Buch Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit

Die Gottsucherbande – Schriften 1978-1986

Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986. + 1 Bild
Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Bild: Köln: DuMont, 1986.

Als deutscher Künstler und Ästhetiker entwickelt Bazon Brock die zentralen Themen seiner Schriften und Vorträge aus der spezifischen Geschichte Deutschlands seit Luthers Zeiten.

Die Geschichte der Künste, der Alltagskultur und des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland wird von Brock jedoch nicht nacherzählt, sondern in Einzelbeiträgen von unserer unmittelbaren Gegenwart aus entworfen. Nur unter dem Druck des angstmachenden radikal Neuen, so glaubt Brock, ist die Beschäftigung mit der Geschichte sinnvoll und glaubwürdig. Seiner Theorie zufolge lassen sich Avantgarden geradezu als diejenigen Kräfte definieren, die uns zwingen, die vermeintlich bekannten und vertrauten Traditionen neu zu sehen. »Avantgarde ist nur das, was uns zwingt, neue Traditionen aufzubauen.«

Kennzeichnend für die Deutschen schien ihre Begriffsgläubigkeit zu sein, die philosophische Systemkonstruktionen als Handlungsanleitungen wörtlich nimmt. Nach dem Beispiel des berühmten Archäologen Schliemann lasen die Deutschen sogar literarische und philosophische Dichtungen wie Gebrauchsanweisungen für die Benutzung der Zeitmaschine. Auch der Nationalsozialismus bezog seine weltverändernde Kraft aus der wortwörtlichen Umsetzung von Ideologien.

Durch dieses Verfahren entsteht, so zeigt Brock, zugleich auch Gegenkraft; wer nämlich ein Programm einhundertfünfzigprozentig erfüllt, hebt es damit aus den Angeln. Diese Strategie der Affirmation betreibt Brock selber unter Berufung auf berühmte Vorbilder wie Eulenspiegel oder Friedrich Nietzsche.

Es kann dabei aber nicht darum gehen, ideologische Programme zu exekutieren, so Brocks Ruinentheorie der Kultur, vielmehr sollten alle Hervorbringungen der Menschen von vornherein darauf ausgerichtet sein, die Differenz von Anschauung und Begriff, von Wesen und Erscheinung, von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Denken sichtbar zu machen. Das Kaputte, Fragmentarische, Unvollkommene und Ruinöse befördert unsere Erkenntnis- und Sprachfähigkeit viel entscheidender als alle Vollkommenheit und umfassende Geschlossenheit.

Andererseits entstand gerade in Deutschland aus der Erfahrung der menschlichen Ohnmacht und des kreatürlichen Verfalls immer wieder die übermächtige Sehnsucht nach Selbsterhebung, für die gerade die Künstler (auch Hitler sah sich ernsthaft als Künstler) besonders anfällig waren. Dieser permanente Druck zur ekstatischen Selbsttranszendierung schien nach dem Zweiten Weltkrieg der Vergangenheit anzugehören; mit der Politik der Ekstase glaubte man auch die Kunst der ekstatischen Erzwingung von Unmittelbarkeit, Gottnähe und Geisteskraft endgültig erledigt zu haben. Doch unter den zeitgenössischen Künstlern bekennen sich wieder viele ganz offen dazu, Mitglieder der Gottsucherbande zu sein, die übermenschliche Schöpferkräfte für sich reklamieren. Die Gottsucherbande polemisiert, wie in Deutschland seit Luthers Zeiten üblich, gegen intellektuelle und institutionelle Vermittlung auch ihrer eigenen Kunst. Bei ihnen wird die Kunst zur Kirche der Geistunmittelbarkeit; sie möchten, daß wir vor Bildern wieder beten, anstatt zu denken und zu sprechen. Gegen diese Versuche, die Unmittelbarkeit des Gefühls, der begriffslosen Anschauung und das Gurugesäusel zu erzwingen, setzt Brock seine Ästhetik.

Erschienen
1985

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
von Velsen, Nicola

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
3-7701-1976-2

Umfang
558 S. : Ill. ; 25 cm

Einband
Gewebe: DM 78.00

Seite 53 im Original

Band VI Die Kunst als Kirche

Gegen die Banalität der Macht

Überarbeitete Fassung eines Vortrages für die 13. Darmstädter Werkbundgespräche zum Thema ›Wer gestaltet die Bunderepublik‹, Mai 1984

»Je wissenschaftlicher die Zeitbildung, desto unschöpferischer ist sie. Man glaubt nicht mehr so recht an das Evangelium der Naturwissenschaften und ist einigermaßen übersättigt von Induktion. Man dürstet nach Synthese. Die Tage der Objektivität neigen sich dem Ende zu, und die Subjektivität klopft an die Tür. Man wendet sich zur Kunst. Religion ist Kunst nach Goethe; Politik ist Kunst nach Bismarck; Philosophie ist Kunst nach jedem, der diesen Begriff deutsch und unbefangen auffaßt, So zeigt es sich wiederum, daß alle höheren Geisteskräfte nach dem einen Begriff der Kunst gravitieren. Stellt man den Begriff der Kunst, der logisch ohnehin an die Spitze des menschlichen Daseins gehört, auch real an die Spitze, so ist die Aufgabe einer wahren Bildung gelöst.« (1)

Wie oft haben wir dergleichen Deklarationen in jüngster Zeit gehört und bedacht, und sie sind ja auch bedenkenswert, wo nahezu jedermann Wissenschaft und Kunst als einander entgegengesetzte Kräfte glaubt verstehen zu müssen. Dieser Aberglaube wird offensichtlich gestützt durch Umwelterfahrungen, Expertenkarneval und öffentliche Handwaschungen, die die arrogante Unschuld der Wissenschaft gegenüber dem Leben bezeugen sollen; und daß man sich in Massen zur Kunst wendet, haben wir gerne als Versuch gewertet, wenigstens von den Aufgaben wahrer Bildung hören zu wollen. Das Bedenkenswerteste aber an der zitierten Deklaratoon des Endes »der Objektivität« besteht darin, daß sie vom Beginn unseres naturwissenschaftlichen Zeitalters stammt.

Julius Langbehn formulierte so vor rund hundert Jahren und erzielte unter diesen Fanfarenstößen einen der größten Publikationserfolge seiner Zeit. Die Postmoderne gab es eben nicht nur auf diesem Gebiet vor der Moderne. Aber solche, für manchen noch überraschende Feststellungen werden das Saisongefasel vom Ende der Moderne und die triumphierende Besserwisserei derjenigen, für die die Moderne ein Evangelium war, nicht beenden können.

Worauf läuft der Schrei nach Synthese hinaus; was soll die Kunst an der Spitze der Hierarchie aller menschlichen Geisteskräfte leisten können? Nicht nur in abgeschlossenen Zirkeln, sondern in aller Öffentlichkeit werden die großen pathetischen Gesten aus ungestillter Sehnsucht nach einem durch Heldentum sinnerfüllten Dasein vorexerziert.

Allen voran beweihräuchern sich durchaus nicht die schlechtesten unter den Künstlern, Literaten und sonstigen großen Männern, als seien sie bereits wieder Priester eines Heilsversprechen: und eines Heilsplanes, die man aus den Künsten nur hochgestimmt herauszulesen habe, um Kunst als säkularisierte Kirche zu autorisieren.

Von der Kunst an der Spitze der Hierarchie wurde zumindest seit der Romantik erwartet, eine soziale Institution vom Range und von der Autorität der Kirche darzustellen, in der die bis dahin unbestrittene Rolle des christlichen Schöpfergottes nunmehr von schöpferischen und darin Gott kollegial zugewandten Großmenschen übernommen werden konnte. Diese säkularisierte, also allein aus dem Menschenleben auf Erden legitimierte Kirche verwandelte den göttlichen Heilsplan in einen ›humanitären Sozialplan‹: honorierte durch Zitat auf Kunst- und Poesiekalendern das Martyrium der Selbstzerstörung von Künstlern, die ihre künstlerische Überzeugung rücksichtslos sich selbst gegenüber durchsetzten; inszenierte jüngste Gerichte im Abonnement und garantierte Auferstehung zu ewigem Ruhm in Lexikonexistenzen.

Der Aufstieg der Künste »an die Spitze des menschlichen Daseins« hat tatsächlich eine Logik, wenn auch eine andere, als Langbehn meint. Von der Kunst im Dienste der Kirche, über die Kunst gegen die Kirche im Glanze der Höfe, zur Kunst als Kirche – für, gegen, als: Das ist die Logik jeden Aufstiegs zur Macht.

»Die Phantasie an die Macht« mag zunächst nur eine Aufforderung gewesen sein, verknöcherten Bürokratien durch die Drohung mit ihrem Untergang Beine zu machen, damit das Leben aus sich selbst heraus kräftig vorwärts zu stürmen vermöge. Immerhin bleibt Macht dasjenige, was zumindest sanften Terror im Namen des unmittelbaren Lebens verbreitet. Biokratie! Aber schließlich war auch der Programmruf »Zurück zur Natur« ein Machtanspruch wie »Keine Macht für niemand!« Zur Erfüllung dieser Forderung schienen es die Künste schon gebracht zu haben. Ihre freiwillige Beschränkung auf sogenannte kunstimmanente Fragestellungen überzeugte das Publikum zum Beispiel im Museum. Dort schienen die Kunstwerke höflich darauf aufmerksam zu machen, daß man ihnen an diesem Orte nicht allzu bedeutsame Fragen stellen dürfe; bestenfalls solche nach Proportionen und Kompositionen und Herstellungsverfahren, da die Moderne, also die abstrakte Kunst, ohnehin keine Ikonographie besitze, also nichts anderes bedeutet als ihre bloße Vorhandenheit. ›Biokratie‹ auch der lebendigen Kunst.

Diese demokatisch lobenswerte Selbstbescheidung der Künste, verständlich vor den Jahrhundertansprüchen sozialistischer, nationalsozialistischer und werbewirtschaftlicher Totalitarismen, bedeutete natürlich einen enormen Verzicht auf Wirkungsanspruch für den Künstler als Helden, will sagen, als Vorbild für all jene, die selber Macht erwerben wollten, und sei es nur die Macht über das eigene Leben.

Das Ende der Bescheidenheit der Künstler ist nicht nur ausgerufen worden, es ist längst zu konstatieren. Wer aus historischer Erfahrung heraus sich noch äußerste Zurückhaltung vor kulturstaatlichen »Kraft durch Kunst«-Programmen auferlegt, wird nicht mehr eingeladen, darf nicht mehr mit den Prinzen spielen, mit Oberbürgerrneistern Museen eröffnen und mit Bankchefs in Ankaufskomitees sitzen.

Entstehungsgeschichte der Moderne

Na und? Was ist so fatal an dieser Situation? Seit Lucius Burckhardt und seine Kollegen, allen voran Wolfgang Pehnt (2), 1977 die Entstehungsgeschichte der Institution Werkbund nachzeichneten, und seit Armin Zweite und seine Kollegen, allen voran Sixten Ringbom, 1982 ihre Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der abstrakten Kunst publizierten (3), wird die Erkenntnis immer unabweislicher, daß der Beginn der abstrakten Kunst und damit auch der Beginn jener Moderne (von der die Postmodernen reden) nicht als ein Versuch zu werten ist, die weltanschaulichen Wilhelminismen loszuwerden, sondern vielmehr eine Radikalisierung dieser bedeutete.

Diesen Modernen ging es keineswegs darum, die Waberlohe der Wagnerschen Kunstreligion auszulöschen, oder Rudolf Steiner: pädagogische Provinz aufzulösen; ganz im Gegenteil. Nicht nur Kandinsky, Franz Murr und Schönberg, sondern auch Dadaisten wie Hugo Ball bekundeten, daß ihnen Wagner und Steiner nicht weit genug gegangen waren; Wagner nicht, weil er noch kultur- und epochenspezifische Unterscheidungen gelten ließ; Steiner nicht, weil er zwar ein mächtiger Prophet des Lebens, aber eben doch kein professioneller Künstler gewesen sei.

Abstrakte Kunst als Signum der Modernität sollte die Befreiung von historischen Sprachformen und eine Transzendierung des menschlichen Erdendaseins erzwingen. Nicht rationale Kalküle, nicht Kampf gegen Stilmischmasch und Ornamentalschwulst markieren diesen Beginn. Der Beginn dieser Moderne war durch das johanneische Christentum geprägt. Das hieß: Wenn Kreis, Quadrat und Dreieck, wenn Blau, Rot und Gelb vergegenständlicht werden, dann bringen sie in uns, jenseits aller kulturellen Unterscheidungen, kosmische Kräfte zum Schwingen, weil unser Weltbildapparat, mit dem wir Wahrnehmungen tätigen und interpretieren, nichts anderes ist als ein Resonanzboden abstrakter Geisteskräfte, deren Gesetzmäßigkeiten im gesamten Kosmos verbindlich sind. Insofern uns diese Kräfte bestimmten, wird das Abstrakte konkret; deshalb konnte die abstrakte Kunst in gewisser Hinsicht als die konkrete beschrieben werden. Dieser Anspruch der Moderne kam in den 50er Jahren noch einmal kurzfristig ins Gespräch, als man die abstrakte Kunst zur allein evidenten Weltsprache ausrief.

Bevor Steiner auf den Programm-Namen »Goetheanum« verfiel, hatte er in München einen Johannesbauverein gegründet. Heute weiß man, daß seine Spekulation über die Geschichte des 9. Jahrhunderts, also über den Zusammenhang von Gralskönigtum und johanneischer Heilsgeschichte von unglaublich intuitiver Kraft war. Aus verständlichen Gründen hat Steiner den Programm-Namen »Johannes« gegen den Goethes eingetauscht; die »Apokalypse des Johannes« lag zu nahe; eine goethesche »pädagogische Provinz« als Kolonie des Geistes schien unverfänglicher.

Die Moderne dieses Jahrhunderts, die Moderne der abstrakten Kunst, verdankt sich der Optimierung von Machtstrategien der Künstler. Sie addierten Wagners und Steiner: Heilslehren, wie später Sozialismus und Nationalsozialismus , addiert wurden. Wie die Blut- und Bodenmystik erst unter Bedingungen technischer Rationalität wirksam zu werden vermochten, so ließen sich Wagners und Steiners Programme erst als abstrakte Kunst zu Kräften umformen, die – wie Thomas Mann es formuliert – »das Äußerste in jeder Richtung liefern. Aufschwünge und Erleuchtungen, Erfahrungen von Enthobenheit md Entfesselung, von Freiheit, Sicherheit, Leichtigkeit, von Macht und Triumphgefühl; … vor allem aber die Schauer der Selbstwerehrung, das köstliche Grauen vor sich selbst, unter denen der Künstler wie ein begnadetes Mundstück, wie ein göttliches Untier erscheint«.

Thomas Mann hat im 1947 erschienenen ›Doktor Faustus‹ wie niemand vor ihm (außer Schönberg in seinen Schriften) Einsichten in diese Entstehungsgeschichte der abstrakten Kunst und der Zwölfloumusik formuliert. Daß der ›Doktor Faustus‹ in jüngster Zeit so wenig Interesse fand, erklärt sich aus unserer Unkenntnis über eben diese Entstehungsgeschichte der Moderne, die uns alle nun einholt. Unverständlich erschien es bisher, warum Thomas Mann behaupten konnte, die Ideologie des Dritten Reiches sei der durch Wörtlichnehmen pervertierte Idealismus der Moderne. Selbstmitleid und die Schicksalsergriffenheit der modernen Künstler analysiert Mann als entscheidenden Antrieb ihres Geltungsanspruchs. Diese Kunst verfällt dem Teufel, weil sie aus der Selbstaufopferung des Künstlers lebt.

Untiere und Mainzelmännchenrepublik

Nichts ist für uns heute, soweit wir überhaupt etwas Großes wollen, so kennzeichncnd wie das Verlangen, Schauder der Selbstverehrung, des Selbstmitleids und der Schicksalsergriffenheit angesichts der banalen Alltagsexistenz wieder erfahren zu können. Wir möchten eines jener interessanten Untiere werden, wie sie zum Beispiel der Münsteraner Philosoph Horstmann (4) mit so großer Zustimmung darstellt. Wer ein solches Untier nicht zu werden bereit ist, wird als Anhänger der Mainzelmännchenrepublik geschmäht, als Nullgröße, die kein Recht habe, öffentlich noch den Mund aufzumachen. (5)

Man muß sich interessant machen, ›ungeheuer‹ interessant, indem man bereit ist, mit den tatsächlichen Machthabern jede Schöpfung in erster Linie als Potential der Vernichtung zu verstehen. Aus der Ohnmacht angesichts endzeitlicher Drohungen wächst das Selbstmitleid. Ohnmacht ist nicht nur Gefahr, insofern sie dazu verführt, sich als Humanum aufzugeben, sondern sie ist vor allem gefährlich, weil sie ihr Gegenteil hervorruft, nämlich Widerstand als Politik der Ekstase oder als Kunst der Ekstase.

Wenn unter den Vorgaben der »wilden Malerei« irgend etwas beachtlich ist – außer daß sich hervorragende Maler zeigen –, dann vor allen Dingen, weil sie diese Kunst der Ekstase demonstriert, der wir uns gegenwärtig wieder zuwenden, nachdem wir uns dreißig Jahre lang erlaubt hatten, die Moderne, vor allem die abstrakte Moderne, als entscheidenden Bruch mit dieser Kunst der Ekstase anzusehen. Dadurch, daß wir bisher die Geschichte der Moderne so verfälscht haben, sind wir ihr jetzt besonders stark ausgeliefert. Die Tendenzen, unter denen wir das erfahren, seien mit einigen Stichworten skizziert.

Die auffällige Zunahme von Gewalttätigkeit, Folter, Quälerei und von Selbstverstümmelung, wie sie nur als Kunstaktionen vurkamen, zeigt, daß die Symbolisierungen sozialer Prozesse rapide von neuen Forderungen nach Unmittelbarkeit abgelöst werden. Die Rückkehr zur Unmittelbarkeit in der Konfrontation mit der physischen und psychischen Selbstwahrnehmung bedeutet nichts anderes als den Anstieg der Barbarei, und zwar im Namen der höchsten Ansprüche, die man als Mensch und zumal als Künstler stellt.

Die Rücknahme der Symbolisierung und die Zunahme der Konfrontation mit Realereignissen wurden von den Künsten schon programmatisch eindeutig erhoben, als kein Mensch daran dachte, daß diese Fragestellung für uns je wieder außerhalb des künstlerischen Experimentierfeldes der Wiener Aktionisten von Bedeutung sein würde.

Die zweite Tendenz ergibt sich aus der ersten: Kommunikation (als Begriff und Sachverhalt auf ähnliche Weise lächerlich gemacht wie »Vermittlung«) wird vorwiegend als Verletzung gefordert! Dahinter steckt ein gravierender Irrtum. Je radikaler die Kunst desto zwingender seien die Verletzung, die Selbstzerstörung; also auch die Aufopferung des Künstlers.

Die dritte Tendenz ist, daß das Identitätsdenken, die Identitätskrampferei grassieren, statt der Einübung in die Fähigkeit zur Lüge, in die Fähigkeit, die Differenz von Denken und Sprechen, von Anschauung und Begriff auszuspielen und zu kritisieren. Denn Aufklärung bedeutet, nicht die Identität zwingen zu wollen, sondern tatsächlich lügen zu können, denn nur in der Fähigkeit zur Lüge entwickeln wir die Verantwortung für die eigene Argumentation. Überall aber herrscht die natürliche Dummheit; die Dummheit und nicht die Lüge; leider die Dummheit und ihre spezifische Logik (6) und nicht Neid oder Profitgier. Es herrschen leider nicht Größenwahn und Egomanie, nicht Klassenkampf und Bruderzwist, sondern Dummheit.

Die Tendenzen greifen wie Zahnwerk ineinander: die Tendenzen zur Desymbolisierung und ›Unmittelbarkeit‹, die Tendenz zur ›Natürlichkeit des Denkens‹, also zur Dummheit, und die zur Reduzierung von Kommunikation auf Verletzung, also zum Selbstopfer als Vergöttlichungsstrategie.

Über diesen drei Tendenzen schwebt ein Geheimnis, das die Ästhetiker besonders gern als Tücke des Objekts beschwören. Wir haben es ununterbrochen mit Antworten zu tun, für die es gar keine Fragen gibt! Alle haben Probleme gelöst, die natürlich als solche nicht mehr sichtbar seien, weil sie gelöst sind. Wir haben vergessen, daß Probleme zu lösen immer nur heißen kann, neue Probleme zu schaffen. Die Tücke der Objekte, das Eigenleben, der Selbstanspruch oder das, was man die Systemzwänge nennt, werden nur noch als Rechtfertigung für jede Art von Versagen vorgeschoben; sie manifestieren sich als neuer Animismus, also als Glaube, der Geist sei durch uns hindurch in die Dinge selbst abgewandert.

Der Geburtsfehler der Aufklärung

Wenn es darum ginge, sich bloß wieder einer Art von erlebnissteigerndem Satanismus auszusetzen – damit könnte man in gewisser Weise fertig werden! Aber es geht nicht ums Böse, sondern leider um die Dummheit. Wir haben uns angewöhnt, diesen Gedanken in Hannah Arendts Hinweis auf die Banalität des Bösen zu akzeptieren. Aber der Einspruch gegenüber dieser Auffassung besteht darin, daß wir die Banalität des Heiligen nicht mehr aushalten wollen. Das Böse ist banal? Das möchte wohl jeder gern glauben. Daß aber das Heilige banal ist, vermochten bisher nur aufgeklärte Künstler zu zeigen, wenn sie unter Verwendung von Abfallprodukten und von Arbeitsmethoden, wie sie jeder handhaben kann, Werke schufen, die dennoch als etwas Einmaliges und Besonderes erfahren werden konnten. (7)

Gegenwärtig mutet man sich wieder zu, das Heilige zu heiligen, und darin werden die Künstler als Mystagogen und Priester wie eh und je in Anspruch genommen. Wobei sie natürlich, das ist verzeihlich, gern dieser Aufforderung nachkommen, weil damit ihr Selbstbewußtsein steigt. Nach dem Dritten Reich konnte man sich dem Heiligen nur noch im Gewöhnlichen aussetzen. Es war ja wirklich etwas ganz Wunderbares, zu erleben, wie rundherum nichts seinen inneren Logiken und Gesetzen entsprach, und dennoch die Gesellschaft nicht zusammenbrach. Es war ja wirklich etwas ganz Großartiges, daß wir mit Leuten zu tun hatten, die sagen konnten, was schert mich mein Gerede von gestern; die sagten, Programmatiken sind beschriebenes Papier, man muß nicht alles ernstnehnmen. Alles funktionierte eben, weil es nicht funktionierte. Nun aber will man es wieder erwartungsgemäß funktionieren lassen, und das wird sicherlich nicht ohne ganz entscheidende Katastrophen abgehen.

Die Heiligung des Heiligen geht auf Geburtsfehler der Aufklärung zurück. Dem Geburtsfehler, sich als Aufklärung eines Verbrechens verstehen zu wollen, das in der Tat nie geschah. Auch in der Kunst gab es jene vernehmenden Kommissare, die den Scheinwerfer der Aufklärung (Illuminismo, Enlightenment) auf ein Werk richteten und es so lange befragten, bis es ein Verbrechen zugab, das es gar nicht begangen hatte. Die Banalität der Künstlerantriebe, der Motivation wurde geleugnet. Es herrscht aber kein Satanismus unter solchen Tätern. Sich selbst eines Verbrechens zu bezichtigen, das man gar nicht begangen hat, ist eine Konsequenz des Rechtfertigungszwanges, unter dem Künstler seit der Romantik stehen. Es sind Konsequenzen unseres Aufklärungsvertändnisses, wenn wir ›AuflIärung‹ so verstehen wie in der sexuellen Aufklärung, als Aufklärung über einen Sachverhalt, der durch die Aufklärung überhaupt erst zum Problem wird. Bevor Mami vor das Kind tritt und fragt, ob es denn schon wisse, woher die kleinen Zinsen kommen, sind für das Kind weder die Sexualität noch der Kapitalismus ein Problem.

Die Aufklärung wäre eine Arbeit, die eigentlich besser Problematisierung heißen sollte und insofern unglaublich effektiv sein könnte, als sie eben nicht die Banalität des Wunders hervorkehrt, sondem die wunderbare Banalität sowohl der Zinswirtschaft wie der Fortpflanzung des Menschengeschlechts.

Nicht höhere Einsicht befähigt jemanden, über andere zu herrschen, sondern der Mut und die Bereitschaft, die Brutalität jeglicher Macht anzuerkennen, also sich auf Selbstverständlichkeiten einzulassen. Nicht höhere Einsicht, sondern das Verstehen des Selbstverständlichen.

Das eigentlich Beängstigende an der ›Kunst als Kirche‹ ist ihre Behauptung, man habe sich der Welt hemmungslos, mit offener Brust entgegenzustellen und aufopferungsbereit zu bekennen, nur mit dem Letzten und Höchsten zu tun haben zu wollen! Mit dem Leben, mit der Natur, mit dem kosmischen Gesetz.

Im Politischen wurde dieser Anspruch mit der Schmähung von Parlamenten, von Vermittlungsformen schlechthin, mit der Diskriminierung von Politik als einer von vornherein nur auf Vermittlung angelegten Auseinandersetzung vorgetragen. Die »Quasselbude« haben schließlich nicht die Nazis erfunden. Die Parlamente am besten in die Luft zu sprengen, war eine Empfehlung, die viele Künstler sinnvoll fanden und schon wieder lustig finden. Sie möchten ganz gern ihrem eigenen Untergang zuschauen in der Gewißheit, damit ihre Himmelfahrt erzwingen zu können. Aber Heil ist in der Kunst ebensowenig zu erzwingen wie in anderen Frömmigkeiten.

(1) Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher, Leipzig 1900 (40. Auflage).

(2) Wolfgang Pehnt: Ferne ziele, große Hoffnung – Der Deutsche Werkbund 1912-1924, in: L. Burckhardt (Hrsg.): Der Werkbund, Stuttgart 1978.

(3) Armin Zweite (Hrsg.); Kandinsky und München. Begegnungen und Wandlungen 1896-1914, (Katalog) München 1982.

(4) Ulrich Horstmann: Das Untier – Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, Wien 1983.

(5) Vgl. hierzu ›Heiligung der Filzpantoffeln‹, in diesem Band S. 24-33.

(6) Vgl. hierzu ›Die Logik der Dummheit‹. Band VIII. S. 295-322.

(7) Vgl. hierzu ›Ruine als Modell der Differenz‹, Band VIII, S. 176-190.

siehe auch: