Europa bleibt
Vor zwei Wochen hat Bazon Brock bei uns sein Manifest „Europa fällt“ publiziert. Jetzt erklärt er uns, wie wir wieder Hoffnung schöpfen. Müssen wir erst scheitern, um Europa noch zu retten?
Man hat sich daran gewöhnt, den Lauf der Geschichte wie den Lauf des menschlichen Lebens zu beschreiben: Vom Beginn zum Ende, vom Aufstieg zum Fall etwa des römischen oder des britischen Imperiums. Vor hundert Jahren hat Oswald Spengler unter dem Begriff der Kulturmorphologie die Analogie zwischen der Entwicklung des menschlichen Lebens und Nationen mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel „Der Untergang des Abendlands“ ausgearbeitet. Das Entwicklungsschema Geburt, Pubertät, kraftvolles Mannesalter, Glanz der Frauen, erfolgreiche Fortpflanzung, Glück der gesicherten Unabhängigkeit bis zum langsamen Verfall und Tod spart aber aus, was nach Meinung von Biografen und Literaten wirklich interessant ist: der unglaubliche Aufstieg nach dem Absturz; biografische Brüche als machtvoller Neubeginn.
Je radikaler das Ende, desto staunens- und rühmenswerter das Wandlungsgeschehen. Akteuren in Politik und Wirtschaft ist geläufig, den Wiederaufstiegs der Kriegsverlierer Japan und Deutschland als Wunder zu beschreiben. Demnach sollte Spenglers Kulturmorphologie nach dem Schema „Aufstieg und Fall“ entschieden korrigiert werden durch die Dynamik von tiefem Fall und neuem Beginn, von Krise und Gesundung, von Tod und Auferstehung.
Die hochmütige oder kopflose, die wohlmeinende oder bösartige Klage über das Versagen der EU lässt sich demnach ganz vernünftig als hoffnungsfördernde Voraussetzung für „Wandel durch Scheitern“ bewerten. Gescheitert ist der „Wandel durch Annäherung“ aller EU-Staaten an einen zentral vorgegebenen Standard, gescheitert ist also die Ideologie der Versöhnung durch Verschmelzen der Positionen. Das war das Konzept von 1776, nach der aus der Vielzahl eine Einheit werden sollte. „E pluribus unum“ markiert heute noch jeden Dollarschein als amerikanische Version von Demokratie als Melting Pot.
Die Heilung versprechende Krise der europäischen Einheit setzt gegen die Verschmelzung des Vielen zur Einheit die Einheit durch Verschiedenheit. Die Begründung für diese Forderung ist sehr einfach, aber deshalb umso anspruchsvoller. Der zentrale Begriff aller Kriseneuphorien bei den Rechten, den Nationalisten, den Identitären, also das Programm der Verpflichtung auf Identität, kann nicht einfach als unsinnig abqualifiziert werden. Aber statt erleichternden Rückzug aufs eigene Belieben zu kennzeichnen, lässt sich Identität sinnvoll, also logisch tragfähig nur erreichen durch die Würdigung, die ausdrückliche Wertschätzung derer, von denen man sich unterscheiden will. Denn die Vorstellung, die eigene Identität mit aller Gewalt durchzusetzen, sie über die Ansprüche anderer zu setzen, ist zum Scheitern verurteilt. Das weiß man besonders im geografischen Zentralstaat Europas, in Deutschland, das mit aller bis dato effektivsten Macht, also mit Waffengewalt, dem Rest Europas das Identitätsschema der arischen Reinrassigkeit, des Antisemitismus, der Germanophilie, des Blutadels der Kämpfer nicht aufzwingen konnte.
Wenn also heute die Ungarn und die Polen, die Basken und die Katalanen, die Serben und die Kosovaren ihre kulturelle Identität vom EU-Brüssel ausdrücklich gewürdigt sehen wollen, weil sie sie allein ja nicht durchsetzen könnten, dann wären sie verpflichtet zu rühmen und zu preisen, zu kennen und zu wissen, wie sie sich von ihren Nachbarn unterscheiden wollen. Die Katalanen etwa müssten, um in ihren Identitätsbehauptungen glaubhaft zu sein, wenigstens die Spanier und die Franzosen und unter denen wieder die eigensinnigen Ausprägungen von nationaler Identität in den Nachbarregionen lobend darstellen. Je höher die Selbsteinschätzung, desto größer muss die Würdigung dessen ausfallen, demgegenüber man den Anspruch auf Eigenwilligkeit und Eigensinn erhebt. Dazu gehören Kenntnisse der Nachbarn, Bildung des historischen Sinns und Training in der Darstellung des Großartigen im Fremden.
Zu beachten ist, dass die Ausprägung der nationalen Identität durch den Widerstand gegen die Französische Revolution und den napoleonischen Universalismus des Code Civil entstanden ist. Russen, Österreicher, Preußen, Engländer glaubten, sich gegen die Unterwerfung unter den universalen Geltungsanspruch des Code Civil, den Napoleon mit Gewaltmitteln in ganz Europa, ja in der Welt durchsetzen wollte, im Namen ihrer kulturellen Traditionen zur Wehr setzen zu müssen. Nach der französischen Besetzung Berlins 1806 formierte sich der Widerstand „der Deutschen“ auf allen Ebenen von Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ über E. M. Arndts „Mahnrufe an alle deutschen Gauen“ bis zu den Kampfliedern für das Schill’sche/Lützow’sche Schwarze Korps. Die Fixierung der Deutschen auf Frankreich, die deutsch-französische Erbfeindschaft, ergab sich aus der Tatsache, dass Revolution und Universalismus mit Frankreich identifiziert wurden. Die unversöhnliche Entgegensetzung von Frankreich und Deutschland wurde legitimiert durch den Widerspruch zwischen kultureller, nationaler, regionaler Identität und der globalen und zugleich universellen Geltung des Konzepts der Zivilisation, heute überführt in den globalen Kapitalismus.
Die geschichtslos Identitären vergessen, dass das Zusammenleben der Kulturen nur nach Regeln gesichert werden kann, die keiner dieser Kulturen entstammen, sondern transkulturell, international, universell formiert werden müssen. Die Kämpfer der kulturellen Identität gegen die europäische Einheit vergessen den Kampf der Kulturen untereinander, solange deren Verhältnisse eben nicht über eine zivilisatorische Brücke vermittelt werden. Erst die Verpflichtung auf eine universelle Zivilisation garantiert die Existenz der verschiedenen Kulturen, die sich sonst in permanentem Kriegszustand befänden. Genau diese Einsicht wird den Identitären durch die Krise der EU zugemutet.
Seit wann gibt es überhaupt das Konzept Europa? Der Berner Professor Nicolas Detering hat jüngst gezeigt, wie der Begriff „Europa“ seit dem späten Mittelalter in den Druckmedien entfaltet wurde. Und der Wuppertaler Chef der deutschen Rubens-Forschung, Ulrich Heinen, stellt in einer grandiosen, umfassenden Studie die beispielhafte Bearbeitung der Krisensemantik des alten Europas durch den Großkünstler Peter Paul Rubens dar. Zum ersten Mal gelang es einem Barbier, dem Tonsor des spanischen Königs, Pérez de Guzmán y Zúñiga, und einem Handwerksmaler, dem Antwerpener Rubens, als Vertretern des „einfachen, promisken Volkes“, Frieden zwischen England und Spanien zu stiften. Rubens entwickelte eine spezielle Bildsprache/Ikonografie, mit der er per Bildevidenz den Vertretern der hohen Stände in London zwischen 1628 und 1630 vor Augen führen konnte, worum es bei der Idee Europa ging: Das durch christliche Überzeugung bestimmte Europa, das vom Orient bedrohte Europa und das durch inneren Machtzwist sich selbst zerstörende Europa. Die Bildsprache zu diesen drei Topoi entwickelte Rubens mit staunenswerter, überzeugender, also zum Frieden beitragender Kraft.
Mit dem Beginn der humanistischen Weltsicht Mitte des 14. Jahrhunderts, mit Petrarcas Analysen der Vertreibung des Papstes aus Rom nach Avignon bis zum Pathos der Aufklärung des 18. Jahrhunderts entwickelt sich das Konzept Europa als weltgeschichtliche Einmaligkeit. Das ist umso erstaunlicher, als es zuvor in China, Persien, Babylon, unter Hethitern und Ägyptern, Griechen und Römern Kulturen gegeben hat, die an Macht, glanzvoller Selbstdarstellung und akkumuliertem Weltwissen dem Geschehen im damaligen Europa weit überlegen waren.
Noch staunenswerter wird die weltgeschichtliche Einmaligkeit der Idee Europa, wenn man sich daran erinnert, dass Europa ja nur ein winzig kleines Anhängsel der eurasischen Landmasse darstellt. Und tatsächlich hat dieser Schwanz Europa mit dem Hund Eurasien derart stark gewedelt, dass der Hund durch sein Anhängsel wie hypnotisiert war. Die Kraft dieses schwächsten Gliedes kam aus der in der Welt einmaligen christlichen Überzeugung, dass man vernünftig über Gott sprechen könne, weil Gott in Jesus Mensch geworden sei und sich damit jeder Einzelne als Gottes Geschöpf, als Gottes Inkarnation verstehen könne.
Es ist an der Zeit zu begreifen, dass die Trennung von Staat und Kirche als höchste Leistung der europäischen Aufklärung auf andere Weise als üblich begründet werden muss. Die Macht des Sakralen im christlichen Sinne setzte sich gerade im säkularen Staat durch, denn die christliche Botschaft konnte ihren universellen Geltungsanspruch tatsächlich nur im und als säkularer Staat verwirklichen. Was nur in den Gemeinden von den eigenen Gläubigen akzeptiert wird, ist eben nicht universell, sondern bleibt nur spezifisch. Beispiel: Alle Glaubensgemeinschaften verpflichten ihre Mitglieder, Hilfsbedürftige, Kranke oder Alte in ihren Reihen mit mildtätigen Gaben und Taten zu unterstützen. Der Gedanke solcher Diakonie wird erst recht außerhalb der Glaubensgemeinschaft wirksam, nämlich im Sozialstaat, der nicht dadurch weniger religiös fundiert bleibt, dass verschiedene Konfessionen an ihm partizipieren. Böckenfördes Diktum, der Staat lebe von Voraussetzungen, die er selber nicht geschaffen hat, ist darin bestätigt, dass der moderne säkulare Staat nur im christlichen Europa denkbar war und als Demokratie, Rechts- und Sozialstaat verwirklicht werden konnte. Das beweist die historische Wirksamkeit der Strategie, nicht denen zu predigen, die schon zu den Gläubigen gehören und auch nicht denen, die man zu Gläubigen machen will. Vielmehr gilt es, die Hochrangigkeit der Botschaft dadurch zu beweisen, dass sie sich jenseits der Glaubensgemeinschaften zur Geltung bringt.
Die sakralrechtlich organisierten Gemeinschaften und ihre pseudosäkularen Erscheinungsformen als Staaten sind auf sechs Quellen der Autorisierung beschränkt: die väterliche Autorität, die Autorität der Priester, die Autorität der Gemeindeleitungen, die Autorität der Kämpfer und die Autorität von Tradition und von Sitte. Diese geringe Zahl von Autoritäten garantiert zwar Kontinuität des Lebens in den Gemeinden und damit eine rigide Sicherheit, behindert aber sehr stark die Anpassung an neue Herausforderungen in den Umgebungen der jeweiligen Kulturen.
Der säkulare Staat hingegen installiert neben den klassischen Autoritäten der Kulturen die Autorität von Individuen vornehmlich in der Rolle von Wissenschaftlern und Künstlern. Und das gilt als größte europäische Errungenschaft, ja als weltgeschichtliche Einmaligkeit. Wer Physik betreibt, kann sich nicht auf seine religiöse Zugehörigkeit berufen. Alle Gewaltmaßnahmen zur Etablierung von „verjudeter Physik“ im Dritten Reich wirken selbstzerstörerisch auf die Kulturen zurück.
Für die Arbeit von Künstlern und Wissenschaftlern gibt es nur eine Autorität, die durch Autorschaft. Hinter ihnen steht kein Volk, kein Bischof, kein Fürst, keine Bank, keine öffentliche Meinung, keine Gewohnheit, und sie haben trotzdem Autorität, die ihrer Wirkung nach über alle Autorität der Kulturen hinausgeht mit Entdeckungen, Erkenntnissen, Innovationen, die sich in allen Feldern des Lebens wirksam zeigen. Diese Einsicht wird in Artikel 5.3 des Grundgesetzes als Freiheit der Kunst und Wissenschaft festgeschrieben. Europäer sind also nur Zeitgenossen, die neben ihrer natürlichen Enkulturation in Sprach-, Glaubens-, Kochgemeinschaften die Autonomie von Künstlern und Wissenschaftlern, unabhängigen Richtern und Abgeordneten gelten lassen. Der herkömmliche Vorwurf, derart entfaltete Individuen seien nicht mehr zu sozialer Kooperation bereit, wird durch die Erfahrung widerlegt, dass diese Hochleistungsindividuen gerade zum eigenen Vorteil kooperieren, weil sie als starke Persönlichkeiten psychisch stabil genug sind, sich noch besseren anzuschließen, zum Beispiel bei der Berufung von Professoren oder bei Wahlkandidaten. Nur schwache Personen müssen um ihre Anerkennung bangen und werden deshalb dazu tendieren, Schlechtere als sie selber zu berufen oder zu wählen. Dieser Trend zur „Olympiade ins Negative“ ist der Grund für die schleichende Selbstaufhebung von Kulturen.
Vor diesem Hintergrund der Idee Europa diskreditierte sich die EU selbst, weil man jahrzehntelang „nach Brüssel abschob“, was bei verminderter Leistungsfähigkeit doch noch einen Versorgungsanspruch durchsetzen durfte. Das hat sich zwar erheblich verändert, aber der alte Ruch von undemokratischen Privilegien klebt an allem, was aus Brüssel kommt. Die Unabhängigkeit der Abgeordneten wird durch Fraktionszwang erniedrigt; die Blindabstimmungen über den Wust von Verordnungen, die rein quantitativ kaum jemand gründlich durchgearbeitet haben kann, grenzen an leeren Formalismus.
Bei all diesen Praktiken verwundert es nicht, dass so viele Wahlberechtigte Parteien zustimmen, die das Brüsseler Getue für überflüssig halten. Dafür könnte man Verständnis aufbringen, wenn diese tatsächliche Alternativen für die Erfüllung des Konzepts Europa bieten könnten. Da das bisher nicht der Fall ist, bleibt die Idee Europa eine Utopie, das heißt eine Ressource für die Kritik der Wahrheits- und Geltungsansprüche, die das heutige Brüssel erhebt. Bloße Irrtümer der Brüsseler erledigen sich von selbst. Aber um den Wahrheits- und Geltungsansprüchen mit Kritik entgegentreten zu können, bedarf es der Utopie Europa überzeugender und nachhaltigerer als des bloßen Austauschs von Personal und Parteien. Gegenwärtig versucht man an allen Fronten, nicht nur in Gottesstaaten und Parteidiktaturen, die Macht der Kulturen gegenüber der Freiheit von Kunst und Wissenschaft, von Abgeordneten und Richtern brutal durchzusetzen und sich den weltweit rasenden Kulturkämpfen als Gottesdiensten anzuschließen. Und sich damit Europas endlich zu erledigen. Dabei gibt es kaum einen Unterschied zwischen Firmenkulturen und Religionsgemeinschaften, zwischen Funktionären und Lobbyisten der Identitätsanmaßung und der Herrschaft des Kapitals. Gegen diese Kräfte steht die Idee Europa. Leider gibt es keine Gebildeten unter ihren Verächtern, sondern nur Verächter der Bildung. Deswegen dürfen die Bürger diesen alternativlosen Alternativen nicht die Kritik am Geltungsanspruch von Brüssel überlassen, damit die Wahrheit nicht zur schmutzigen Menschenfalle wird.