Buch Kürzeste Besucherschule d15 von Bazon Brock, Denker im Dienst der Polemosophie

Der Fluch der guten Tat. Kulturalismus erledigt die Kunst

Der deutsche Aberwitz zitiert gern eine altgriechische Weisheit: "Der Krieg ist der Vater aller Dinge!" Gemeint ist bei Heraklit aber nicht der Krieg, sondern das Streiten, das Polemisieren, das Pointieren von Behauptung und Gegenbehauptung. Polemosophie ist also augenöffnende Polemik. Wie weit die Deutschen von der griechischen Autorität entfernt sind, sieht man daran, dass von allen Halbgebildeten "Polemik" als abwertender Begriff gebraucht wird.

Vorabdruck (Auszüge) in der Süddeutschen Zeitung vom 1.07.2022.

Erschienen
18.07.2022

Verlag
Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
978-3-7533-0307-9

Umfang
32 S.

Seite 24-26 im Original

Bazon verweist auf ein paar Grundvoraussetzungen für ein begründetes Sprechen und Urteilen zur Klärung von Fragen, die das documenta-Debakel aufwirft:

Techné und ars bedeuten nicht Kunst

Selbst in ihrer Zeit hochüberlegene Kulturen wie die der Ägypter, Babylonier, Perser, Chinesen, aber auch der Griechen und Römer kannten den Begriff Kunst nicht, ja nicht einmal den Begriff Individualität als Anspruch eines einzelnen Menschen, Träger von Freiheitsrechten zu sein. Selbst die griechische techné oder die römische ars bezeichnen nur das Wissen von einzelnen Menschen, wie man etwas richtig macht in den Augen der sie beauftragenden Kulturkollektive. Mit Kochkunst und Kriegskunst ist diese Position heute noch bei uns gegenwärtig – ohne jeden Kontakt zur Begriffsbestimmung Kunst, wie sie im Westen vor 600 Jahren entwickelt wurde.

Ruangrupa hat versäumt, die Begriffe Kunst und Kultur, die für ihre Entscheidungen gelten, vorzugeben. Wenn sie den westlichen Begriff Kunst übernehmen, hätten sie auch dementsprechend Kunst präsentieren müssen. Sie zeigen kaum Kunst, sondern kulturelle Praxis von vielen sozialen Aktivisten, darunter nur sehr wenige Künstler. Am verwirrendsten wirkt, dass Ruangrupa sich in keiner Weise auf Künstleraktivitäten im Konzept „Kunst als soziale Strategie“ oder „Soziale Plastik“ der früheren documenta-Ausstellungen beziehen, darunter weltweit so bekannte wie Beuyssens „100 Tage der Freien Internationalen Universität“ oder „7000 Eichen“. Mit keinem Wort wurde auf die möglichen Bezüge zu den documenta-Themen „Ausstieg aus dem Bild“, „Wirklichkeit in Bildwelten heute“, „Wie entsteht Bedeutung?“ etc. eingegangen. Dieses ostentative Verschweigen darf man nur als Eröffnung eines Kulturkampfes sehen, in dem der „globale Süden“ sich mit dem Anspruch auf Neuheit über alles hinwegsetzt, was der Westen seit 120 Jahren im Kunstbereich demonstriert hat.

Eurozentrismus, Diktate des Westens?

Diese Sonderstellung als Eurozentrismus abzuweisen, ist kenntnislos, weil Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in Europa von Europäern gegen Europäer erst erkämpft werden mussten. Rationalität, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit mussten auch von Europäern gegen Europäer blutig in Europa erfochten werden. Der Eurozentrismusvorwurf ist heute Kernbestand totalitär fundamentalistisch behaupteter Herrschaft. An die Stelle individueller Verantwortlichkeit setzt sie die Macht der Kulturkollektive. Aus der westlichen Selbstkritik unter dem Programmtitel „Das Unbehagen in der Kultur“ wurde in fundamentalistisch-totalitären Regimen das verordnete „Säuische Behagen in der eigenen Kultur“.

Das wird mit der programmatischen Durchsetzung von indonesischen Begriffen für Palaver, gemeinsames Abhängen und Nachhaltigkeit demonstriert. Das sind schlicht Ausbeutungsverfahren; der Antikolonialismus rächt sich durch Ausbeutung des Westens.

Mit Beelzebub den Teufel austreiben

Erstaunlich: Selbst die radikalsten Vorwürfe gegen die westlichen Konzepte werden von den nichtweißen Antikolonialisten und Antiimperialisten mit denselben technischen, ökonomischen und ideologischen Mitteln erhoben, die die weißen angeblichen Herren der Meere und Länder in die Welt gesetzt haben. Eine glänzende Ikone dieses Sachverhalts ist der fundamentalistische Prediger, der mit Kamera und Mikrofon über die sozialen Medien den Teufel der technischen Rationalität des Westens austreiben will.

Was heißt kulturelle Identität?

Für sich eine Identität zu behaupten, heißt, sich von anderen zu unterscheiden. Um das zu ermöglichen, muss man wissen, wovon man sich unterscheidet. Also erzwingt die Behauptung von kultureller Identität die Kenntnis der anderen Behaupter von Identitäten. Zu wissen, wer die anderen sind oder sein wollen, verlangt sehr viel Kenntnis, die man nur mit Mühen erwerben kann. Diese Mühen konnten sich zum Beispiel die Deutschen in den zurückliegenden 200 Jahren kaum zumuten, weil das bedeutet hätte, stets die kulturelle Identitätsbehauptung der Polen, der Tschechen, der Ungarn, der Österreicher, der Schweizer, der Lothringer etc. im Sinn zu haben, wenn man von sich als Mitglied der Kulturnation Deutschland Kunde gab. Da lag es nahe, die Hegemonie, die Dominanz der deutschen Kulturnation mit aller Kraft, sogar mit Kriegen, durchzusetzen. Richtig verstanden, und darauf sind alle Anstrengungen zur Vereinigung Europas gerichtet, ist gerade die wechselseitige Anerkennung der kulturellen Differenzen das einzige unverbrüchliche Fundament der Gemeinsamkeit.

In keinem Beitrag der diesjährigen documenta wird auch nur andeutungsweise auf das Bezug genommen, wovon sich die Aktivisten unterscheiden wollen. Umgekehrt haben die Westler stets mit größter Bewunderung auf die Leistungen etwa der indigenen Gestalter von Objekten der Kulturrituale in Afrika, Ozeanien oder Südamerika reagiert.