Radiobeitrag Deutschlandfunk Kultur

Erschienen
11.04.2020, 13:05 Uhr

Station
Deutschlandfunk Kultur

Sendung
Breitband – Medien und digitale Kultur

Length
19 min

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

„Optimisten sind Volksverdummer“

Bazon Brock im Gespräch mit Vera Linß über die Coronakrise

Vera Linß: Ich habe mich gefragt, was Sie überhaupt von Zukunftsforschung halten. Sie haben sich sehr kritisch damit auseinandergesetzt. Das ist nachvollziehbar. Finden Sie diese ganzen Zukunftsforschungsversuche überhaupt eine gute Idee?

Bazon Brock: Es ist das eigene Interesse aller Menschen, sich im Hinblick auf die zu treffenden Entscheidungen des Alltags an den Erwartungen zu orientieren, die man an die Zukunft hat. Eigentlich leben ja alle Menschen auf ihre Zukunft hin, das nächste Jahr, die Familienplanung, die Berufsplanung etc. und dazu gibt es eine Reihe von Annahmen, auf die man seine Entscheidungen ausrichtet. Das ist auch für die Individuen ganz praktikabel, man kann das in jeder Hinsicht akzeptabel finden.

Wenn man das aber systematisieren will, wie das die angeblichen Zukunftsforscher tun, dann kommt man in Selbstwidersprüche. Die vernünftige Art, die begründete Art ist die Hochrechnung. Das machen IFO-Institut und Weltwirtschaftsforum, die sagen auf Grund der vorliegenden Daten die Wirtschaftsentwicklung voraus. Alle anderen Vorgehensweisen sind Spökenkiekerei und Hokuspokus, self-fulfilling prophecy oder Ähnliches, nach dem Muster: Wenn propagiert wird, dass das Benzin knapp wird, fahren alle an die Tankstelle, um ihren Tank schnell noch mal voll zu machen. Normalerweise sind nicht alle Autotanks zu 100 % gefüllt; wenn aber alle, die noch ein Viertel Tankfüllung haben, gleichzeitig an die Tankstelle fahren, um vollzutanken, dann wird das Benzin knapp. Das ist die self-fulfilling prophecy, die als Mechanismus bekannt ist.

Das bringt gar nichts, es bleibt nur übrig, sich an der Geschichte zu orientieren. Wie haben sich die Menschen früherer Zeiten erfolgreich auf die Zukunft eingestellt? Das kann man als Historiker nachvollziehen, dann ist man auf der sicheren Seite und kann vernünftige, begründete Aussagen machen, weil der Historiker z.B. als sein Fach 800 Jahre Geschichte beherrscht. Da gibt es pro hundert Jahre drei Generationswechsel, 8 x 3 = 24, also hat ein Historiker 24 mal die Chance kennen zu lernen, wie Leute in einer Gegenwart ihre Zukunft einschätzten, was sie daraufhin taten, wie sie von der eingetretenen Zukunft her diese Prophetien für sich bewertet haben oder eben nicht. Man kann dann als Historiker eine vernünftige Summe all dieser Bemühungen ziehen.

VL: Wenn man diesen Ansatz nimmt, den Sie eben geschildert haben, das wäre meine Frage gewesen, wie soll man Erkenntnisse erzielen, die in die Zukunft weisen könnten? Wenn man aber diesem Ansatz folgt, können Sie dann eine Prognose erstellen?

BB: Ja, das kann ich jederzeit. Ich habe ja einen Lehrstuhl für alttestamentarische Prophetie. Prophetie ist die älteste vermittelte Kulturtechnik, nämlich zu sagen: Alles, was gegenwärtig ist, ist auf eine bestimmte Weise so entstanden, hätte aber auch anders entstehen können. Wenn die Schlacht verloren gegangen wäre, wenn das Volk durch eine Seuche dezimiert worden wäre, wenn die Ernte schlecht ausgefallen wäre etc., wäre die Geschichte anders verlaufen.

Nun weiß man, dass alles, was real ist, nur ein kleines Ausschnittchen aus einer unvergleichlich viel größeren Zahl von Möglichkeiten ist. Prophetie im alttestamentarischen Sinne bezieht sich also auf viele der Möglichkeiten, die hätten realisiert werden können, aber nicht realisiert wurden, eben auf Grund solcher Zufälligkeiten: Wetterkonstellationen, die Schlacht geht verloren, der Kaiser hat Kopfschmerzen oder was immer. Man bezieht dann diese gegebenen Möglichkeiten in die Zukunftsvorstellung ein. D.h. in der Zukunft realisiert sich immer auch das, was als Möglichkeit in einer jeweiligen Gegenwart auf der Grundlage einer notwendigen Entscheidung an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde entschieden wurde. Aber im Laufe der nächsten zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre kommen alle die Dinge wieder zum Zuge, die als Möglichkeiten im Raum standen und auf die kann man sich orientieren. Und das ist eine vernünftige Prophetie: Rechnet mit der Möglichkeit, rechnet damit, dass es eine Seuche geben kann, rechnet damit, dass der Verkehr nicht mehr flüssig organisiert werden kann, weil er auf der Straße durch den Erfolg der Güterproduktion nicht mehr berechnet werden kann, etc. Rechnet mit den anderen Möglichkeiten, die ihr euch durch eure Entscheidung glaubt vom Halse gehalten zu haben. Aber in der Geschichte scheidet nichts durch die Wahl von irgendwelchen Potentaten aus. Seine Zufallsentscheidung für bestimmte Aspekte dessen, was gerade der Fall ist, reicht nicht hin, um sich auf die Gesamtheit der Möglichkeiten, die zu einer Zeit gegeben sind, zu orientieren. Und das ist es, was die Prophetie im alttestamentarischen Sinne ausmacht: Rechnet mit den anderen Möglichkeiten. Das ist alles.

VL: Das heißt, dass ich, wenn ich aus heutiger Sicht versuche, Prognosen zu erstellen, sagen muss, das könnte so oder so kommen?

BB: Nein, das kann man nicht sagen. Es könnte nicht nur so oder so kommen. Wenn ich mit den Möglichkeiten rechne, haben wir die Chance, uns auf eine der Möglichkeiten, die uns in besonderer Weise günstig oder förderlich erscheint, einzulassen. Wenn wir uns auf eine dieser Möglichkeiten einlassen, werden die anderen geschwächt und dann tritt das Gewicht der Entscheidung tatsächlich zugunsten der besseren Möglichkeit, der besseren Alternative ein. Denn es geht immer darum, Alternativen zu haben. Wenn die Kanzlerin sagt, es gibt keine Alternativen, ist sie keine Politikerin, denn Politik heißt seit antiken Zeiten, dafür zu sorgen, dass es immer Alternativen gibt. Wenn es keine Alternative gäbe, bräuchte man keine Fürsten, keine Regierung, niemanden. Denn dann ist Sachzwanglogik das Einzige, was es gibt, wozu muss man dann noch regieren? Das war immer schon falsch, es ist das menschlich Wichtigste in der Organisation des Überlebens, Alternativen zu haben. Modern nennt man das Optionen. Sie sehen das an der Börse. Profi-Börsianer setzen nie auf eine bestimmte Entwicklung, sondern sie berechnen verschiedene Möglichkeiten und reagieren darauf, dass sich diese Möglichkeiten durchsetzen. D.h. put and call, sie gehen gleichzeitig in unterschiedlicher Hinsicht vor, sie sichern sich gegenseitig ab, so dass sie am Ende niemals verlieren. Die Dilettanten, die Kleinbürger, die auch einmal mitspielen wollen, verlieren das Geld, weil sie denken, das gehe alles unter normalen gesellschaftlichen Zuständen. Nein das ist nicht so, an der Börse wird bewusst darauf spekuliert, dass Nicht-Profis nicht verstehen, was das Spiel eigentlich ist.

VL: Wenn ich eine Zukunftsprognose treffe, heißt das gleichzeitig, sie auch aktiv zu gestalten, damit sie eintreten kann?

BB: Richtig. Wenn ich eine Prognose stelle, gucke ich mir an, welche Möglichkeiten es gibt. Nehmen wir das Beispiel Vorsorge. Wir haben uns aus Machtarroganz, aus kapitalistischer Überlegenheitsarroganz, aus Durchsetzungsarroganz – Kapital schafft alles, auch Viren – nicht einmal mit genügend Schutzkleidung und Atemmasken versorgt, weil wir mit der Möglichkeit von Viren-Infektionen nicht rechneten. Das aber ist ein Zeichen für Dummheit. Wer mit den Möglichkeiten nicht rechnet, ist prinzipiell dumm und kein Politiker, auch kein Unternehmer und kein Entscheider ist auszunehmen, er ist einfach ein Vabanque-Spieler, der Menschen benutzt, um seine eigenen privaten Ziele durchzusetzen. Man muss damit rechnen, also muss man Vorratshaltung betreiben.

Sie müssen sich vorstellen, was das historisch für eine Dimension hatte. Joseph, einer der Brüder, die in der Not Israels sich sozusagen umguckten, was in der Welt werden soll, und den sie verstoßen hatten, den sie massakrieren wollten, weil er so intelligent war, wurde Ministerpräsident des Pharaos. Warum? Weil er einen Traum deuten konnte. Der Pharao hatte von sieben fetten und sieben mageren Kühen geträumt. Der Tradition nach müssten die Priester in der Lage sein, dem Pharao, dem Herrscher diesen Traum zu erklären. Der Einzige, der eine vernünftige Erklärung fand, war Joseph, der Israelit. Er sagte, es gibt sieben fette Jahre und dann wird es sieben magere Jahre geben, deswegen müssen wir in den fetten Jahren Speicher bauen und Getreidevorräte anlegen. Er wurde Ministerpräsident und konnte Entscheidungen treffen. Die Speicher wurden gebaut, sie waren voll und das ganze umwohnende Volk der Dummen inklusive der Israeliten, die alle hungerten, mussten zum Pharaonenhof pilgern, um sich dort ernähren zu lassen. Das war der Beginn des geschichtlichen Denkens. Geschichtliches Denken heißt, immer mit den Möglichkeiten denken, die scheinbar ausgeschlossen sind, aber gerade als Möglichkeit immer weiter existieren. D.h. Sie werden prinzipiell im Hinblick auf die Fähigkeit zu entscheiden immer gezwungen, mit all den Möglichkeiten, die Sie nicht wählen, trotzdem zu rechnen. Das ist das Bedeutende.

Ein Historiker, ein wirklicher Prophet, ein Prognostiker, weiß, welchen Einfluss die nicht gewählten Möglichkeiten haben. Denken Sie an die DDR. Die DDR-Führung hat nie geglaubt, dass ihr System untergehen könnte. Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf, sagte Honecker. Das waren aber Ochsen und Esel, die das geglaubt haben! Hätten sie mit dem Aufhalten gerechnet, hätten sie ein völlig anderes Entscheidungsverhalten an den Tag gelegt, hätten die Bevölkerung mitgenommen bei den Entscheidungen, die anstanden, und das Desaster wäre ihnen erspart geblieben.

VL: Nun haben Sie schon analysiert, was in der Vergangenheit sozusagen nicht beachtet worden ist, so dass man jetzt in dieser Situation ist. Aber wenn man aus der heutigen Position versucht, in die Zukunft zu schauen, gibt es ja Einige, mit denen Sie sich auch kritisch auseinandersetzen. Z. B. sagt einer: Wir sind an einem Punkt der Bifurkation angelangt, gerade jetzt ändert sich etwas Grundlegendes. Viele sagen auch, die Welt werde nicht mehr so sein, wie sie war. Würden Sie dem zustimmen?

BB: Nein, das sind völlig unsinnige Aussagen. Empirisch ist es so, dass sich nach allen Katastrophen nichts geändert hat. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wurden die UNO und die UNESCO eingerichtet. Haben sie etwas bewirkt? Nein. Gab es danach weniger Kriege? Im Gegenteil, es gab latent über die Zeit vierzig Kriege, die in der Welt stattgefunden haben. Hat man aus der Bankenkrise 2008/09 irgendetwas gelernt? Nein. 2010 ging die Spekulationswelle, das Hasardspiel der Banken auf noch viel extremere Weise weiter, als es zur Katastrophe von 2008 geführt hatte. Es war immer so in der Weltgeschichte, man hat niemals aus der Geschichte gelernt, außer in den Fällen, in denen man durch Beschneidung des Machtwahnsinns, – denken Sie an Banker oder an Adolf Hitler, an Stalin, an wen immer – eine bestimmte Zeit Ruhe hatte vor den Irrtümern, die immer aus Allmachtswahnsinn entstehen. Das ist die einzige Wirklichkeit, die man in der Geschichte hat. Katastrophe ist nichts als eine zeitweise Stillstellung der Allmachtsphantasien von Bankern, von Diktatoren, von Popen, von Religionsstiftern und Begründern irgendwelcher Weltanschauungen. Mehr kommt nicht heraus. Es hat sich noch nie etwas nach eine Katastrophe geändert.

VL: Könnte man sich vorstellen, dass das jetzt vielleicht passiert?

BB: Das kann man sich nicht vorstellen, denn jetzt zu sagen, es werde sich etwas ändern, ist nichts anderes als Augenwischerei für heute. Die Leute sagen, ihr braucht euch nicht darüber aufzuregen, dass wir keine Vorsorge betrieben haben, dass wir alles falsch gemacht haben, weil wir in unserem Machtwahnsinn glaubten, uns passiere so etwas nicht, das gehe vielleicht bei den dummen Chinesen schief, bei uns doch nicht. Es wird alles weggewischt, indem man sagt: aber jetzt ändert sich dafür auch alles.

Das ist reine Ideologie, ist Augenwischerei, ist Volksverdummung höchsten Grades. Alle, die jetzt sagen, die Lehre daraus werde der Optimismus der Zukunft sein, sind Volksverdummer, die ihr Süppchen kochen an der Art und Weise, wie ihre eigene Verantwortungslosigkeit durch das Gerede von der zukünftigen Lehre des Besserwerdens entstanden ist. Das ist der Sündenstolz von früher. Die Leute haben kräftig herumgevögelt, sind durch die Welt gegangen, haben Verbrechen verübt in der Gewissheit, wenn sie nach Hause kommen, empfängt sie der Vater. Der verlorene Sohn steht in höheren Ehren als derjenige, der zu Hause geblieben ist und redlich seine Arbeit gemacht hat. Es ist besser, die großen Sünden zu begehen, denn dann ändert sich endlich etwas! Der brave Mann, der seinen Acker bearbeitet, Vieh gezüchtet, dafür gesorgt hat, dass der Betrieb weiterläuft, wird missachtet. Aber der Sünder wird hofiert. Und das ist in der Geschichte so, weil es kulturanthropologisch und auch in der Menschheitsgeschichte festgelegt ist, dass dieses Verhalten Gewinn abwirft. Nämlich, dass die Mächtigen mächtig bleiben, denn daran ist die Evolution interessiert, weil Stabilität nur durch Macht entsteht. Katastrophen entstehen immer dann, wenn die Macht sich als ohnmächtig erweist. Die Ohnmacht der Macht ist das Schlimmste, was einem gesellschaftlichen System passieren kann.

VL: Aufklärung heißt für Sie Enttäuschung. Das finde ich interessant, dass man seine Täuschungen verliert.

BB: Sehr richtig. Da haben Sie das Entscheidende gesagt. Wenn wir sagen, aufklären müssen wir die Leute, die Vorurteile haben, z. B. gegen Fremde, aufklären müssen wir die Leute, die Vorurteile gegen Migration haben, aufklären müssen wir die Leute, die einen falschen Begriff von Nationalismus haben usw., dann heißt das, wir müssen sie von ihrer Täuschung durch diesen falschen Begriff von Fremdheit, von Migration, von Nation befreien. Wenn man jemanden von einer Täuschung befreien will, kann man ihn nur ent-täuschen. Also ist alle vernünftige Aufklärung seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine große Kette von Enttäuschungen. Jeder Mensch, der Vernunft hat, ist von der modernen Kunst enttäuscht. Aber das genau ist seine Leistungskraft. Er glaubt nicht, dass Künstler kleine Götter sind, die irgendetwas in die Welt setzen können, was über alles Existierende hinausgeht, die die Zukunft voraussehen, all diesen Unsinn, den der Geniekult oder Gotteskult in die Welt gebracht hat. Nein, die Realität sieht ganz anders aus und das heißt enttäuscht sein, aber der Fortschritt der Menschheit besteht darin, angesichts der Wahrheit dessen, was der Fall ist, zu bestehen.

Ich habe einen Vorschlag gemacht. Der Papst wollte das Glaubensbekenntnis ändern, in dem ja steht, „und führe uns nicht in Versuchung“. Lieber Gott, behüte uns vor der Versuchung? Nein, der Spruch muss heißen „und führe uns in Versuchung, damit wir uns in der Versuchung bewähren können“. Das ist der Sinn von Versuchung. Also geht es darum, in der Enttäuschung über den ausbleibenden Budenzauber, Enttäuschung über den allmächtigen Gott, Enttäuschung über die Weltregierung und alle die schönen Phantasien standhaft zu sein, mannhaft zu bleiben, nicht zu kapitulieren, dennoch Mensch zu sein, dennoch Künstler zu sein, dennoch Unternehmer zu sein, der alle diese Geschichten akzeptiert als das, was sie in Wahrheit sind, und nicht aufgibt in seinem Programm des Humanismus oder der Menschlichkeit oder wie immer man das historisch bezeichnet hat.

VL: Gibt es Erkenntnisse in dieser Krise, wo Sie sagen: da bin ich oder da sind Menschen enttäuscht worden? Im positiven Sinne?

BB: Ja, ich sehe Menschen um mich herum, denen ich nicht zugetraut hätte, dass sie zugeben, enttäusch worden zu sein, und zu erkennen, dass das die Basis für eine produktive Arbeit in der Zukunft ist. Nicht sich abfrühstücken lassen, sich nicht damit beruhigen, dass die Krise nicht alles anders machen werde, wir nichts zu tun hätten, alles wunderbar, die Krise sei dazu da, uns zu bekehren, uns zu besseren Menschen zu machen. Alles Schwindel.

Nein, sie sagen, wir lassen uns diesen Schwindel der Propaganda von den Mächtigen im Kapital oder in der Politik, im Sozialen nicht länger zumuten, wir packen an, wir machen das, was wir als richtig vertreten können, wir lassen uns nicht mehr beirren durch irgendwelche großartigen Versprechungen im Hinblick auf die bessere Zukunft. Kein Teufel glaubt mehr an eine bessere Zukunft. Es geht um die Gegenwart und darum, sie zu verstehen, nicht alles auf das Reich Gottes zu schieben, in die Zukunft zu verschieben, in die Welt der Kinder, Hauptsache, es gibt eine Vorstellung von einer wunderbaren Zukunft, während die Leute hier im Dreck ersaufen. Nein, das wird nicht mehr akzeptiert.

VL: Ein Beispiel?

BB: Die Krise hat gegenwärtig ziemlich deutlich werden lassen, wer tatsächlich etwas im Kopf hat und wer nicht. Alle, die sich verführen lassen zu Euphorie, zu Rederei über das ganz Andere und die neue Welt, sind eigentlich die Propagandisten oder Vertreter von Idiotismus jeder Art, ob religiös oder wirtschaftlich oder politisch oder was immer. Das ist jetzt das Entscheidende: Die harten Tatsachen anerkennen. Zum Beispiel ist die Mutation von Viren in der Natur etwas völlig Selbstverständliches. Ein völlig anderes Verständnis, etwa zu sagen, die Wissenschaftler hätten sich selbst als die größten Dummköpfe erwiesen, als sie den Begriff des Anthropozäns entwickelten, also eines neuen Erdzeitalters, das durch die Macht der Menschen bestimmt werde. Die Welt wird durch die Menschen gemacht? Völliger Irrsinn. Was wir sehen in der Ökokatastrophe, der Klimakatastrophe, ist ja gerade das Gelten der Naturgesetze und nicht die Macht der Menschen. Das ist doch gerade der Witz: anzuerkennen, dass wir keine Macht über die Natur haben. Wir müssen uns arrangieren, wir müssen durchkommen wie alle anderen Lebewesen, Strategien des Überlebens entwickeln, Vernunft zeigen im Hinblick auf Anpassungsfähigkeit gegenüber so natürlichen Vorgängen wie der Mutation von Viren. Wir leben mit diesen Kleinstlebewesen, wir haben viel mehr von diesen in uns, als wir wissen, jeder Mensch besteht zu einem höheren Maße, als wir uns vorstellen können, aus Biomasse fremder Lebewesen, das ist die Basis unseres Lebens. Wie kommen wir also jetzt plötzlich dazu, gegen die Viren anzutreten, als seien sie der Gottseibeiuns? Das ist absurd. Das sind Schwächlichkeiten von Leuten, die von der Natur nichts verstehen, aber zum Glück auch vom lieben Gott nichts. Der lässt sich auch nicht länger betrügen.

VL: Vielen herzlichen Dank, Herr Brock, für das Gespräch.

„Optimisten sind Volksverdummer“. Bazon Brock im Gespräch mit Vera Linß über die Coronakrise
DLF Kultur, 11.04.2020

siehe auch: