Fazit im Blick auf Dreschers guten Rat für westliche Unternehmer lautet: China dürfte uns zur Einsicht nötigen, dass geschichtlich wahrhaft nur wirksam ist, was sich nicht ändert. Und für die Überlegenheit der Dauer gegenüber den Neuigkeiten steht das durch Deng wiederhergestellte chinesische Kultur- und damit Machtbewusstsein.
Es deutet sich ja im Westen schon an, dass der Kapitalismus eben nicht eine geoffenbarte Weltreligion ist, die auf Dauer ihre Überwältigungskraft behaupten kann. Fürchterlicher für den Westen als die Botschaft „Gott ist tot“ wird die Einsicht werden „Der Kapitalismus ist tot“. Außer den Naturgesetzen gilt nichts ewig – und im Verständnis der Deng-Chinesen erfüllen sich diese ewigen Gesetze als Natur ihrer Kultur.