Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.
Frankfurter Rundschau, Bild: Bruderküsse.

Erschienen
18.12.1993

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
18.12.1993

Advent

Ist denn das die Möglichkeit – oder vielmehr nicht? Da schreibt ein Bankier aus Berlin in einer FAZ-Anzeige an den "sehr geehrten Herrn Dr. Rau", um ihn zu bitten, "die an Sie herangetragene Kandidatur nicht anzunehmen", die Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten.
Was sich der Briefschreiber Ehrhardt Bödecker da herausnimmt, sind ein paar schlichte Fragen, die offenbar nur als bezahlte Anzeige vorgetragen werden könnten; denn Rau ist ja nun wirklich ein ehrenwerter Mann. Oder wollte der Bankier vor allem demonstrieren, wie teuer ein paar Selbstverständlichkeiten inzwischen geworden sind?
Bödecker fragt: wie hält es der Kandidat Rau mit dem Grundprinzip demokratischer Verfahren, nämlich mit der Anerkennung von Mehrheitsentscheidungen durch die unterlegene Minderheit? Zwar habe Rau ausdrücklich bekundet, daß die Mehrheitsentscheidung des Bundestages für Berlin als Hauptstadt gelten müsse um dann aber postwendend diese Entscheidung von seiner Stastskanzlei unterlaufen zu lassen. Peng.
Ein Bundespräsident muß sich aber jederzeit vorbehaltlos für die Durchsetzung demokratisch getroffener Entscheidungen einsetzen. Peng, peng. Also habe Rau eine entscheidende Voraussetzung für das Amt nicht; logo!
Von jedem ostdeutschen Kandidaten für ein höheres Amt in der BRD werde verlangt, daß er die DDR-Diktatur aus demokratischer Überzeugung abgelehnt habe, zitiert Bödecker korrekt die Einstellungsrichtlinien. Sollte diesen Nachweis nicht auch ein westdeutscher Kandidat erbringen? Oh Schreck. Selbst Kanzler Kohl komme als Präsident nicht in Frage, weil er ja ... Honecker in Bonn, roter Teppich, Hymne, Milliardengeschenke ... Also Rau auch nicht wegen der Schönfärberei der DDR im NRW der 70er und 80er Jahre. Wie wolle Rau die Opfer des DDR-Regimes da wohl als Präsident vertreten? Ja, wie?
Als Präsident aller Deutschen komme nur in Frage, wer sich ohne Einschränkung für die Ostdeutschen eingesetzt und die Vereinigung vorbehaltlos gewünscht habe. Hat das Rau? Na bitte!
Was nun? Die Herren Rau und Bödecker wollen sich bei einem Schoppen treffen, natürlich mit Begleitung - Bodyguards, Clement, Frau Christina, Kinder, Kerzen; ob da was ankommt, gar richtig adventlich, frohe Botschaft von Bruder Johannes: jawohl, der Mann hat recht, ich trete zurück?
Das gibt's doch nicht! Weiß denn nicht wenigstens Clement Rat? Doch: "Da lachen aber die MitbürgerInnen, verehrter Herr Bödecker: Sind Sie so harmlos wie ein Bankier niemals sein darf? Werden nicht Parlamentsbeschlüsse sogar als Gesetze ständig unterlaufen, z.B. von Unternehmern im Waffenexport, bei der Abfallbeseitigung; von Steuerzahlern, von Politikern bei der Parteienfinanzierung; von Interessenverbänden durch Lobbypressure? Müssen nicht alle Demokraten ständig gegen legale Mehrheitsbeschlüsse zur Selbstversorgung der Parlamentarier kämpfen, weil die nicht legitim sind? Na also, wahre Demokratie zeigt sich im Kampf gegen denokratisch getroffene Entscheidungen! Haben Sie das verstanden?"
Bödecker schluchzt: ,,Aber, dann wäre ja die Demokratie ein häßlicher Kampf gegen die Legalität im Namen der Legitimität - ständige Aufforderung zum Unterlaufen der Gesetze? Und wer sagt, was legitim ist?"
Die Adventskerzen flackern, weil Clement so tief Luft holt: "Was legitim ist oder nicht; darüber entscheidet die Mehrheit, die ein legitimes Interesse hat, legale Entscheidungen zustande zu bringen, damit echte Demokraten wissen, wogegen sie legitimerweise angehen können mit legalen Mitteln! Alles andere ist bezahlter Journalismus, illegitim!"
Feierliche Adventsstille. Rau segnet die Plätzchen und die leere Flasche. Die Demokratie leuchtet ihnen heim.