Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 480 im Original

Band IX.2.2 Schlagzeug und Farborgel

Bildhauerei

In: Kunstforum International, Bd. 73/74, 5-6/84

1 Allgemeines Tamtam

Das Duisburger Wilhelm-Lehmbruck-Museum ist eines der bedeutenden Zentren für die Konfrontation des Zeitgenossen mit jener Form künstlerischen Schaffens, deren altdeutsch klingender Name "Bildhauerei" gegenwärtig unerwartet metaphorische Züge offenbart. Als die Madonna von Max Ernst den Jesusknaben verdrosch, hatten bereits eine Reihe von Künstlern derartige Demonstrationen von Arbeitswut gegeben, daß man sich fragt, warum bis dahin die Kindeszüchtigung, nicht aber die Werkzüchtigung durch den Künstler Thema tiefenpsychologischer Studien geworden ist. Freud hat zu diesem Problem einige Hinweise auf den Bildhauer Michelangelo gegeben; aber mehr als Beispiele für den allgemeinen Fall von Ambivalenz sind aus der Analyse des Gewaltpotentials in künstlerischem Schaffen bisher nicht durchgedrungen. Beiträge zur Duisburger Ausstellung Bella Figura, die Karl-Egon Vester gut geplant und im Kontext der Kölner expressionistischen Plastik, sowie der Basler Skulpturen im Merian-Park gut plaziert hat, lassen uns das Fehlen von tiefenpsychologischen Studien über die Ambivalenz künstlerischen Schaffens wieder zu Bewußtsein kommen.

Selbstverständlich kann ich weder hier noch überhaupt eine solche Analyse bieten, aber Stichworte zu Beschreibung von Täter und Tat drängen sich förmlich auf.

Künstler sind als Zeitgenossen einerseits geprägt durch objektive Tendenzen, die mehr oder weniger alle Mitglieder einer Kulturgemeinschaft erfassen; andererseits legt ihr Wirkungsanspruch den Künstlern nahe, eben jene, die Allgemeinheit erfassenden Tendenzen zu einem so hohen wie möglichen Grad selber bestimmen oder zumindest beeinflussen zu wollen. Eine der objektiven Tendenzen, die unter dem Namen Jogging-Bewegung firmiert, zwingt scheinbar unwiderstehlich gerade die selbstbewußten Individuen zu einem recht gleichförmigen Verfahren, ihre psycho-physische Balance aufrecht zu erhalten. Die Spekulationen über den Erfolg dieses eigentlich primitiven Verfahrens laufen bisher darauf hinaus, daß physische Ermüdung im Laufen sich auch psychisch als Sedativ auswirke, und zwar wirke dieses Sedativ durch die Erfüllung eines Glücksverlangens; die Erfüllung stellt sich mit dem Erlebnis der Erschöpfung ein. Erschöpfungslust zu erfahren, scheint den Individuen unter den Bedingungen ihrer professionellen Arbeit im Alltag nicht mehr möglich zu sein. Andererseits sind die Erregungen und Anstöße seelischer Prozesse in diesem Alltag so dicht und unvermeidbar, daß es zu einer Übersensibilisierung und zu einer zerstörerischen Überreaktion kommen würde, wenn diese seelische Bewegung nicht aufgefangen, also durch physische Erschöpfung stillgestellt werden könnte.

Auch unter den Künstlern macht sich seit einigen Jahren verstärkt die Tendenz bemerkbar, der ewigen intellektuellen Problematisierung des eigenen Metiers dadurch die Spitze, die arbeits-hemmende Unruhe zu nehmen, indem sich die Künstler verstärkt auf Formen des Schaffens einlassen, die es ihnen erlauben, sich physisch auszuagieren. Der seelischen und intellektuellen Erregung im künstlerischen Schaffensprozeß wird mit den bildhauerischen, wie allen aktionsbetonten Tätigkeiten, unter enormen physischen Anstrengungen, unter Einsatz des eigenen Körpers und seines vollständigen Bewegungsrepertoires ein Gegengewicht geboten. Die Erschöpfungslust läßt sich als Prämie rücksichtslosen Einsatzes bei der Pflichterfüllung erleben.

Erfolge am Kunstmarkt, die rapide Zunahme der Wertschätzung einzelner auffälliger Leistungen, scheint den Künstlern nicht weniger, sondern mehr seelische Belastungen und intellektuelle Anstrengungen zu bringen als der Mißerfolg, oder das Arbeiten in der Anonymität. Gegen den dauernden Zwang zur Rechtfertigung des eigenen Tuns, der zugleich sich auch zu einer zwangsläufigen Selbstpropagierung unter kommerziellem Erfolgsstreben auswachsen muß, sind die Künstler offensichtlich bemüht, die Erschöpfung ihrer Aktionspotentiale und Energien als Frieden mit sich selbst nach vollbrachter Tat zu stellen; so verhindern sie offenbar, daß die beständige Überforderung ihrer Selbstrechtfertigung sich zur Arbeitsunfähigkeit steigert.

Bildhauerei als Arbeitsform scheint eine Art Jogging für Künstler zu sein. Oder, wenn man Penck nicht beim Worte packt, sondern seiner Bewegung folgt, dann stellt die bildhauerische Arbeit ungefähr im Kanon der künstlerischen Arbeitsprozesse jene Position dar, der bei den Musikern das Schlagzeugspielen entspricht. Auffällig war ja, ebenfalls seit Jahren, wie viele der jüngeren Künstler sich zugleich als Musiker betätigen - bis hin zur Veröffentlichung von Schallplatten und Musikbändern.

Ich will nicht so weit gehen, an einzelnen Beiträgen zur Bella Figura die Parallelen zwischen Aktionsformen der Schlagzeuger und der Bildhauer herauszuheben; dennoch kann man kaum von diesen Parallelen absehen. Nicht nur wird von beiden ganz unmetaphorisch "geschlagen", also zum Beispiel Material verdroschen, deformiert und damit akzeptiert; nicht nur, daß die physische Aktion bei Schlagzeugern und Bildhauern stets am Rande der Selbstaufhebung durch Zerstörung der Arbeitsvorlagen verläuft; es ist vor allem die auffällige Parallelität in der Art und Weise, wie Rückkoppelungen des Arbeitsprozesses auf den arbeitenden Künstler sichtbar werden. Wer mit Motorsäge oder Stichsäge, mit Hammer und Meißel ein Material bearbeitet, sozusagen freihandstehend und ohne Absicherung durch einen Arbeitsplan, dem man nur zu folgen brauchte, um die Arbeit sinnvoll zu Ende zu bringen, der erlebt sich selbst als Resonanzboden seines eigenen Tuns. Er erlebt in der Erschöpfung, daß er selbst schöpferisch war.

Die ständige Zunahme der Formatgrößen, die Künstler in den vergangenen Jahren zur Bewältigung wählten (allen voran die Maler), scheint unter diesem Gesichtspunkt den Sinn gehabt zu haben, die physische Präsenz des Werkes gegenüber dem Künstler zu stärken, um ihn zu einer härteren, kraftaufwendigeren und damit auch erschöpfenderen Anstrengung zu zwingen. Diese rauschhafte, fast ekstatische Konfrontation mit überlebensgroßen Körpern trat an die Stelle objektiver Kriterien der Beurteilung einer Gestaltungsaufgabe. Die imperialen Gesten ließen den Rückschluß auf so etwas wie heldenhafte Vergrößerung des Künstlers zu.

Am direktesten drückt sich diese Rückkopplung vom Werk auf den Künstler in Chias Bekenntnis aus, der Maler sei ein Schlachtenlenker, ein kriegerischer Held, der die Welt durch schöpferische Gewalt zwinge, sich in Kunstwerke verwandeln zu lassen.

Um Mißverständnisse klein zu halten, möchte ich nur kurz daran erinnern, daß mit dem Beginn des action paintings noch ganz andere Erfahrungen des Künstlers verbunden waren; damals war er vor allem daran interessiert, aus der Erstarrung vor der Leinwand, aus dem äußerst schmalen Repertoire der Handlungsformen eines Künstlers vor der Leinwand befreit zu werden. Im Wiener Aktionismus fehlt gerade die Rückkopplung vom Werk her; denn eine Blutspur auf Brokat darf ja kaum als Werk des Malers Nitsch angesprochen werden.

Meiner Ansicht nach ist die gesamte Tendenz zum Ausstieg aus dem Bild (als environmentale Dimensionierung von Bildwerken in ihren unterschiedlichen Ausformungen vom Flachrelief bis zum Kienholzmonument und vom Tafelbild als Attitüdenpassepartout bis zum Happening) vor allem als Versuch zu werten, nicht nur die Welthaltigkeit, sondern auch die Welthaftigkeit von Kunstwerken zu erhöhen. Auch in der Kunst will man sich durch Größe, Härte, Volumen, Dichte überzeugen lassen, wenn es einem Objekt oder einem Werk gelingt, andere zu verdrängen, sie sich einzuverleiben beziehungsweise sie aufzulösen. Es ist auch hier die Macht des Faktischen als einer möglichst unübersehbaren, widerstandsfähigen, herausfordernden, dinghaften Gegebenheit in der Welt, der man am ehesten Daseinsberechtigung zugesteht.

Von Alters her und von Natur wegen sind Stein und Metall die Materialien, denen Widerständigkeit, relative Unzerstörbarkeit und monumentale Dauer zugestanden wurden. Solche Vorteile sind aber zugleich auch als Nachteile erlebbar, vor allem in Zeiten gesellschaftlicher Unruhen und rapider Orts-Veränderungen. So ist auf dem Sektor der Bildhauerei das Ende der römischen Großplastik nicht etwa einer mysteriös oder durch barbarische Unkenntnis deformierten Technik zuzuschreiben, sondern der Tatsache, daß ausschließlich Kleinplastik im Fluchtgepäck der Völker mitgeführt werden konnte. Wenn gegenwärtig unerwartbar viele Künstler darauf drängen, ihre Skulpturen tatsächlich in Bronze und Marmor auszuführen, dürfte hinter diesem Wunsch auch das Bewußtsein stehen, mit solchen Objekten selbst Feuersbrünste und Bombenhagel weitgehend überstehen zu können. Außerdem und nebenbei: Bronze ist ein teures Material und überhöht deshalb auch durchschnittliche Gestaltungsqualitäten. Druck adelt, Bronzeguß fürstet.

Von den durch Vester in Duisburg versammelten Bildhauern, die eine imposante Figur abzugeben wünschen (»fare una bella figura«, heißt ja nichts anderes als Eindruck schinden), scheinen nach meinem Urteil Baselitz, Penck, Rennertz, Lüpertz, Kleine-Klopries, Mang und Wurm ganz ausdrücklich Einverständnis mit Bildhauerei als Schlagzeugspielen zu signalisieren. Die an ihren Arbeiten ablesbaren Entstehungsprozesse verweisen unbestreitbar auf die Einsicht der Künstler in die Ambivalenz von Schaffen und Zerstören. Denn offensichtlich liegt für die Künstler in der bildhauerischen Arbeit die Erfahrung, daß es eine Grenze gibt, an der Gestaltung stets in Zerstörung umschlägt. Wenn ein Tafelbild "versaut" ist, kann man es immer noch übermalen; mit wenigen Ausnahmen lassen sich auch fortwährend Korrekturen anbringen. Im skulpturalen Gestalten, das aus dem Abtragen und Wegschlagen des Ausgangsmaterials besteht, kann schon ein Hieb zuviel die gesamte Arbeit ruinieren. Im Detail läßt sich kein einmal durchgeführter Arbeitsschritt widerrufen. Für das plastische Arbeiten, das von einem Grundgerüst aus durch modellierendes Hinzufügen von Material gestaltet, ist der Widerruf nicht mehr möglich, wenn etwa eine Gußform hergestellt wurde. Bildhauerei ist insgesamt also ein Schaffensprozeß, der dem Künstler sowohl den Widerstand und die Eigengesetzlichkeit des Materials, wie auch die Eigengesetzlichkeit der körperhaften Gestalt und dinghaften Form (im wesentlichen durch den Zwang zur Koordination von mindestens vier Ansichten der Körper) so zumutet, wie das weder Malerei noch Grafik vermögen.

In der Tat wirkt ja auch das grandioseste Gemälde in gewisser Weise immer auch zugleich etwas schwach und hilfebedürftig; sobald man dem Gemälde die Hängewand, gar die weiße der Galerie, des Museums oder des Wohnzimmers vorenthält, verliert es seine Präsenz in erheblichem Umfang. Vollgültige, vollumfängliche, berserkerhaft durchdringende Handgeburten - Gott schuf schließlich auch aus Lehm und nicht als Zeichnung auf dem Sand sein Geschöpf -, dieses gebärende Hervorbringen von Welt bedarf keiner Krücken, keiner Hintergründe, keiner Umstände; es ist um so triumphaler, je leerer der Ort, je wüster die Stätte seines Entstehens und Daseins.

Man kann gut nachempfinden, wie Künstler heute die weiße Wand bereits als lächerliche Anmaßung der bürokratischen Papierwelt empfinden; wie sie ins Freie hinauswollen, ins Offene, in Wind und Wetter, in die Arbeit der Jahreszeiten, ans Licht der Sonne. Wie vergeblich waren bis heute alle Versuche, in Ausstellungsräumen Beleuchtungsqualität zu erreichen, die auch nur entfernt dem Naturlicht ähnelte. Wie rührend wirkten die Versuche von Edward Munk, von Anselm Kiefer oder auch Immendorff, ihre Gemälde unterm Holzschuppendach, an Außenfassaden oder an Flußschiffahrtssignalen überwintern zu lassen. Mehr Künstlermut und größere Künstlerkraft sind gefordert, wo es nicht gegen Windmühlenflügel, sondern gegen den Wind selbst zu kämpfen gilt, gegen die Schwerkraft, gegen die Materialschwäche.

Auch unter diesem Gesichtspunkt scheinen sich in den bildhauerischen Werken von Archipenko, Brancusi, Laurens, Lipschitz, Zatkin und Picasso die bedeutenderen Leistungen der Avantgarden des Jahrhunderts zu manifestieren. Heute, so jedenfalls glaube ich, spüren bereits viele, daß der Plastiker und Skulpteur Picasso, zumindest vom gegenwärtigen Augenblick her, den Maler und Zeichner Picasso dominiert. Die Bildhauerei stellt nun einmal höhere Ansprüche an künstlerische Fähigkeiten als jede andere Gattung - eine Tatsache, die natürlich auch auf die Architektur und sogar noch auf das Objektdesign sich auswirkt.

Die Duisburger Ausstellung wird natürlich in einem Innenraum gezeigt. Das scheint mir zum eben Gesagten nur äußerlich im Widerspruch zu stehen. Entscheidend sind die Interpretationen der arbeitswütigen, werkzüchtigenden, erschöpfenden Gesten der Künstler, die sich in der Bildhauerei manifestieren. Sie erzählen, sie sind sprechend, ihnen läßt sich bereits eine Legende wie auch ein Rhythmus des Schaffensprozesses ablesen: Rhythmus der Anschauung, Rhythmus der verlebendigenden Vorstellung.

Zur Jugendzeit Michelangelos galten die Bildhauer noch als Barbaren, die in Staub und Steinsplittern, in Ton und Spansud wie Arbeitstiere wühlten. Auf sie sahen die inzwischen zu Akademikern avancierten Maler in relativ sauberen und vom sozialen Makel der bloßen Handwerkerei befreiten Bodeghen herab. Ut pictura poesis - auch die Malerei ist eine Wissenschaft; die Bildhauerei blieb Arbeit. Das erwies sich bald als Vorteil. Wo selbst Liebe Arbeit ist, sollten sich auch Künstler weniger auf Vorausinspiration und Ausdenkerei, weniger auf prometheische als epimetheische Fähigkeiten (vgl. ›Prometheischer versus epimetheischer Avantgardismus‹, Band VII, S. 136-146) verlassen. Wenn die Werke erst einmal da sind, wächst ihnen in der nachträglichen Aneignung sowohl durch den Künstler wie durch das Publikum eine sehr viel differenziertere, tiefere und ernstere Bedeutung zu, als sie irgendein Genius des Künstlers im voraus zu entwerfen vermag.

Vor kurzem hörten wir mit Begeisterung, wie sehr sich auch die Maler als Arbeitstiere empfinden, als sinnliche Malschweine. Auch wollen sie sich die akademischen Weihen vom Leibe kratzen, wie die Tiere des Feldes sich von Ungeziefer befreien. Arbeit in diesem emphatischen Sinn heißt auch für sie, das Abenteuer der Bedingungslosigkeit jeden Tag aufs Neue einzugehen, möglichst ohne Routine und möglichst ohne die zur Selbstgenügsamkeit verführenden technischen Fähigkeiten. Aber: wieviele solcher Abenteuer sind tatsächlich so intensiv, so alles verschlingend, so rückhaltlos aufopfernd, so gefährlich und Angstlust hervorkitzelnd wie jene, die jährlich Tausende von Gipfelbesteigern, Hochseeyachtrennern, Höhlenforschern, ja sogar Hunderttausende ordinärer Windsurfer, Teufelsbahnkunden und Volksmarathonläufer eingehen?

Gerade die Insider der Künste (inklusive der Künstler) sollten sich von Zeit zu Zeit die Frage stellen, ob nicht ein Großteil der Zeitgenossen allein deswegen für die Künste kein Interesse aufbringt, weil weder Werke noch Lebensformen der Künstler ihnen herausfordernd und stimulierend genug erscheinen. Schließlich sind nicht von ungefähr die Begriffe "Gipfelerlebnis", "Extremsituation" und "Erlebnisrausch" außerhalb der künstlerischen Aktionsformen und Aktionsbereichen entstanden. Es sollte auch zu denken geben, daß zumindest im 1. Weltkrieg noch viele Künstler, Literaten und Dramatiker das Geschehen auf dem Schlachtfeld für unvergleichlich erregend und insofern auch für überaus schöpferisch hielten, als nun einmal das gewaltigste Potential weltverwandelnder Kraft in der Zerstörung liegt …

Wie gesagt, noch heute oder heute schon wieder wagt ein Chia, das künstlerische Arbeiten mit der Kriegskunst gleichzusetzen. Daß Adolf Hitler von sich selbst und von der gesamten Garde seiner Gefolgsleute in erster Linie als genialer Künstler verstanden und gefeiert wurde, hat die Logik moderner Kunst für sich. Galt es noch bis ins 16. Jahrhundert als Herausforderung und Anmaßung des Künstlers, belebte Kreatur hervorbringen zu wollen, so schien es später viel weniger anmaßend und zugleich erfolgversprechender, von vornherein mit lebendigem Material zu gestalten. Das "Gestaltungsgut" ("Krankengut") waren die Menschen selbst. Insgeheim dürften die ambitioniertesten Künstler auch heute noch und wieder Wünsche auf Wirkung erheben, die denen Adolf Hitlers näherstehen als denen von Arno Breker - vorausgesetzt, Breker hätte überhaupt erstrangige Bildhauereien geschaffen.

2 Besonders die Farbe

In einem alle anderen überragenden Faktum scheint mir der Hinweis darauf zu stecken, daß das Verhältnis der Bildhauerei zur Malerei von vielen Künstlern heute nicht mehr als Fremdheit unvereinbarer Gattungen verstanden wird, sondern daß sie skulpturales und plastisches Schaffen schlicht und einfach als die größere Herausforderung ihrer Fähigkeiten, also als umfassender verstehen. Dieses Faktum sehe ich in dem auffälligsten Charakteristikum gegenwärtiger Bildhauerei, das sie von der Bildhauerei aller früheren Epochen seit dem Mittelalter unterscheidet, nämlich der auffälligen Bemühung, Bildhauerwerke zu bemalen. Natürlich kann man auch das bildhauerische Schaffen der Expressionisten bereits unter dieses Charakteristikum stellen. Die Kölner Ausstellung läßt in dieser Hinsicht durchaus interessante Hypothesen zu. Ich meine jedoch, daß jene Expressionisten in erster Linie eine dreidimensionale Umsetzung ihrer zuvor zweidimensional geschaffenen Bildwerke schufen - nicht zuletzt deshalb, weil ja die Malerei unter dem Einfluß der Holzschnitzereien afrikanischer und südpazifischer "Primitiver" gestanden hat. Die expressionistische Plastik scheint mir, zur Verdeutlichung sei das gesagt, einem Naturalismus der Bildlesekunst zu entstammen, das heißt, die expressionistische Plastik ist eine nachträgliche Erarbeitung des dreidimensionalen Motivs expressionistischer Malereien. Ihre Farbwerte schleppt diese Skulptur, soweit sie überhaupt betont werden, mit als Hinweis auf ihr Herkommen aus der Malerei beziehungsweise aus der gemalten ,,Südseexotik" und der Rückübertragung dieser Sichtweise auf mitteleuropäische Motive.

Unter den Kunstwerken, die Bella Figura bestreiten, gibt es nicht ein einziges, das ohne betonteste Reflexion auf den Zusammenhang von Farbe/Malerei und Körper/Bildhauerei bliebe. Nur für Mangs ließe sich behaupten, daß die Farbigkeit seiner Plastiken durch das verwendete Material Koks, Beton, Plastikfolie und Ziegelschutt, entstünde. Am auffälligsten wird das Problem bei Lüpertz, der seine Bronzen sehr reichhaltig und differenziert bemalt. Am einfachsten scheint es in den Arbeiten von Immendorff aufgefaßt, da in diesen Arbeiten die Farben durchweg als Lokalfarben, also als alltagsgemäße Eigenschaften von allerdings nicht alltagsgemäßen Formen identifiziert werden dürfen. Immendorff scheint seine Skulpturen und Plastiken zu bemalen, um ihre ikonographische Identifizierbarkeit zu erhöhen. Im bemalten Gipsmodell für die große Quadriga-Bronze, die jüngst in Zürich zum ersten Mal mit der neu geschaffenen Bodenplatte vorgestellt wurde, ist die Schneedecke weiß, die Eisscholle blau, beide zusammen bilden einen Architraven, beziehungsweise eine Deckplatte über den figurativen Pfeilern, die aus Adler, Pinselpython, Systemzwinge, DDR-Wachturm und Pferdeknochen mit stürzenden Quadriga-Rossen deutlich und unmißverständlich für die Alltagserfahrung identifiziert werden (also zum Beispiel die farbliche Differenzierung zwischen Gefieder, Kopf und Schnabel des Adlers etc).

So großartig die skulpturale Idee der "Zwei Sitzenden" von 1978 ist (Immendorff und Penck sitzen sich an einem Rundtisch gegenüber und präsentieren einander mit kraftvollen Gesten jeweils eigene Gemälde, die so groß sind, daß sich die Künstler hinter ihnen verstecken können), so banal und deswegen abschwächend wirkt die Bemalung dieser interessanten und gestaltreichen Holzskulptur. Doch muß man zugeben, daß diese negative Wirkung des Einsatzes von Farbe an der Skulptur, daß dieses Konzept von Farbe als Lokalfarbe der Skulptur nicht ein sinnloses Scheitern darstellt, sondern eine begrüßenswerte Thematisierung des Problems Farbe und Skulptur ist.

Auch Antonius Höckelmann bietet im Scheitern eine wesentliche Thematisierung. Er wagt ja, gegen alle Erfahrung, Styropor, Silberfolie, Polyester als plastische Materialien einzusetzen, obwohl das urteilende Auge und die urteilende Hand den Gebilden sofort ihre bildhauerische Kraft abspricht, sobald das verwendete Material als hyperleicht, aufgeblasen, luftig, weich empfunden wird. Natürlich verwendet Höckelmann diese Materialien bewußt, das heißt, gegen alle Erfahrung, er experimentiert mit ihnen insofern, als er zum Beispiel durch die Bemalung des Styropors, der Silberfolie, des Polyesters herauszufinden versucht, welche Gewichtung einerseits der Farbe und andererseits dem Material an der Identifizierung plastischer und skulpturaler Körper zukommt; vor allem ist die Frage, ob die Farbe in malerischer Auffassung, oder das Material in der Repräsentanz des realen Körpers unsere Wahrnehmung beherrschen, wenn wir, stets nur vor einer Ansicht des Körpers, zwangsläufig die uns gerade nicht sichtbaren Ansichten ergänzen. Bei den Höckelmannschen Werken wird diese Vorauserwartung der jeweils gerade nicht zugänglichen Ansichten durch die nicht nachvollziehbaren Verwindungen und Verdrehungen der Raumkörper sehr erschwert. Es ist interessant, daß, mindestens meiner Erfahrung gemäß, der Betrachter dazu neigt, Höckelmanns Skulpturen als bloße dreidimensionale Bildträger aufzufassen, also als 3d-Leinwand sozusagen. Gegen die Materialeigenschaften kommt die Farbe nicht an, so lautet das Fazit. Körperhaftigkeit in allen ihren Wesensbestimmungen läßt sich mit Materialien nicht realisieren, denen diese Wesensbestimmung fremd bleiben muß. Styropor, Silberfolie, Mull sind keine Materialien, die durch intensivste Bemalung als Träger skulpturalen Ausdrucks glaubwürdig werden.

Baselitz verwandelt die Oberflächen seiner großskulpturierten Köpfe durch Farbauftrag, der dem der Expressionisten sehr nahe zu kommen scheint. Ich vermute jedoch, daß er, obwohl Baselitz ein historisch sehr beschlagener Mann ist, nicht die Skulpturen der Expressionisten gesehen hat und sich von ihnen etwas absah, sondern daß er der inneren Logik des Vorgangs gehorchte und zu sehr ähnlichen Konsequenzen kam wie die Expressionisten. Die Skulpturen von Baselitz entstammen dem Titanentum des Künstlers, der gestischen Exaltation. Er empfindet seine Meisterschaft als Maler bereits als gefährlich und sucht nach objektiven Widerständen, an denen er sich selbst noch erschöpfen, ja entgeistern und entleeren kann. Da er bisher Maler war, geben die Farbspuren seiner Skulpturen einen deutlichen Hinweis auf die ganz andere gestalterische Kraft und schöpferische Mühsal, die eine Skulptur gegenüber dem bloßen Farbsetzen auf Leinwand bedeutet.

Penck hingegen, der Schlagzeuger und Vitalbolzen, dem man kaum noch glaubt, daß er vor Kraft überhaupt seine Bewegung beherrschen kann, übersetzt seine Skulpturen, teilweise wie Höckelmann, in dreidimensionale Bildträger; zum anderen, vor allem in der Bearbeitung von Holzstämmen durch Axt und Pinsel, balanciert er auf der Grenze zwischen Gestaltung und Zerstörung, zwischen Farbigkeit aus dem Spiel des Lichts in skulpturalen Formen und der Verfremdung einer Skulptur durch Bemalung. Der Betrachter wechselt ständig hin und her zwischen dominierendem malerischen und dominierendem skulpturalen Eindruck der Arbeit. Ganz zweifellos haben Pencks Taillierungen eines Baumstammes, zum Teil ein halbes Dutzend Taillen übereinander, im Titanismus der Beherrschung einer an sich bis zum Ende, bis zur Zerstörung gewalttätig vordringenden Geste, spannungsreichen Ausdruck geschaffen, der uns Aspekte des Werkes von Brancusi nahelegt, die wir bisher überhaupt noch niemals gesehen haben.

An dieser Stelle wiederhole ich, was ich des öfteren ausgeführt habe, was nun durch die Duisburger Ausstellung eindeutig belegt wird: die sogenannten Neuen Wilden sind keine Neoexpressionisten; Lüpertz, Penck und Baselitz sind es schon gar nicht. Vielmehr zwingen uns die unerwarteten schöpferischen Kräfte dieser Künstler zu einer ganz neuen Sicht auf die Expressionisten. In dieser Fähigkeit, uns vermeintlich Bekanntes und Vertrautes auf neue Weise wahrnehmen zu lassen, beweist sich die avantgardistische Kraft der, in herabsetzender Weise, sogenannten Neuen Wilden.

Um die eigentliche Leistung von Lüpertz, Wurm, Kleine-Klopries erkennen und anerkennen zu können, muß man sich in Erinnerung rufen, wie bisher die Beziehungsformen von Farbe und Skulptur ausgelegt worden sind. In der Antike waren Skulpturen zum größeren Teil (wie auch die Architekturen) bemalt, allerdings nur mit wenigen reinen, also unvermischten Farbwerten, die ungefähr so zu verstehen sind, wie die Farben auf einem neuzeitlichen Atlas. Dort sind Farben nur Allegorien von Tiefe und Höhe, von Land und Meer, von sumpfig und felsig, von waldig und wüstenhaft; sie dienen ausschließlich der besseren Lesbarkeit der Landkarte und sind so gewählt, daß sie untereinander möglichst problemlose Anschlüsse, beziehungsweise Verlaufsgrenzen bieten.

Im Mittelalter waren Bemalungen von Körpern farbenpsychologisch zu verstehen. Sie verwiesen auf die Kraft der Farben, ein erlebendes Subjekt von einem Gemütszustand in einen anderen zu überführen, aus einer seelischen Befindlichkeit (irdisches Jammertal) in eine andere (Läuterung auf dem Heilswege) und gar in eine dritte (Vorstellung des himmlischen Paradieses) zu leiten.

In der Renaissance schließlich entdeckte man die Lokalfarbe als eine natürliche Dingeigenschaft. Schließlich ist im Barock eine symbolische Farbwertigkeit entstanden, die wir heute am besten im Rot der Ampel identifizieren können.

So eindeutig, wie das hier erscheinen mag, war aber die Trennung zwischen den Auffassungen der Farbwertigkeiten nicht. Auch im Mittelalter wußte man, daß jedes Bild und jede Farbe einen vielfachen, zumindest aber einen vierfachen Sinn besitzt, etwa in dem Sinne, wie man heute jedem Zeichen zumindest drei Dimensionen zugesteht. Der heutigen syntaktischen Zeichendimension entspricht der mittelalterliche allegorische Bildsinn: Landkartenfarbe; der heutigen semantischen Zeichendimension entspricht der alte sogenannte materiale oder historische Bildsinn: Dingfarbe; dem heutigen pragmatischen Zeichensinn entsprach der alte symbolische Bildsinn: rote Ampel; der heutigen sigmatischen Zeichendimension entspricht der alte anagogische Bildsinn: zum Beispiel Farbtest nach Lüscher.

Die besondere Leistung gegenwärtiger bildhauerischer Arbeiten, die sich auf das Problem Skulptur und Farbe einlassen, besteht nun darin, Farbe als Strukturmerkmal, Farbe als natürliche Dingeigenschaft, Farbe als Symbol und Farbe als psychologische Kraft gleichzeitig und im Wechsel jeweiliger Dominanzen vorzuführen.

Bei Wurm, Kleine-Klopries und Lüpertz werden im Umschreiten der Skulpturen und Plastiken jeweils alle diese Wertigkeiten von Farbe nacheinander durchgespielt und vorgeführt, so daß von einer Ansicht die Farbe nur unterstützend die skulpturalen Qualitäten, zum Beispiel Tiefe und Dichte des Körpers ausbildet und betont, also die Lesbarkeit der Skulptur erhöht. Von einer anderen Ansicht her wird dem Betrachter die Versuchung aufgenötigt, die Farbe als Lokalfarbe zu identifizieren, wodurch die Skulpturen in ihrer formalen und materialen Analogie zur Körperhaftigkeit des Menschen gestärkt werden. Von einer dritten Seite her vermögen die Farben den emphatischen Übertragungsimpuls der Bewegungsdynamik entscheidend zu verstärken, indem auch farbpsychologische Übertragungswirkungen ins Spiel gebracht werden. Und schließlich erreichen es diese Bildhauer, uns sogar symbolische Farbwertigkeiten mit entsprechenden Handlungsappellen nahezubringen.

Für diese Dimension mag man in erster Linie die Pietà von Kleine-Klopries aus Legosteinen, Eisen, Pappe und Gips als Beleg ansehen. In ihr wird das Problem der Symbolfarben auf eine lakonische und so bisher noch nie gewagte Weise zum Thema erhoben. Als zweidimensionales Zeichen sind Farbsymbole heute auf der ganzen Erde uniform verbreitet, als Skulpturen lasen wir bisher bestenfalls bemalte Flugzeuge!

Insgesamt markiert die Ausstellung Bella Figura für Farbe-Skulptur enormes Problembewußtsein der Künstler, die sich bisher eher schwer taten mit dem Aufspüren von Kairos, also des günstigsten Augenblicks. Es scheint sich zu bewahrheiten, was ich seit 1977 mit Verweis auf Baselitz, Penck und Lüpertz vertreten habe, daß nämlich auch für die zweite Hälfte des Jahrhunderts - ebenso wie für die erste - im skulpturalen und plastischen Arbeiten die bedeutsamsten Veränderungen der Künste erzwungen werden. Endlich haben sich nun die großartigen Maler so weit entwickelt, daß sie es wagen können, Bildhauer zu sein.