Zeitung Frankfurter Rundschau

Kolumne „Bruderküsse“

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Erschienen
16.11.1993

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
16.11.1993

Endlich

Seit Anfang dieser Woche sind wir also eine Union: die europäische Union keine Gemeinschaft mehr wie bisher, entschieden die EG-Außenminister, diese kalten Brüder. Und? Was soll das? Was ist der Unterschied zur bisherigen Sprachregelung? Na, ungefähr der von Ehe als Lebensgemeinschaft und Ehe als Partnerunion! Oder nichts? Oder etwa der Unterschied von unioniertem, vereinigtem Deutschland zu jener seligen Gemeinschaft der Brüder und Schwestern hüben und drüben. Du lieber Gott, wo sich doch alle nach der Liebesehe zurücksehnen und erst recht nach den Brüder- und Schwesterverhältnissen - wissen das die Unionisten nicht?
Was für besonders zynische Treppenwitze sich die Geschichte doch gerade dann leistet, wenn die Stufen nach oben wegbrechen. Da verabschiedet sich die Geschichte gerade von der UdSSR, der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken und verwandelt sie in die GUS, die Gemeinschaft unabhängiger Staaten, weil selbst nach 70 Jahren harter Bandagierung nicht zusammenhält, was man mit noch so guten Gründen nicht zusammenzwingen kann.
Und wir wollen zum selben Augenblick (geschichtlich gesehen, Danke für die Präzisierung, Lady Thatcher) die Gemeinschaft in eine Union zwingen (natürlich nur mit Zwang demokratischer Lobbyentscheidungen, Danke für diese Erheilung, Dr. Stoiber)?
Von der Sowjetunion lernen, heißt was? Von ihr nicht zu lernen, heißt jedenfalls so zu verlieren, wie sie verlor. Ist es das, was wir eigentlich wollen (im tiefsten, Verborgenen, -lnnern, Danke Dr. Enzensberger)?
Endlich nicht mehr vor drohenden Verlusten zittern zu müssen, weil nichts mehr uns gehört? Endlich keine Asyl- und Wirtschaftsflüchtlinge mehr, wenn es bei uns, uns Deutschen, nichts mehr zu holen gibt? Endlich nur noch zu sein wie alle anderen Habenichtse; Wollenichtse und Könnenichtse - selber kassieren statt zu spendieren? Endlich mit gutem Gewissen auf den Rechtsstaat pfeifen dürfen, weil wieder das Faustrecht des Stärkeren gilt, diesmal der stärkeren europäischen Rasse und Kasse? Endlich wieder so richtig nationalistisch sein zu dürfen, weil in der europäischen Union der französische Nationalismus auch der unsere sein darf, ohne daß wir dafür Prügel wie bisher beziehen? Endlich in der Union die Fesseln des Sozialstaates loszuwerden, wenn in ihr englische Verhältnisse herrschen werden, die man uns nicht als Rückfall ins 19. Jahrhundert in die Schuhe schieben kann?
Endlich doch noch jenes Programm der Völkerbeglückung realisieren dürfen – aber dieses mal als I NS, als internationalsozialismus ohne deutsche Alleinschuld. Geübt haben ja alle schon mal im Territorium der heutigen Union: Salazar, Franco, Petain, Mussolini, Hitler und deren zahlreiche Quislinge, resp. Kleinkopien in England, Irland, Flandern sowie in den Ländern der Beitragsaspiranten Ungarn, Polen, Kroatien, Tschechien (ohne Gewähr!).
Geübt haben wir alle: mit unseren vollumfänglichen Bekenntnissen zur Internationalität (pardon Multikulturalität) unserer Kulturarbeit - stellvertretend sei Herrn Direktor Ciulli gedankt für seine jüngste Initiative, allen bei uns lebenden kulturellen Minderheiten ihre eigenen Institutionen, z. B. Theater einzufordern.
Geübt haben wir, unsere. Kunstfertigkeiten als fundamentale sozialistische Basisarbeit (Kultur als Grundnahrungsmittel für alle) auszugeben - stellvertretend Danke an die Herrn Direktoren Peymann und Flimm, die nicht müde werden zu beweisen, daß nur große Theaterkunst die Gesellschaft vor dem politischen und wirtschaftlichen Bankrott retten kann. Geübt haben wir vor allem völlig schamfrei, ja stolz als Nationalisten des Bruttosozialproduktes - bedankt sei (einer für alle) besonders Herr Direktor Reuter, der so wahnsinnig erfolgreich vorführt, wie Deutschland durch ganz eigene innovative Produkte konkurrenzfähig bleiben kann; will sagen, wieder möglichst mehr verdienen kann, als alle anderen (na ja, die Japaner, aber die sind ja die Deutschen des fernen Ostens).
Übung macht den Meister, man weiß nur nicht wann. Also voran, voran. Oder "weiter so Deutschland", aber in europäischen Dimensionen. Oder besser hinauf hinaus aus der niederen Gemeinschaft in die christliche demokratische Union aller Länder. Und damit man's nicht gleich merkt:
Auf Hintertreppen, den imaginären Karriereleitern, ins europäische Haus. Und die oben ankommen, hissen ganz gleich die Fahne: I NS.
Alles Quatsch? Bloß ein neuer Treppenwitz der Geschichte? Aber einer, bei dem die Nationalisten vor Lachen tot umfielen, wenn sie nicht schon...