Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
02.07.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
02.07.1994

Bürger von W.

Auf Wiedersehen, Herr Bundespräsident, Sie waren uns allen eine Ehre. Niemand hätte die Rolle besser ausfüllen können als Repräsentant aller Bürger. Aber eines ist die Rolle und etwas anderes die Positionen des Bürgers von Weizsäcker. Mit einem Präsidenten kann man nicht argumentieren, ihn muß man akzeptieren - mehr oder weniger vorbehaltlos. Jetzt aber kann die Diskussion mit dem Intellektuellen von Weizsäcker beginnen - mit Lust hoffentlich und ohne die Last des Amtes.
Denn alle Amtsträger beklagen, daß ihnen die Freiheit der Argumentation genommen werde, daß sie nicht könnten, was sie eigentlich wollten und tun müßten, solange sie im Amt seien. Ist das eine vorgeschobene Selbstentlastung wie in der Redensart, hinterher sei man immer klüger? Ist es der Ausweis von Amtstauglichkeit, das persönlich für richtig Gehaltene im Amte hintanzustellen und sich von Erwartung der Klientel leiten zu lassen?
Zum Abschied aus dem Amt sagten Sie diese Woche dem Spiegel: "Wer die ganze Zeit im Westen gelebt hat, tut gut daran, sorgfältig auf Friedrich Schorlemmer zu hören." Besagter Schorlemmer tat aber noch vor kurzem kund: "Die Beunruhigung der Bürger nach rückwärts bindet Kräfte, die zur Gestaltung der Gegenwart benötigt werden. Wer immer mehr Verstrickungen aufdeckt, zwingt immer mehr Menschen, sich mit der furchtbaren Vergangenheit zu beschäftigen."
Schorlemmer empfindet das als eine Gefährdung des sozialen Friedens in der Republik. Eine Auffassung, die der von Ihnen angemahnten "gemeinsamen Verantwortung für die Vergangenheit und des gemeinsamen Lebenswillens, die Probleme der Gegenwart und Zukunft anzupacken", wohl doch widerspricht. Empfahlen Sie uns, auf Schorlemmer zu hören, noch aus der Verantwortung des Amtes für die Ost-West-Versöhnung, obwohl Sie mit seinen Behauptungen gerade nicht übereinstimmen können?
Wie sollen wir andererseits wissen, ob nicht auch Ihre Behauptungen einer gemeinsamen Verantwortung für die Vergangenheit etc. nur amtlich, nicht aber als persönliche. Auffassung verstanden werden sollen?
Sie sagen: "Es sind geistige Gründe, die die Nation bilden und nicht äußere Merkmale wie Hautfarbe und noch nicht einmal die Sprache". Ist das, was unsere Vergangenheit genannt wird, geistiger Natur? Sind Tod und Trümmer geistige Sachverhalte, deren äußere Merkmale nicht zählen?
Kann man den Geist und seine Verkörperung so voneinander trennen, wie Sie den Angehörigen einer Nation von dessen Hautfarbe oder Sprache trennen - von seiner sozialen und wirtschaftlichen Position, also von Merkmalen, die ganz wesentlich seiner Verstrickung und damit Verantwortung für die Vergangenheit zugrunde liegen?
Neben der Verantwortung nennen Sie, wenn ich richtig gelesen habe, nur noch einen weiteren "geistigen Grund", nämlich "unser nationales Interesse" resp. "unsere Interessen und Verpflichtungen", nach denen wir Zuwanderung und europäische Integration regeln sollten. Ist die
Verwendung dieser Begriffe von der Erwartung der Bürger an den Bundespräsidenten geleitet, oder versteht sie sich für den Intellektuellen von Weizsäcker gleichsam von selbst?
Sie sagen: "Gefährlich wäre nur der Appell an ein Nationalgefühl mit dem Ziel, sich vom Außen abzuschließen." Wenn das ein Argument sein soll, bleibt dagegenzuhalten, daß jede Berufung auf "unser Interesse", "unsere Nation", "unser Volk" und "unser Land" zwangsläufig eine Ausgrenzung bedeuten muß, was ja auch alle nationalistischen Diskussionsverweigerer für sich reklamieren, aber eben auch Vertreter der Ostdeutschen wie Schorlemmer und - mit Verlaub - unser bisheriger Bundespräsident, der von Amts wegen den Eindruck vermitteln mußte, es gelte, die Vergangenheit, die Verantwortung und die Interessen nur zurechtzurücken, sie richtig zu definieren, um ihnen zu genügen. Wenn man mit diesem wohlverstandenen Nationalinteresse etc. aber außerhalb bloßer geistiger Begründungen praktisch handeln soll, merkt man, daß der Geist zwar willig, das Interesse der Menschen aber kaum veränderbar ist.
Wenn man den Menschen über diese Interessen hinaus zukünftig noch etwas Gemeinsames zugestehen kann, dann nicht die Gemeinsamkeit der politischen oder religiösen Bekenntnisse, nicht die Gemeinsamkeit der Nation, der Rasse, der ethnischen Zugehörigkeit, sondern die gemeinsame Orientierung auf Probleme, für die keiner eine Lösung weiß, weil sie prinzipiell unlösbar sind, wie alle tatsächlich bedeutenden Probleme.
Darf man hoffen, daß der BÜrger von Weizsäcker dazu beitragen wird, solches Problembewußtsein zu stärken, anstatt wie der Bundespräsident von Weizsäcker den problematischen Umgang mit der Nation und der Vergangenheit nur gegen einen unproblematischen, allseits akzeptierbaren, noblen, großzügigen, humanitären zu ersetzen?