Zeitung Die ZEIT

Kunst und Auktionen

 

Erschienen
06.11.2020

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
Nr. 18

Seite 34-35 im Original

„Was wir heute im Museum sehen, ist Dreck!“

Der „Denker im Dienst“ Bazon Brock über Gewinner und Verlierer, Bildung, Kunst und Geld

Unser Autor Sebastian C. Strenger sprach mit dem 84-Jährigen – über Breitensport, den in die Krise geratenen Kunstmarkt und einen neuen / alten Typus Museum.

[Sebastian C. Strenger:] Sie haben den Kunstmarkt einmal mit Sport verglichen. Wieviele Künstler können sich eigentlich am Markt durchsetzen?

[Bazon Brock:] Nur vier Prozent der Künstler können am Kunstmarkt reüssieren. Das ist eine statistische Aussage, die in vielerlei Hinsicht gilt. Wir haben in den Sechzigerjahren beispielsweise mal über Sportförderung diskutiert. Damals waren primitive Leute der Meinung, die Politik muss Spitzensport fördern. Und wir haben gesagt: Ihr seid ja verrückt! Spitzensport entsteht doch nur aus Breitensport. Wie soll sich eine Spitze herausbilden, wenn keine Basis existiert, aus der sich dann eine Spitze erheben kann? Also Sportförderung heißt Breitensportförderung. Die Spitze ergibt sich ja von selbst. Im Hinblick auf die künstlerisch-wissenschaftliche Arbeit ist es genauso. 96 Prozent – oder sagen wir mal vorsichtigerweise, wenn wir bestimmte Dinge herausrechnen: 90 Prozent derjenigen, die im Bereich Wissenschaft und Kunst arbeiten, tun das ohne jede Aussicht auf Erfolg am Markt.

Was können diese Leute dennoch mit ihrem Engagement erreichen?

Was sie erreichen können, ist, ihre Existenz aufrechtzuerhalten. Entweder werden sie selbst berufstätig, als Lehrer oder Professor. Oder sie haben Menschen – Gatten, Eltern etc. –, die sie unterstützen. Das sind die meisten. Also: Eine gute Galeristin hat einen Mann als Notar. Und ein guter Galerist hat eine Frau als Steuerberaterin. So geht das! Das heißt, der gesamte Kunstmarkt und die gesamte Galerieszene leben nicht vom Verkaufen. Davon leben vier oder bestenfalls zehn Prozent.

Und der Rest?

Wenn wir mal alle errechnen, die auf plus / minus null kommen, dann bleiben immer noch über 80 Prozent übrig, die das nicht schaffen – plus / minus null ist also schon ein Riesen-Ziel. Sogenannte Hochleister am Markt, beispielsweise Gerhard Richter, trägt der Markt mit maximal fünf Prozent. Dann gibt es auch noch etwa 15 Prozent an Marktteilnehmern, die den Break-even gerade so erreichen. Diese finden gerade so ihren Ausgleich, um mit dem, was sie erwirtschaften, ihre eigene Miete und etwas mehr zahlen zu können – mehr ist nicht drin. Also die Galeristin muss sich selbst ausbeuten. Der Galerist muss sich selbst ausbeuten. Sie können heute nicht Galerist werden wollen in dem Sinne: Ich will da was für meinen Lebensunterhalt verdienen. Das geht nicht!

Dann bleiben also nur noch Verlierer ...?

Rund 80 Prozent arbeiten von vornherein ohne jede Aussicht auf Erfolg – zumindest für das Bürgerliche. Also für: Ich kann die Miete zahlen, ich kann mich davon ernähren und ich kann auch meine Kinder in die Schule schicken und ihnen zu Weihnachten ein Buch schenken. Das gelingt nur durch Assoziation an Leute, die einen anderen Beruf ausüben. Der Galerist hat eine Freundin oder Frau oder Familie, die ihm Geld zuschießt – und umgekehrt genauso.

Und die staatliche Kulturförderung?

Wenn das der Grütters-Normalfall (Anm. d. Red.: Kulturstaatsministerin Monika Grütters) ist, dann müssen wir diese Kulturförderung ändern. Sie tritt ja ein, indem wir die besseren Museen und erfolgreichen Orchester unterstützen. Aber das ist doch Quatsch! Die brauchen keine Förderung, denn die können sich doch als Einzige selbst über Wasser halten, indem sie vom Markt leben. Die haben doch unter anderem die Eintrittsgelder. Was soll das also?

Wie sähe denn eine Lösung aus?

Sie müssen die fördern, die von vornherein jenseits des Markts arbeiten. Das ist heute in breiten Sozialbereichen der Fall. Auch Kunst und Wissenschaft kann man ja nicht mit der Absicht betreiben, Geld zu verdienen. Kunst und Wissenschaft zu betreiben, heißt, ganz anderen Kriterien als denen des Verdienstes am Markt zu genügen. Und deswegen gibt es auch eine große Debatte, ob die Finanzämter nicht grundsätzlich gegen das Grundgesetz verstoßen, wenn sie sagen: Wir erkennen wirtschaftlich / steuerrechtlich nur Leute an, die eine Gewinnerzielungsabsicht haben.

Aber wie sollte den Künstlern jetzt geholfen werden?

Durch Kunst- und Wissenschaftsförderung, bei der von vornherein feststeht, in dem Bereich kann kein Geld verdient werden – und eben nicht durch Kulturförderung. Denken sie nur mal daran, wie sie heute als Wissenschaftler oder Künstler Geld bekommen. Sie machen eine Eingabe, da schildern sie, was sie mit dem Geld, das sie verlangen, erreichen wollen, damit der Geldgeber dann hinterher durch das Deputat ihrer Forschung einen Markt- oder sozialen Geltungserfolg haben kann. Dabei ist es doch keine Forschung, wenn ich bereits am Anfang weiß, was am Ende rauskommt! Das ist doch alles Quatsch! Wissenschaft gibt es nicht mehr, und wenn das sowieso so ist, dann müssen wir uns eben auf Kunst- und Wissenschaftsförderung einrichten und nicht mehr auf Kulturförderung, denn das ist ja gleichbedeutend mit Marktförderung!

Was heißt das jetzt für die Museen?

Sie meinen Museen, die von vornherein sagen, wir können ohnehin nicht mitspielen bei Gerhard Richter? Und wer will schon gerne einen Gerhard Richter im Museum anschaffen? Wir müssen das Publikum auf etwas anderes orientieren als auf die Highlights der hochpreisigen Markterfolge, denn das Erzielen eines Preises ist nicht das Kriterium für die Bedeutsamkeit von Kunst. Also müssen die Museen ihren Auftrag zur Bildung jetzt ernst nehmen, das heißt: jenseits des Markts Kriterien entwickeln, anhand derer man etwas für bedeutend hält. Und dieses Schema ist vorgegeben im Wissenschaftsbereich genauso wie im Kunstbereich. Es heißt Musealisierung und geht zurück auf Winckelmanns letzte Definition von 1762.

Was steht dahinter?

Das Museum ist ein Ort, an dem die Vielzahl der Artefakte versammelt wird, um sie in Ordnung zu bringen. Das heißt auch, um sie miteinander zu vergleichen. Und in diesem Herstellen einer Ordnung ist das Billigste, das Harmloseste und Unauffälligste genauso wichtig wie das Prunkstück. Denn um das Prunkstück herauszustellen, muss ich es ja auf das Harmlose beziehen können. In den Museen müssen die Kriterien des Sinngefüges gezeigt werden, die also nicht mit dem Markt zusammenhängen, sondern durch die Bestimmung dessen, was der Besucher vor sich hat.

Also eine unter den Artefakten gleichberechtigte Präsentation wie im New Yorker MoMA nach dem Umbau?

Sie wollten es im MoMA berücksichtigen, haben aber weiterhin auch ihre Highlights drin. Dabei haben sie aber einen Fehler gemacht. Sie behandeln afrikanische Masken aus dem Kongo oder südchinesische Keramiken oder Südsee-Tattoos von Maori als Kunst – und das ist völlig falsch. Das sind Kulturäußerungen. Afrikanische Skulpturen wie Braque und Picasso sie gefunden haben, sind Zeugnisse der ritualisierten Kultur, keine Kunstwerke.

Und wie ist das vor unserer Haustür?

Schauen wir in ein Museum wie das Humboldt-Forum. Wenn vor 600 Jahren im Südosten des Kaspischen Meeres analphabetische Frauen wunderbare Bildwirkungen an gewebten Teppichen entwickelten, deren Authentizität man kennt, da Buchmalereien sich darauf beziehen, und wir heute, seit den Fünfzigerjahren, ein Gemälde von Mark Rothko darin sehen, bei dem wir sagen, sieht ja irre aus – da stellt man sich doch die Frage: Wie ist es möglich, dass man einen hochgebildeten, ausgebildeten Künstler und Kenner von Kunstgeschichte in einen solchen Vergleich bringt? Wie ist es möglich, dass afrikanische Ritualgegenstände als faszinierende Kunst wie „Gauguins aus der Südsee“ betrachtet werden, obwohl es in diesen Kulturen zu ihrer Zeit weder den Begriff der Kunst noch spezifische Ausbildungen gab? Und dass dort dennoch etwas Grandioses hervorgebracht wurde – Kultgegenstände, Architekturen, die ästhetisch auf einem Niveau sind, dass man sich fragt: Wie ist das möglich? Also das Humboldt Forum wäre eigentlich ein Ort, um zu zeigen: In welchem Verhältnis steht die afrikanische oder ozeanische Artefakt-Herstellung zu den Hochleistungen der individualisierten Kunst. Denn in den alten Kulturen gab es den Kunstbegriff nicht, ebensowenig bei den Griechen und Römern.

Sind die Museen zu nah am Kunstmarkt dran?

Die Museen haben ab 1820 durch die Eröffnung des Louvre-Nordflügels dazu beigetragen, das bürgerliche Interesse an Kunst zu stimulieren – ab 1830 leisteten das dann auch die Kunstvereine, die in jeder kleinen deutschen Stadt aufkamen. Und bis in die 1970er-Jahre hinein gaben die Museen noch an, was gut ist: Was da im Museum war, war der Ausweis für bedeutsame Kunst. Dann übernahm der Markt diese Rolle – und die Museen wurden abgehängt beziehungsweise hatten gar keinen Zugang mehr.

Wann genau begann also die Misere?

Mit der Entwicklung des Kunstmarkts in Köln begann diese Geschichte. An sich also bereits in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre, aber die Auswirkungen spürt man seit 1980. Von da an konnte kein Museum mehr sagen, wir zeigen, was wirklich wichtig und bedeutsam und groß ist, weil sie das Wichtige, Bedeutsame, Große da schon gar nicht mehr hatten. Sie konnten es sich nämlich gar nicht mehr leisten. Von da an war die Sache erledigt!

Also war eigentlich Beuys, der seine Arbeiten auf dem damaligen „Kölner Kunstmarkt“ zum Preis von „Warhols“ oder „Rauschenbergs“ verkaufen wollte – was mit veranschlagten 110 000 D-Mark für „Das Rudel“ (1969) zwar eine völlig marktfremde Setzung war, aber letztlich klappte –, Schuld an seiner Preisfindung?

Damals erklärte Beuys, ich trete aus der Kunst des Westens aus und gehe zurück in den Nabel der Kultur. Beuys wollte immer Kulturträger sein. Richter wollte demgegenüber nie Kulturträger sein; er war immer Künstler. Aber Richter hat nicht gemerkt, dass er das jetzt nur noch ist, indem er über die Kultur subsumiert wird, also über den Kunstmarkt. Und nur als Geltender auf dem Kunstmarkt ist er noch interessant – alles andere ist doch Chichi.

Wie meinen Sie das?

Mal ehrlich: Was ist an Richter wichtig? Bis 1975 hat er grandiose Arbeit geleistet, indem er die Foto-Optiken zurück in die Malerei vermittelte. Danach hat er nur noch ein bisschen mit Rakeln herumgetan – das hat das Informel doch bereits früher tausendmal besser gemacht. Seither hat Richter doch gar nichts mehr geleistet. Nichts! Und wenn er hundert Bilder herstellen lässt, und das als Tagebuch mit ikonografischem Anspruch – das ist doch alles längst von anderen gemacht worden. Richter ist in seiner Malerei nach 1975 eine völlig unbedeutende Figur. Und als er anfing, für die Deutsche Bank die RAF-Zyklen darzustellen, da wurde die RAF im wörtlichen Sinne bei der Deutschen Bank in Frankfurt aufgehängt.

War der Zyklus denn eine Auftragsarbeit?

Nein, aber er war so gedacht. Er war von vornherein gedacht als eine Demonstration unter dem Motto: Jetzt stimmen wir dem zu! Nachdem die RAF-Mitglieder alle erledigt waren, wurden sie nachträglich museumsreif gemacht. Und der Künstler kassierte von der Deutschen Bank. Und danach hat Richter nichts mehr gemacht! Und warum? Wenn er in der Kultur ist, muss er nichts mehr machen! Er kriegt jedes Jahr seine Zusagen, 50 Millionen über amerikanische Agenturen – und fertig isses!

Wie sieht denn Ihre Sicht auf Privatsammlungen aus?

Schauen sie sich heute Privatsammlungen an – dagegen ist doch jedes Museum ziemlich banal. Es sei denn, die Privatsammler verleihen was. Die Museen sorgen dann dafür, dass es versichert wird, dass es klimatisiert und erhalten wird. Das ist natürlich ein tolles Geschäft für einen Privatmann, der sich sagt: Die ganzen Kosten drücke ich der Gemeinschaft auf. Das ist doch heute das Prinzip. Und warum geht das? Weil die Museen ja nichts haben! Und das bisschen, das sie letztlich aus den Siebzigerjahren haben, ist eben alles das Gleiche. Das heißt, die Moderne dort schnurrt zusammen auf ein wenig Op-Art, ein wenig Pop-Art, ein bisschen Vasarely, Warhol – und das ist dann auch Alles.

Und was wäre die Lösung?

Das Museum ist doch der Ort, an dem man lernen kann, durch die Arbeit mit diesen Objekten Gesichtspunkte der Unterscheidung zu entwickeln, um sie damit unterscheiden zu können, denn dadurch entsteht letztlich Bedeutung und am Ende der relevante Zusammenhang. Aber leider sind Museen heute bereits reine Kulturinstitutionen geworden. Sie kümmern sich ja mittlerweile gar nicht mehr um Wissenschaft und Kunst. Darum muss ich heute durch 18, 20 Galerien in Berlin schlendern, um zu sehen, was in der Kunstproduktion eigentlich gerade so gemacht wird. Und nur dadurch kann ich die neuen Gesichtspunkte zur Unterscheidung entdecken. Kurzum: Was wir heute im Museum sehen, ist Dreck, nämlich Geld! Im Museum gibt es heute nur noch Mitteilungen über Kunst als Ware. Der Besuch dort bringt gar nichts mehr, denn es sind im Grunde ja nur noch Preisschilder ausgestellt. An jedem Bild steht heute quasi 200 000, 500 000 oder 3 Millionen, 70 Millionen – und so weiter. Das ist alles. So sieht es aus!

Und was können wir heute tun?

Galeristen unterstützen, die Kunst jenseits des Markts vertreten. Ausstellungen jenseits des Markts würden die Arbeit von Künstler-Individuen endlich wieder ernst nehmen...

Vielen Dank für das Gespräch.