Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
16.07.1994

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
16.07.1994

Bekenntnisekel

Nach meiner Erinnerung berief sich das Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik auf vier historische Ereignisse: den 20. Juli 1944, denn da wurde bewiesen, daB es ein wahres Deutschland gebe; den 17. Juni 1953, denn da zeigte sich, daß zum wahren Deutschland nicht nur Offiziere und Junker, sondern auch Arbeiter und Bauern gehören; den 4. Juli 1954, denn da wurde das wahre Deutschland FuBballweltmeister und gewann weltweite Anerkennung, und den 13. August 1961, denn da erwiesen sich die Antifaschisten, die Erbauer des antifaschistischen Schutzwalls, als Faschisten, weshalb das wahre Deutschland nicht das antifaschistische sein konnte, sondern das antikommunistische, wie schon seit 1918.
Aber das Wahre ist ja, zumeist, nicht das Bessere, im Gegenteil; die Wahrheit, sagt das Volk, ist zumeist schmutzig, schaurig, angstmachend, weshalb man ihr gern aus dem Wege geht! Das rieten uns schon, mit Blick auf den 20. Juli '44, unsere Erfahrungen als Kriegskinder. Da hatten wir reihenweise lamettadekorierte Heldendarsteller gesehen, die als gelernte Krieger hinter der Front herumkommandierten, die wahllos angelernte Hiwis, Volkssturmgreise, Frauen und Kinder verheizten und selbst stabweise stiften gingen oder als Offiziere mit den roten Hosenstreifen der höheren Menschenklasse beim siegenden Feind für sich kollegiale Behandlung einforderten.
Wie ist eine solche ehrvergessene Gaunerei nur möglich, fragten wir uns als Kinder: Erst für den Führer siegestrunken marschieren, aus seiner Hand Orden und Beförderungen entgegennehmen, Ehren und Geschenke, und dann plötzlich, sobald der Rückzug unaufhaltsam war, behaupten, der Hitler sei ein Verbrecher. Kindsköpfe waren wir, wie gesagt, Kindermund… Und dann gingen wir zur Schule und in die Uni; wir hörten Gerstenmaier und hatten wieder das ungute Gefühl, da stimmt was nicht mit der offiziösen Huldigung an Widerstandskämpfer. Vor allem die gnadenlose Hetze gegen jene, die in den 50er Jahren Widerstand gegen die Wiederbewaffnung, gar gegen die atomare Rüstung leisteten, machte uns stutzig.

Auch daß so viele Altnazis, gegen deren Terrorregime angeblich am 20. Juli Widerstand geleistet worden war, jetzt der Demokratie dienten; aber das war ja bei den Amerikanern auch der Fall. Merkwürdig. Dann fiel uns was auf, als wir die Programme der Goerdeler-Leute lasen. Die behaupteten ja auch nicht viel anderes als der Hitler: Revision des Versailler Vertrages, kommunistische Bedrohung, deutsche Vormachtstellung, deutsche Geschichte usw; als normaler Deutscher wäre man mit diesem Programm als Nazi gestempelt worden, aber als Widerstandskämpfer konnte man das alles sagen und wurde dafür noch gefeiert! Aha, wenn zwei das gleiche sagen, ist das noch lange nicht…
Es kommt also nicht darauf an, was man programmatisch sagt, sondern wie man damit umgeht, wie man das anwendet, was man daraus macht. So wurde zur Tugend der jungen Republik, was den Widerständlern des 20. Juli vorgeworfen wurde: Programme sind das eine, die gestaltende Politik das andere; große Ziele, edle Motive gut und lobenswert, aber die Resultate zählen: Kommunisten sind böse Teufel, aber Handel treiben oder gefangene Menschen rauskaufen ist das Gebotene; nie wieder Krieg, aber dazu braucht man starke Armeen; demokratische Meinungsfreiheit jawohl, aber auf die Meinung zu hören, hieße regierungsunfähig werden. Volkssouveränität ja, aber das Volk über die Todesstrafe oder Staatsziele abstimmen zu lassen, hieße, die Prinzipienreiterei und Programmgläubigkeit zu fördern!
Das ist die Widerstandsdemokratie. Mit ihrem Scheitern muß gerechnet werden, das feiern wir prophylaktisch am 20. Juli. Widerstand gegen uns selbst, bekennen wir's, wenn es auch ein deutsches Bekenntnis bleibt.