Radiobeitrag Deutschlandfunk

Erschienen
21.06.2022, 17:44 Uhr

Sendung
Kultur heute

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

Documenta 15 ist die „Re-Fundamentalisierung der Kunst“

Michael Köhler: Ist das eigentlich die erste in Teilen antisemitische documenta, die Sie erleben?

Bazon Brock: Nein, das glaube ich nicht, der Antisemitismus ist nur ein kleiner Teil des Kulturalismus. Und die documenta zeigt ja triumphal und damit also auch als ganz große demonstrative Leistung, was gegenwärtig in der Welt der Fall ist. Nämlich von Erdogan über Putin bis zu Xi in all diesen totalitär regierten fundamentalistischen Regimen wird die Front des Kulturalismus gestärkt. Das heißt, auch im Westen übernimmt man nun die Führerschaft von Kulturen und ihrer Herren gegenüber der Kunst. Das heißt, es wird auch im Westen nur noch das Kollektiv der Kulturen anerkannt. Es gibt nur noch Entscheidungen aus den Legitimationen des Kulturkontextes, vor allem der politischen Korrektheit innerhalb der Kulturen. Jede individuelle Äußerungsform, jede Autorität durch Autorschaft, die das Prinzip der westlichen Intellektuellen, der Schriftsteller, Philosophen und Künstler gewesen ist, wird ein für allemal liquidiert. Die jetzige documenta ist ja nichts anderes als eine Versammlung solcher kulturalistischer Formen. Überall heißt es: Macht keine Kunst, sondern schafft Freundschaft, hängt miteinander ab, habt eine gute Zeit und polemisiert, wie immer ihr wollt, im Namen eurer kulturellen Identität. Nur wird dabei geflissentlich vermieden zu sagen, was eigentlich kulturelle Identität sein soll. Es bleibt einfach nur ein Herrschaftsgestus übrig, nämlich: die Kultur siegt endgültig über das europäische Prinzip der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, das über 600 Jahre existiert und enormen Weltkenntnisfortschritt gebracht hat. Damit ist es jetzt zu Ende und die documenta ist sozusagen ein triumphales Zeugnis für das Beenden der westlichen Idee von Autorität durch Autorschaft, das heißt von Menschen, hinter denen nichts steht, keine Bank, kein Papst, kein Militär, keine Kultur, kein gar nichts und die trotzdem angehört werden, weil das, was sie sagen, interessant und von Wichtigkeit ist. Alle diese Leute haben noch nicht kapiert, was überhaupt die Kunst und die Wissenschaft für einen Wert darstellen. Es geht im Kern um Folgendes: Dass Regierungen, Kirchen, Militärs Autorität haben kraft ihrer Durchsetzungsfähigkeit, das ist doch wohl allen klar. Damit haben alle Kulturen aller Zeiten gerechnet und gelebt. Erst der Westen entdeckt vor 600 Jahren, dass es auch eine überzeugende Autorität von Individuen gibt, hinter denen gar nichts steht, jedenfalls keine Macht. Die Sensation des europäischen Entdeckermuts der Künstler und Wissenschaftler war es, anzuerkennen, dass es nicht nur kulturelle Legitimation durch Kollektivbeschlüsse gibt, sondern Autorität durch die Autorschaft, das heißt, durch die Fähigkeit eines einzelnen Menschen, hinter dem keine Macht steht, Welterkenntnis zu eröffnen und beispielhaft zu zeigen, wie ein Individuum sich in der Welt gegenüber dem Überdruck der Macht der Kollektive, der Machtkomplexe von Kapital bis Kirche behaupten kann. Und das wird jetzt beerdigt, wie die Paten Erdogan, Xi und Putin bezeugen. Warum führt Putin Krieg? Er hat doch hier, wenigstens auf der documenta schon gesiegt. Die documenta 15 entspricht genau der Weltlage – und das zu erreichen ist, eine große Leistung.

MK: (…) Von Kunstkollektiven haben Sie noch nie etwas gehalten. Ich glaube, Sie gehen noch weiter und sagen: Das ist sogar das Ende der Kunst.

BB: Ja, das ist es. Das ist in der Tat absehbar und das ist absichtlich so gemacht worden. Es hieß lange Zeit, diejenigen, die das Kollektiv Ruangrupa zur documenta-Leitung berufen haben, demonstrierten nur ihre fehlende Bildung, sie seien nur kenntnislos, eben dumm. Und deswegen behaupteten sie, Kunst und Kultur seien Synonyme, also gleichbedeutend; Kunst ist gleich Kultur und Kultur ist gleich Kunst: Geigen ist gleich Kultur und Wasserbau ist gleich Kunst wie Backkunst, Militärkunst etc. Es ist ein wildes Durcheinander von Begriffen bei Leuten, die nicht gerade sehr lange nachgedacht haben. Nein, inzwischen stellt sich heraus, dass die Entscheidung für Ruangrupa wirklich strategisch gemeint ist. Das ist gewollt, das entspricht genereller Tendenz, nämlich der Re-Faschistisierung, der Re-Totalisierung und Re-Fundamentalisierung aller Kulturkollektive. Warum das? Man hat die Nase voll von der Vielfalt der Anforderungen, die geschichtliche Kenntnisse verlangen etc. Und das will man nicht, weil man nichts weiß. Deswegen kehrt man zurück zum Schafstallgeblöke der kulturellen Identitäten. Und da sind wir jetzt gelandet. Die documenta-Berufungskommission hat im Namen der Kunstfreiheit nach § 5,3 GG – eine Weltsensation unglaublichen Ausmaßes, fantastisch, wahrscheinlich der Höhepunkt des Humanismus überhaupt – die Kunst liquidiert. Das ist das allzeit beherrschende Schema des Kulturalismus. Kunst und Wissenschaft kommen nicht mehr vor. Was Kunst ist, bestimmen die Kulturträger.

MK: Die schlechteste documenta, die Sie bis jetzt erlebt haben?

BB: Nein, schlecht ist sie nicht. Sie ist die wichtigste, weil sie die Situation der Weltlage im Augenblick am genauesten abbildet. Sie ist damit die gefährlichste und folgenreichste. Sie ist damit auch die beachtenswerteste. Jetzt kann man nicht mehr davon absehen, prononciert Stellung zu beziehen. Jeder ist jetzt aufgefordert, sich zu entscheiden: Gehört man zu den Kulturalisten, die alles vernichten, was überhaupt je Autorität durch Autoren und Wissenschaftler gewesen ist? Gehen die Kulturalisten mit diesen Individuen so um wie alle Diktatoren: ins KZ, ins Loch, abgestraft oder kapitalismusaffin zur Strafe „gemeinsam abhängen“? Gemeinsam abhängen ist die große Maxime dieser Ausstellung, wie die FAZ feststellt. Deshalb ist es die wirklich bedeutendste documenta, die es je gegeben hat, für die Situation der Welt, also des „Untergangs des Westens und des Aufgangs des Ostens“ (so Mister Xi auf dem jüngsten Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas).

Die documenta 15 ist die Re-Fundamentalisierung der Kunst
Interview: Michael Köhler. DLF, 21.06.2022

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