Träum’ schön weiter, kleiner Mann!
Die Literaturwissenschaft usurpierte Verfahren zur Erzeugung religiöser Gewissheit, indem sie religio als relegere verstand und somit Literatur als Bestand des immer Lesenswürdigen inaugurierte – mit der stets anstößigen Behauptung eines Kanons der Verbindlichkeiten. Wissenschaftlich an der Literaturwissenschaft war und ist, wie an der wissenschaftlich betriebenen Theologie, dass der Wissenschaftler selber nicht Lesender oder Gläubiger sein muss. Es ist also nicht Häme über heutige Verkommenheit des universitären Betriebs, wenn man darauf hinweist, dass Literaturwissenschaftler kaum belesen sind, Kunstwissenschaftler selten ins Museum gehen oder Theologen keinen Gottesdienst besuchen. Ein Mediziner muss auch nicht selber krank gewesen sein, um zu therapieren. Den Bestand der Literatur, der Theologie, der Medizin als Wissenschaften verkörpern die Bibliotheken und nicht die Leser, die Gläubigen und die Kranken (vgl. Musil, Mann ohne Eigenschaften: General Stumm von Bordwehr besucht die Nationalbibliothek).
Wenn sich in diesem Sinne Wissenschaftler auf das literarische Phänomen der Utopie einlassen, das seit fast 500 Jahren zum Kanon der Denkwürdigkeiten des Konzepts Moderne gehört, dann werden sie nicht der naiven Auffassung zukunftsgläubiger und deshalb tränenseliger Utopisten folgen dürfen. In den romanhaften Träumen von Küchenhilfen, Adressaten von Wahlprogrammen und Konsumenten liefern die Utopien schöne Bilder einer wünschenswerten Zukunft der Individuen wie der Gesellschaften. Man lebt in der Dimension des Wünschenswerten, um den Realitäten zu entgehen, und wird so immer mehr Opfer seiner eigenen Wunschträume. Dies peinlich magere Verständnis von Utopie wird auch nicht substantiell angereichert, wenn man die Utopie – wie heute gern – als Dystopie vorführt, also das Wünschenswerte nur durch das Befürchtete ersetzt. Schon Marx kritisierte solche Vermittlung der Zukunft an die Gegenwart als bloße Kompensation von Ohnmachtserfahrung. Der Verweis auf den historisch etablierten Begriff Utopie ermöglichte es immerhin, den Mangel als Verzicht zu deklarieren. Das erhöht auch den objektiv Ohnmächtigen zu einem Menschen, dessen Würde dadurch bestimmt ist, was er nicht benötigt: „Enthaltsamkeit ist das Vergnügen an Sachen, welche wir nicht kriegen. Drum lebe mäßig, denke klug. Wer nichts braucht, der hat genug.“ (Wilhelm Busch)
Campanella hatte sich in seinem Sonnenstaat noch bemüht, die Utopien als Weltwissen gelten zu lassen, indem er sie als Bestimmung der unerreichbaren Ferne und der niemals verwirklichbaren Projektion verstanden wissen wollte. Das Campanella’sche Utopie-Verständnis wird aber problematisch, wenn unsere Zeitgenossen sich mit dem Projektieren von Projekten zufriedengeben, also ihr Leben vertagen – bestenfalls auf die Zeit nach ihrer Pensionierung. Utopien gleichen dann Lebensbeschreibungen von Coupon-Schneidern und Rentiers (um angemessen im 19. Jahrhundert zu verharren), bei denen es auf nichts mehr ankommt als auf wohliges Phantasieren.
Irrtümer verstehen sich von selbst
Immerhin hat der Wahrheitsfanatiker Platon in seinem Gorgias die Sophisten eines ernsten Blickes würdigen müssen – wahrscheinlich nur, weil der Sophist Gorgias in Athen Massen von Menschen faszinierte, deren Zustimmung viele als Beweis für die Wirksamkeit der sophistischen Philosophie werteten. Ist Wirksamkeit in der Öffentlichkeit tatsächlich mit Nützlichkeit für die Allgemeinheit gleichzusetzen, fragte Platon? Wenn zur Zeit von Gorgias nicht nur die Tagespolitik durch den Zuspruch der Massen bestimmt wurde, sondern sogar Schönheit als das definiert wurde, womit man sich in der Öffentlichkeit sehen lassen kann, dann fürchteten die Platoniker, dass auch Gutheit und Wahrheit vom Zuspruch der Massen abhängig werden könnten.
Die Sophisten drehten den Spieß um und wehrten sich gegen den Absolutheitsanspruch philosophischer Bestimmung von Wahrheit, Gutheit und Schönheit als bloße Unterwerfungskommandos, denn die Feststellung der Wahrheit konnte doch wohl nur die Unterwerfung unter den Wahrheitsanspruch bedeuten. Den Sophisten ging es nicht nur um die immer drohende Proklamation einer Falschheit als Wahrheit, ihnen ging es nicht um die Abwehr von bloßen Ideologien; sie akzeptierten die Wahrheit, um sie, statt sich ihr zu unterwerfen, nützlich werden zu lassen. Reichliche Beispiele dafür boten die Mediziner, die nicht mehr Scharlatane waren, also irgendwelchen Hokuspokus als Heilmittel verkauften. Sie konstatierten vielmehr den wahrhaften Zustand eines Kranken und verstanden ihre Therapie als Kritik an dieser Wahrheit, um sich nicht passiv der Wahrheit zu unterwerfen, sondern die krankmachenden Ursachen zu überwinden, das heißt unwirksam werden zu lassen.
Das Wissen, das die Mediziner zur Therapie als Kritik an den wahrhaft krankmachenden Ursachen heranzogen, stellte das Modell der Gesundheit zur Verfügung, das nur als Modell und nie als faktische Gegebenheit erkennbar ist. Den gesunden Menschen gibt es nicht. Gesund ist nur der, der noch nicht sein Kranksein bemerkt hat. Heute lehrt man die sophistische Auffassung als Gewissheit der Genetik, dass jeder Mensch kaum je gesund, also noch nicht von degenerativen Prozessen erfasst ist. Die sophistischen Ärzte orientierten sich am Begriff der Gesundheit, die faktisch nicht gegeben ist. Gesundheit wurde eine Denknotwendigkeit zur Bestimmung der Grade der Erkrankung wie Unendlichkeit eine Denknotwendigkeit für die Bestimmung von Zeitlichkeit, Göttlichkeit eine Denknotwendigkeit für die Bestimmung des Menschlichen, Jenseitigkeit eine Denknotwendigkeit für die Bestimmung des Diesseitigen ist. Damit überboten die Sophisten die platonische Ideenlehre (Denknotwendigkeit ist die im Alltag wirksame Fassung der Idee) und boten, aus dieser Ironie der Geschichte heraus, dass gerade die Gegner Platons ihn beweisen, dem Aristoteles die Möglichkeit, den Gedanken der Dialektik zu entwickeln.
Der Kanon der Denknotwendigkeiten führte spätestens mit Bacon und Leibniz durch die Mathematik als Theologie der modernen Atheisten zu einem heute noch sinnvollen Gebrauch des Begriffs Utopie:
Utopie ist die Ressource für die Kritik an der Wahrheit.
Utopie und Uchronie – exterritiorial und extemporal
(relegere: Der Autor liest sich selber wieder.)
Neben dem Verweis auf die angesprochenen Begriffsbestimmungen beziehen Utopie-Denker sich immer wieder gern auf den Fortschritt als Überwindung des geschichtlich Gegebenen. Tatsächlich kann der Begriff des Fortschritts aber nur als immer umfassendere und zugleich differenziertere Vergegenwärtigung von Vergangenheiten verstanden werden. Das lässt sich empirisch überprüfen. Für den Bereich der Künste heißt das, die Epochen daraufhin durchzumustern, welche Formen des Präsenthaltens von Vergangenem sie in religiösen, politischen, sozialen und kulturellen Institutionen ihren Zeitgenossen zur Verfügung stellten. D. h. ein modernes Zeitbewusstsein bedarf gesellschaftlich konventionalisierter Verfahren, sich die Vergangenheit als Voraussetzung einer offenen Gegenwart präsent zu halten und nicht mit kindlichem Eifer über die Zukunft zu phantasieren (siehe Nikolaus Himmelmanns Konzept der „utopischen Vergangenheit“).
Im Utopischwerden der Vergangenheit als Wirksamwerden historischer Werke in der Gegenwart entgrenzt sich der Zeitbegriff bis zur Nichtzeit als Zeitlosigkeit. In diesem Sinne wird von zeitlos gültigen Werken gesprochen. Solche Zeitlosigkeit fasst der Begriff der Uchronie. Museen, Archive, Bibliotheken und Akademien sind Orte, die sich ausdrücklich dem Wirksamhalten von historischen Werken in der Gegenwart widmen. Sie sind Ewigkeitszonen, also Repräsentanten der Uchronie. Rechtlich, sachlich und sozial sind solche extemporalen Zonen der gebräuchlichen Exterritorialität von Parlamenten, Botschaften und Heiligtümern gleichgestellt. Sie dienen nicht dazu, das Tote und Abgeschiedene als solches zu klassifizieren, sondern es in seiner Bedeutung für die Lebenden zu aktualisieren. Aufbewahrung im Archiv ist nur sinnvoll, wenn man davon ausgeht, dass das historische Datenmaterial gegenwärtig in Gebrauch genommen wird.
Man hat diese Schöpfung von Zeit als Erweiterung der Gegenwart um die Dimensionen geschichtlicher Zeiten als Chronopolitik gekennzeichnet. In der Tat ist Kulturpolitik in der Einrichtung von Bildungs- und Ausbildungsstätten, von Museen und Hochschulen, in ihrem Kern auf die Produktion von Zeit und Zeiterfahrung als Mittel des Weltverständnisses und der Aneignung ausgerichtet. Historisch denken zu lernen, heißt, die eigene Gegenwart als zukünftige Vergangenheit zu sehen und entsprechend in ihr zu wirken (in genau diesem Sinne bestellten Mächtige aller Zeiten bei Historikern und Malern, Musikern und Architekten Werke, die nach dem Tode, also der realisierten Zukunft des Herrschers ihn in Leben und Wirken präsent halten sollten).
Die Zukunftsorientiertheit der Profanutopisten bleibt kindisch spekulativ, weil nicht gesagt wird, wie denn die Zukunft in die Gegenwart vermittelt wird. In der hier betonten Begründung der Konzepte von Utopie und Uchronie ist Zukunft gegenwärtig als sehr bald fällige Erweiterung der Vergangenheit: Zukunft ist die Vergangenheit von morgen. Als nichts anderes ist sie tatsächlich bestimmbar.
Seit Giorgio Vasaris Viten und dem Geschichtlichwerden von Künstlerbiographien manifestiert sich die Fähigkeit zur Relationierung gegenwärtigen Handelns als zukünftige Vergangenheit in einem neuen Topos oder im Topos des Neuen, der neuen Sicht auf das Vergangene (siehe Avantgardetheorie von Bazon Brock). Das Strukturprinzip der Modernität ist seit Aristoteles an die Topik gebunden. In ihr – wie in allen Nachfolgemodellen der Rhetoriker – geht es um die Verortung der fließenden Zeit in der Zeiterfahrung der Individuen. Um Zeitlichkeit (zum Beispiel als Erzählzeit oder das Prozedieren bei der Erstellung von Urteilen) erfahrbar und nutzbar zu machen, topographierte man seit Aristoteles den intellectus agens, die mens, oder kurz, die memoria, also das Gedächtnis. Um sich in den eigenen Vorstellungen planvoll bewegen zu können wie der Bote auf dem Wege durch die Fremde, beschrieb man das Gedächtnis als eine Landschaft mit in sich geschlossenen auffälligen Gestaltungseinheiten, den topoi, deren Namen zugleich Themen der Erzählung oder der geforderten Gedächtnisleistung ausmachten. Mit der Verbreitung von Wissen über gedruckte Bücher verwandelten sich für die Humanisten des 16. Jahrhunderts (zum Beispiel für Erasmus) die Gedächtnisverortungen in Nichtorte, in U-topoi, die nicht mehr auf einzelne Träger des Gedächtnisses angewiesen sind. Die utopische Auffassung von Ideen, Themen und Methoden gehört zu den Optimierungsstrategien von Modernität. Die Moderne war utopisch, insofern ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse und deren Anwendung nicht mehr auf individuelle Urheber, auf deren Kulturlandschaft und auf regionale Besonderheiten fixierbar blieben, sondern sich grenzenlos, ja bedingungslos für die gesamte Menschheit zur Geltung bringen konnten.
Die systematische Verselbständigung des Wissens und seiner Funktionalisierung führte zu einer Entgrenzung der Räume bis zur beklagten Ort- und Heimatlosigkeit des modernen Menschen. Wir können heute dieses Utopischwerden der Welt gut nachempfinden in dem vergeblichen Versuch der Reisenden, von der Örtlichkeit ihres Aufenthalts noch durchschlagende Unterscheidungen ihrer Wahrnehmung und ihres Handelns abzuleiten. Wenn alle Zentren moderner Städte auf der ganzen Welt hohe Ähnlichkeit kennzeichnet, wenn die dort verwandten Technologien, die Produkte, die angebotenen Hotels voneinander kaum noch zu unterscheiden sind, manifestiert sich der utopische Charakter der durch Selbstbezüglichkeit optimierten Moderne (vergleiche das Konzept der „reflexiven Moderne“ bei Ulrich Beck). Die angemessene Verwendung des Begriffs Utopie als ein Nirgendwo erweist sich, wie historisch angelegt, als ein tatsächliches Überall. Und das hat sich für die erste Phase des 20. Jahrhunderts, in der das Prinzip Modernität reflexiv gesteigert wurde, auch tatsächlich erwiesen. Unterschiede im Grade der Modernität lassen sich nur noch durch Zeitschöpfung ausmachen.
Eine erste Ausbildung von Uchronie als Zeitschöpfung der Zeitlosigkeit verdanken wir Louis Sebastien Mercier, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Romanhandlung in das Jahr 2040 verlegte. Mercier ging es um die Frage, was aus utopischen Projekten wird, wenn man sie realisiert, also verortet bei gleichzeitiger Annahme eines anthropologisch konstanten Verhaltens der Menschen. Uchronisch, zeitlos in Geltung, sind dabei alle Annahmen, die Menschen für selbstverständlich halten, in die sie bereits hineingeboren werden, und die auch unter wunschgetriebenen Annahmen gesellschaftlicher, technischer, politischer Entwicklungen sich nicht verändern (zum Beispiel als Kategorien der Anschauung, der Orientierung in Raum und Zeit).
Die Natur des Menschen ist uchronisch, sie wird von historischen Prozessen nicht tangiert, und demzufolge bleiben auch die religiösen oder philosophischen Grundorientierungen auf Gott oder Natur erhalten.
Hundert Jahre nach Mercier entwickelte Charles Renouvier expressis verbis die Uchronie als Topos der Geschichtsschreibung. Er überlegte, welche Entwicklung die Geschichte genommen hätte, wenn in den Vergangenheiten etwas anders gelaufen wäre, als es gelaufen ist. Die Frage ‚Was wäre, wenn...?’ fasst aber nur einen Teilaspekt des Uchronischwerdens von Geschichte. Im Präsentismus, der allgegenwärtigen Zeitlosigkeit, kommen zu den Aspekten der Uchronie, die seit Mercier erörtert wurden, weitere hinzu. Zum Beispiel die Erfindung des Kredits, mit dessen Hilfe gegenwärtig Produkte geschaffen werden können, die erst in Zukunft ökonomisch wirksam werden. Mit dem Kredit vergegenwärtigt man also Zukunft als zukünftige Vergangenheit - denn man geht, zumal im Kapitalismus, immer davon aus, dass alle wirtschaftliche Zukunft nur in der Gegenwart geleistet werden kann.
Die Einmaligkeit der Jetztzeit als Gegenwart wird zu der Erfahrung von Jederzeit.
Wie sich die Utopie als Nirgendwo im Überall manifestiert, so erweitert sich Uchronie des Niemals, der Beginnlosigkeit, zum Immer, in jedem Augenblick. Zu leben heißt nicht, sich in die Zukunft zu projizieren, sondern eine Vergangenheit zu erschaffen, als das, was nicht vergeht. Wenn es verginge, hätte man ja keine Vergangenheit.