Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
05.02.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
05.02.1994

Wohlfahrts-Ausschuß ‘94

Gehe ich fehl in der Annahme, daß der famose Frankfurter Kabarettstar Matthias Beltz vor kurzem einen staunenden Feuilletonschreiber vor sein Bücherbord geführt hat? Mit stolzer Geste habe Beltz auf seine Sammlung aller verfugbaren Carl-Schmitt-Publikationen verwiesen. Zu dem irritierten Blick des Feuilletonisten habe Beltz bemerkt: "Seit Jahren lese ich Carl Schmitt, aber mich wurmt natürlich als Linken, daß Schmitt recht hat." Ein schönes Bekenntnis. Geradezu repräsentativ für die Verfechter der "political correctness" und die Linksbekenner, wie Walter van Rossum in den Frankfurter Heften vom November 1993 konstatiert. "Daß bestimmte Theorien sich von links nach rechts lesen lassen, ist eine neue und überraschende Entwicklung ... Seit Jahren bemüht sich eine linke Theoriefraktion, in Carl Schmitt den Genossen zu entdecken.
So neu und überraschend ist das also nicht. Seit Anfang der achtziger Jahre versucht man, Luhmann von rechts nach links zu lesen. Bloß lesen? Bloß gegen den Strich bürsten? Beltz bekennt's: "Carl Schmitt hat recht." Wenn dem denn so ist, warum gilt Schmitt dann als Inbegriff der Erzreaktion, gegen die sich das "Internationale Komitee der Wachsamkeit gegen Rechts" so flammend wehrt?
Diese "Tugend erwache!"-Rufer waren fast alle in den vergangenen 25 Jahren Carl-Schmitt-, Ernst-Jünger- und Martin-Heidegger-Enthusiasten, also Erzreaktionäre, aber mit dem Geschick, sich zugleich als Hüter der freiheitlich-demokratischen Verfassung feiern zu lassen.
Mir gelang es noch nie, Carl Schmitts Ernst- und Ausnahmefalldenkerei weder logisch noch politisch irgendeinen tauglichen Gedanken abzugewinnen, zumal in einer Situation, in der die Ausnahme die Regel und der Ernstfall auf Dauer gestellt ist. Alles futuristische, dadaistische, surrealistische Kindereien von Machtspielern, die ihr bißchen ästhetischen Terrorismus von der Kabarettbühne in die Massenagitation überfuhren wollten. Längst ist die Sicherung des banalen Normalfalls das einzige lohnende Ziel all unserer Anstrengungen.
Zu Recht fürchten die Erzwingungsstrategen fundamentalistischer Weisheiten linker wie rechter Couleur, in solchem Normalfall Statur zu verlieren, denn sie sind so phantasielos und leibarm, so leidverschont und professoral etabliert, daß sie nur Extreme faszinieren, marinettische Bombenwürfe orgiasmieren und das bretonsche Herumfuchteln mit dem Revolver kulturell befriedigt. "Verständigung halten sie entweder für vergreist humanistische Attitüden oder - und hier und nur hier gründet die linke Selbstinszenierung - sie sehen in der Verständigung den Keim aller Macht", so van Rossum. Kann man sich mit ihnen verständigen, diesen falschen Brüdern? Eins halten wir ihnen zugute: Es ist besser zu lügen, als von der Wahrheit gar nichts zu wissen.