Buch KE Carius: Maieutisches Stöhnen
Über ästhetische Bildung. Ein Fall von Design-Poetik
Mit einem Essay von Bazon Brock und einem Epilog von Ralf Schnell. Ein ATHENA-Titel bei wbv Publikation
Über ästhetische Bildung. Ein Fall von Design-Poetik
Mit einem Essay von Bazon Brock und einem Epilog von Ralf Schnell. Ein ATHENA-Titel bei wbv Publikation
Seite 54-59 im Original
Vom Objektfetischismus zur Gestaltpoesie im Rausch der Dinge
So selten wie nie begegnete dem Welthungrigen zwischen Gegenwartsfreude und Zukunftswillen ein Angebot wie das des Lehrkünstlers Karl-Eckhard Carius. Er unterbreitete es an der Universität Vechta seinen Studierenden und der republikanischen Öffentlichkeit unter dem Titel »Dichterisch wohnet der Mensch. Ein Hölderlin-Projekt«. Carius leitete alle Interessierten an, eine designerische Entsprechung zum Hölderlin-Gedicht »In lieblicher Bläue« zu geben. Das geschieht, wenn man vom Gedanken her den Dingen Gestalt des Lebendigen zu geben vermag. Herkömmlich kennt man dieses Wirksamwerden der verlebendigten Dinge als Talisman, Amulett, Fetisch oder Souvenir. In herkömmlichem Design-Verständnis meint das, Möbel der Meisterentwerfer als Wohnfetische zu benutzen.
Jüngst veröffentlichte in brillanter literarischer Fassung der Kunsthistoriker Paul B. Franklin, »independant scholar and a leading expert on Marcel Duchamp«, seine grandiose Studie »Marcel Duchamp and the Fetish« bei Thaddaeus Ropac Salzburg-London-Paris-Seoul. Franklin hebt ab auf Duchamps Orientierung an eroticism, statt an Schulen und Stilrichtungen der bildenden Kunst. Auf dieser Basis bestimmt Franklin sehr erhellend die Objektcharaktere der Duchampschen Arbeiten als Fetische. Aber der Fetischbegriff ist durch seinen freudianischen Gebrauch sehr stark sexualpathologisch gestimmt, will sagen, dass das Objekt an die Stelle eines Subjekts tritt. Das heißt, das Objekt tritt an die Stelle eines Subjekts. Der Fetischist vermeidet das Risiko des Scheiterns seiner gewünschten Beziehungen, indem er sein Begehren von den Personen weg auf ein sie repräsentierendes Objekt ableitet und schließlich nur noch auf der Objektbeziehung beharrt. Dabei büßt er einen wesentlichen Teil seiner menschlichen Dispositionen ein, denen zufolge ein Mensch sich nur in Bezug auf andere Menschen verstehen kann. Der Fetisch wird so als ein Hinweis auf defizitäre psychische Energien bestimmt. Das ist das Gegenteil zur Arbeit von bildenden Künstlern, die das Ding durch Gestaltung zu einem Erkenntnismittel/cognitive tool werden lassen. Diese Übertragungsenergie, die nicht aus dem Defizit der Unerfülltheit entspringt wie beim Fetisch, sondern aus dem Enthusiasmus wirkungsuchender Kraft nennen wir Poetisieren. Statt um das Fetischisieren der Objekte geht es in künstlerischer Hinsicht also um das Poetisieren der Dinge.
Warum betonte nicht nur Duchamp mit seinem Begriff des Erotizismus die Sphäre der Sexualität und ihrer Erscheinungsformen als höchst bedeutsam für alle Künstler? Die Antwort ist so einfach wie bedeutsam: Die Sexualität wird getragen von der engsten Verbindung zwischen Psyche und Soma, zwischen Seele und Leib oder Bewusstsein und biochemisch-elektrischer Lebendigkeitsäußerung des Körpers. Die Sexualität geht gerade nicht von den Genitalien aus, sondern von unseren Genialien, speziellen Leistungszentren des Gehirns. Andererseits wirken die Erscheinungsformen von Genitalität so stimulierend auf die Genialien wie sonst nur noch die Orientierung auf Nahrungsmittel oder Feinde und Konkurrenten.
Die Psychosomatik der Sexualität sollte man besser pornografisch nennen, wobei mit pornos die Nacktheit, die Genitalität, und mit graphein die gedankliche, gestalterische Arbeit, die Genialität, gemeint wird, die den latenten sexuellen Impuls in manifeste Formen überführt. Alle Bildwirkung, alle Gestaltwirkung ist pornografisch, weil sie aus dem Ansehen, aus dem Anblicken ein Einsehen, ein ein Einwirken, ein Eindringen als Verinnerlichen erreicht, das sich als Erleben und Handeln ausdrücken muss. Und jedes Lebendigsein ist auf das Ziel ‚Erleben und Handeln‘ gerichtet, weil für das lebendige System der Austausch, der Stoffwechsel mit seiner Umgebung existentiell ist. Noch vor der Befriedigung durch Nahrungszufuhr erreicht die Sexualität in der fundamentalen Einheit von Psyche und Soma den höchsten Grad der Selbstergriffenheit des Lebendigen, also der Selbstwahrnehmung als lebendiges Wesen.
Im Projekt „Dichterisch wohnet der Mensch“ ging es um solche Stimulierung höchster Aktivität des Denkens als Gestaltgebung zur Steigerung der Lebendigkeit der Menschen. Für die Wortsprache ist das, wie gesagt, als Poetisieren (bei Novalis noch Romantisieren genannt) eingeführt, für das Design geht es also um die Entwicklung einer Gestaltpoesie.
Bei Novalis heißt es: „Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzierung. (...) Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“
Gegenwärtig ist das Programm der Jenaer Konferenz von 1800, das Novalis mit obigen Sätzen protokolliert, am besten erinnerlich in einer Fassung, die Brecht ihm gab. Die Brechtsche Verfremdungsstrategie demonstriert – zum Beispiel auf der Bühne vor aller Augen – das Bemerkenswertwerden, das Interessant- und Faszinierendwerden banaler Alltagsobjekte und -handlungen. Brecht stellt die alltäglichen Dinge und Themen in einen anderen Kontext, gibt ihnen einen anderen Namen oder er fasst sie mit anderen Begriffen als den gebräuchlichen. Die Bühne kennt generell sehr leistungsfähige Verfahren, etwas in ein geheimnisvolles Licht zu tauchen oder in unerwarteter Perspektive zu zeigen beziehungsweise märchenhaft die Erscheinung zu verwandeln. Diese üblichen Verfahren des Romantisierens schienen Brecht jedoch so ausgelaugt, dass er mit Themenwechsel als Ortsveränderung, abruptem Verkehren der Gemütszustände oder eben durch Begriffscollagen nach dem Muster der Jahrmarktsunterhalter glaubte, intensiver auf das Publikum einwirken zu können. Und sicherlich wird jeder das Zentrum der Jahrmarktszauberei eines Copperfield oder der Begriffszauberei eines Heidegger als den Moment erleben, in dem etwas Gegebenes sich in nichts verwandelt, oder umgekehrt, in dem aus dem Nichts Erscheinungen geboren werden. Das Verschwinden von Phänomenen stimuliert in höchstem Maße die Einbildungskraft. „Es ist nicht eigentlich Suchen, wenn man schon weiß, wo es ist. Es ist nicht eigentlich Finden, wenn man es gar nicht vermisst...“, so der Bruderdichter als Anleitung zu einem erlebnisgesteigerten Alltag.
An besagter Jenaer Konferenz zum Jahreswechsel 1800 nahm auch Friedrich Hölderlin teil. Seine Anleitung zur Verzauberung der Welt ist sehr viel umfassender als die von Novalis, denn ihm gelingt die ständige Verwandlung von Erscheinungszauber und Verschwindensimpression zwischen Fata Morgana/Phantasmagorie und Bemächtigungsstimulierung/Warenwerbung. Das Verschwinden bestärkt den Impuls, sich eines Dings zu bemächtigen und die gelungene Aneignung führt zu Enttäuschung (heute Wegwerfen genannt).
Die Gruppe Carius simulierte mit ihrem Ausstellungsaufbau das heute noch touristisch höchst attraktive Angebot, in Tübingen an den Ufern des Neckar das Haus des Schreinermeisters Zimmer zu besuchen, dessen frühes baugeschichtliches Zentrum ein Turm ist. In diesem Turmbau mit einem kleinen Garten lebte Hölderlin von 1807 bis zu seinem Tod im Jahre 1843. Dort hat er die poetische Verdichtung „Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde“ verfasst. Alle dort entstandenen Texte werden seit 100 Jahren als Turmgedichte von höchst konzentrierter Wortmagie bestaunt wie die Texte der Vorsokratiker, die Merseburger Zaubersprüche oder die Texte der deutschen Mystiker von Meister Eckhart bis Heidegger. Die Carius-Gruppe exponiert den Turm so, dass er, auf schwankendem Boden stehend, für die sich im Turminneren bewegenden Besucher zu schweben scheint – mit der Folge der Destabilisierung der Weltorientierung. Im oberen Teil bieten sich dem Aufblickenden Lichtimpressionen mit imaginierter akustischer Übersetzung (wie man beim Blitzen den Donner taxiert).
In diesem Turm wohnte eben Hölderlin dichterisch, das heißt in den sprachlichen Äußerungen, in den Gedanken, in den Bildern und Visionen, die die dort entstandenen Gedichte kennzeichnen. Denn der Mensch lebt nicht in Ziegelsteinen, sondern in Gedanken. Dichterisch wohnen heißt also, das Denken, das Memorieren, das Imaginieren, das Projektieren als Lebensausdruck über die Sicherung der physiologischen oder sozialen Existenz zu stellen. Aber die entscheidende Frage bleibt: Wie manifestieren sich dann die Gedanken über das Gedicht hinaus im Dasein? Herkömmlich glaubt man, dass Souvenire, Talismane oder Amulette die Vermittlung auf das Dasein leisten – mit der leider falschen, aber naheliegenden Annahme, dass die Wirkung aus den Dingen komme. Das Souvenir des Eiffelturmbesuchs verweist nur auf den Besuch, verkörpert ihn aber nicht. Amuletten oder Talismanen sind ihre Wirkungen durch Weihung zugesprochen worden. Das heißt, erst die Beschwörung schafft die Wirkung, nicht die physische Materialität der Dinge. So arbeitet die Werbung etwa für gemütliches Wohnen. Die Werbesprüche sollen den Eindruck vermitteln, dass die gekauften Möbel den Käufern Lebensfreude, Freiheitsgenuss oder Eleganz bieten. In Wahrheit aber sind Freiheitspathos, Lebensfreude etc. allein Leistungen der die Möbel nutzenden Menschen, nicht der Möbel selbst.
Die Ausbildung zum Designer fordert in diesem Verständnis, jemanden zur poetischen Gestaltgebung anzuregen, also eigenständig die Form zur Gestalt zu erhöhen. Gestalt, weltweit nur mit dem deutschen Begriff ausgewiesen, bezeichnet die Einheit von materieller Formgebung und geistig entfaltbarer Wirkungsabsicht. Hölderlin drückt den hier gemeinten Unterschied in „In lieblicher Bläue...“ von 1808 sehr klar aus:
„Wenn einer in den Spiegel siehet, ein Mann, und siehet darin sein Bild, wie abgemalt; es gleicht dem Manne. Augen hat des Menschen Bild, hingegen Licht der Mond. Der König Oedipus hat ein Auge zuviel vielleicht ...“
Die Auffassung, Wirkung stamme aus dem Amulett selber, vermondet es. Das Amulett selbst hat keine Wirkung – wie der Mond kein Licht. Der Mond reflektiert nur das Licht der Sonne, das Amulett nur das Licht des Geistes, ohne selber wirksamer Geist zu sein. Aber der dichterisch Wohnende belegt in seiner Augen Blick die Anwesenheit des Geistes selbst. Wie wir alle aus Kindheitstagen wissen, kann man dabei leicht überinterpretieren und im Auge schon den Zugang zur Tiefe des Wesens, zur Seele eines Menschen finden wollen. Wer so verfährt, hat ein Auge zu viel wie König Oedipus – mit fatalen Folgen. Dagegen schützt die Fixierung im Bild, am besten im Portrait. Es ist nur Objekt, aber mit stimmigem Verweis auf den Geist des Porträtierten. „So sehr einfältig aber die Bilder, so sehr heilig sind die, daß man wirklich oft fürchtet, die zu beschreiben. (...) Der Mensch darf das nachahmen. Darf, wenn lauter Mühe das Leben, ein Mensch aufschauen und sagen: so will ich auch sein? Ja.“
Präziser als der Poet Hölderlin beschreiben auch die Neurophysiologen oder die Phänomenologen nicht die Verpflichtung der Menschen auf Verkörperung des Geistes, heute Embodiment genannt. In Bildern, in Zeichen, in Sprachen vermitteln wir einander die geistige Arbeit und glauben nach Hölderlin natürlicherweise, dass wir dieses Sprechen, Musizieren und Malen nachahmen können, um auf gleiche Weise geistig tätig zu sein, wie diejenigen, deren Ausdrucksweisen wir nachahmen. Das anzubieten und nachzuahmen wie zum Beispiel in der Lehre ist „voll verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde“. Es gilt also nicht nur, die Vorgaben der anderen nachzuahmen und anzuwenden, sondern es gilt, sie eigenständig mit poetischer, also verlebendigender Kraft mit Sinn zu erfüllen. Denn merke: Nach dem Kern der christlichen Theologie musste Gott Mensch werden, aber damit wurde der Mensch nicht Gott, sondern ein „Bild der Gottheit“.
Im wesentlichen aber war das lehrkünstlerische Angebot von Karl-Eckhard Carius an die Studierenden der Versuch, sie zum Lesen des Hölderlinschen Turmgedichts „In lieblicher Bläue“ anzuregen. Das ist auch der Sinn dieses Beitrags, weswegen wir die bis hierhin gefolgten Lesenden bitten, sich auf den jetzt folgenden gesamten Text [Friedrich Hölderlin: In lieblicher Bläue, S. 64 ff.] zu konzentrieren und dann eigenständig auch in Zeiten weiterzuarbeiten, da „das Lachen aber scheint mich zu grämen der Menschen, nämlich ich hab’ ein Herz“. Zwar reißt uns alle „das Ende von etwas dahin, welches sich wie Asien ausdehnet“! Aber „Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben.“
Wer die gestaltpoetischen Fähigkeiten von Carius kennenlernen will, sollte sich neben dem vorliegenden Band „Maieutisches Stöhnen“ auch den im Distanz-Verlag 2018 erschienen Katalog „Carius #68+. Im Labyrinth der Ereignisse“ vornehmen. Alles staunenswert.
Apropos „Maieutisches Stöhnen“: Die Lesenden dürfen auf das Stöhnen der erfolgreich Gebärenden durchaus mit Freudenrufen antworten. Ihr Ruf mag lauten: Karl-Eckhard Carius ist bestätigt als einer der einfallsreichsten Lehrkünstler der bundesrepublikanischen Hochzeit.
Zum maieutischen Stöhnen nur soviel: Die Mutter des Sokrates war Hebamme. Die griechische Bezeichnung Maieutik für Hilfestellung beim Hervorbringen durch Gebären übernahm Sokrates für seine Methode. Er bot seinen Zeitgenossen an, ihnen bei geistigen Geburten zu assistieren.
Buch · Erschienen: 2017 · Herausgeber: Schnell, Ralf
Buch · Erschienen: 2017 · Herausgeber: Schnell, Ralf