Zeitung Frankfurter Rundschau

Aufsatz anläßlich der Caspar-David-Friedrich-Austellung in der Kunsthalle, Hamburg

Erschienen
12.06.1974

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Issue
12.06.1974

Große Zeiten – kleine Leute. Projekt ‘73 feiert 150 Jahre Wallfraf-Richartz-Museum Köln

KÖLN. Für Übersichtsleser ein Fazit vorweg: Das Problembewußtsein heutiger Künstler hat ein Niveau erreicht wie nur in wenigen hervorragenden Epochen zuvor. Eine bemerkenswerte Entwicklung vollzieht sich, die durchaus mit jener der Frührenaissance vergleichbar ist. Mitte des 15. Jahrhunderts war die Kunst durch Arbeiten von GHIBERTI, BRUNELLESCHI, della FRANCESCA, ALBERTI zur Avantgarde der Wissenschaften geworden, besser: diese Künstler begründeten eine neue Form wissenschaftlichen Arbeitens.
Heute wird aus den inzwischen extrem verselbständigten Formen des wissenschaftlichen Arbeitens eine neue Form des künstlerischen Arbeitens entwickelt, Wissenschaften und Künste haben weitgehend gleiche Ausgangslagen und Problemstellungen. Wissenschaftler greifen auf bisher für genuin künstlerisch geltende Verfahren zurück; Künstler wehren sich gegen die allgemeine Problematisierung ihres Geltungsanspruchs, indem sie versuchen, wissenschaftsanalog zu verfahren.

Schwierig ist diese Situation in folgender Hinsicht:
1. Wissenschaftler bemühen jene formale Kennzeichnung künstlerischer Produktion, nämlich das 'Ästhetische', die die Künstler weitgehend für abgewirtschaftet halten. So beurteilen Mathematiker ihre Operationen unter dem Gesichtspunkt "ästhetisch befriedigend/unbefriedigend". (Prominentester Vertreter: HEISENBERG.) Solche rein formale Verwendung von 'ästhetisch' hat sich kunstwissenschaftlicher Forschung zufolge als höchst anfechtbar erwiesen.

2. Künstler beziehen sich verstärkt auf einen Begriff von Wissenschaft, der als äußerst eingeschränkt zu gelten hat: Wissenschaft kennzeichnet für sie weitestgehend nur formale Operationen nach willkürlich festgelegten Regeln. (Prominentester Vertreter: Gruppe 'Art and Language'.)

3. Eine Frage bleibt es, inwieweit Künstler eben noch als Künstler die wissenschaftsanaloge Arbeit betreiben können und nicht eben doch Wissenschaftler werden müssen. Sobald Aussagen nicht mehr subjektgebunden sind, also nicht mehr in unmittelbarer Beziehung auf ihren Urheber gesehen werden müssen, kann die künstlerische Individualität wohl kaum aufrechterhalten werden. Wenn Kunst im Vergleich zur Wissenschaft nicht mehr einen prinzipiell anderen Weg zur Problembewältigung darstellt, sondern nur noch eine Variante, dann wird Kunstpraxis als ein ausgezeichnetes gesellschaftliches Handlungsfeld nicht mehr benötigt. Kunstwerke werden dann als Objekte bedeutungslos; sie werden zu reinen Instrumenten der Erkenntnis.

4. Die Vermittler, Verwalter und Verwender von künstlerisch wissenschaftlichen Arbeitsresultaten werden gegenwärtig vor Entscheidungen gestellt, denen sie nicht oder noch nicht gewachsen sind. Im Hinblick auf Wissenschaft ist das alltäglich in Gremien zu beobachten, die über Forschungsmittel und Akzentuierung von Forschungsplanung zu entscheiden haben. Im Hinblick auf die Kunst wird dieses Problem eben gerade wieder überdeutlich in der Ausstellung Projekt 74.

Die Ausstellung soll das 150jährige Bestehen des Wallraf-Richartz-Museums in Köln feiern - einer tatsächlich feiernswürdigen Kulturinstitution. Die Feier wird ausgerichtet vom Kölnischen Kunstverein, der Kunsthalle Köln und dem Museum. In der Einladung zur Teilnahme an der Ausstellung wurde auch der von Kunsthändlern getragene 'Kunstmarkt' als Feierer genannt. Hat man ihn fallenlassen, damit nicht "private Interessen" zum Zuge kommen? Das wäre ein sonderbarer Verzicht, da Angestellte städtischer Institutionen ebenfalls "private Interessen" ins Spiel bringen: z.B. das Interesse, sich einen Namen zu machen, um dadurch für Positionen empfohlen zu sein, die höhere ideelle und materielle Entschädigungen bieten. Ein Einwand gegen 'Privat' ist von dieser Seite völlig unangebracht, zumal auch 'Projekt 74' nicht ohne private Galerien zustande kommen konnte; z.B. nicht ohne die Galerie MAENZ (Köln/BrüsseI).
Die Jubiläumsfeier geriet trefflich dank dem beinahe einmaligen Engagement der Stadt Köln für das kulturelle Leben in ihren römischen Mauern. 660000 Mark standen für 'Projekt' zur Verfügung, nicht mitgerechnet den durchschlagenden Anteil von Presseamt und anderen kommunalen Einrichtungen; nicht mitgerechnet vor allem die Personalkosten. Die Feier des Jubiläums sollte also vor allem als Feier der einzigartigen kulturellen Aktivitäten der Stadt Köln gesehen werden.

Wie nun wurde gefeiert? 'Projekt 74' trägt das Motto 'Kunst bleibt Kunst'. Es soll auf die üblichen, üblen Reaktionen gegenüber den 'Zumutungen' gegenwärtiger Kunst anspielen: was immer da Künstler mit höchster Anstrengung von Einbildungskraft und Verstand an und vor die Wände bringen, sei alles belanglos, denn das sei keine wahre Kunst; große Kunst bleibe eben große Kunst, da könnten solche leibarmen Konstrukte nicht mithalten. So leibarm, gar unsinnlich ist das aber gar nicht, was in den vergangenen Jahren produziert wurde. Es muß den Kölner Ausstellungsmachern als höchstes Verdienst angerechnet werden, daß sie sich von jener dümmlichen, reaktionären, aber massiv vorgetragenen 'Kunst-bleibt-Kunst'-Schreierei nicht haben einschüchtern lassen.
Was die optische Seite der Ausstellungsstücke anbetrifft, so erinnere man sich der letzten 'documenta': die Anschauungs- und Gestaltungscharaktere des Kölner Materials halten sich mehr oder weniger im Rahmen der 'documenta 5'. Wir haben hier nicht Platz, die hervorragenden und entwicklungsbestimmenden Arbeiten von NAUMANN, PENONE, HORN, OPPENHEIM, BÖHMLER, CAMPUS, PAIK, SONFIST, BADURA, WALTHER, ACCONCI, BOLTANSKI, WELCH, POIRIER, LEVINE, LE GAC und KOSUTH darzustellen. Den durchschnittlichen und teilweise unterdurchschnittlichen Bestand der Ausstellung geben die Arbeiten weiterer 60 Künstler ab. Das ist eigentlich keine schlechte Trefferquote, wenn "das Allerneueste in den Blickpunkt" gerückt werden soll, wie der Vorauskatalog mitteilt; auch wenn das "Allerneueste" in der Ausstellung selten etwas bisher nicht Gesehenes darstellt. Dementsprechend schwer tun sich die Ausstellungsmacher mit der Festlegung des Zeithorizonts, gegen den das Ausgestellte als 'Allerneuestes' bestimmt werden kann. Zum einen wird, im Untertitel, von 'Kunst am Anfang der 70er Jahre' gesprochen, obwohl wir doch jetzt eher Mitte der 70er stehen. Zum anderen teilt der Katalog mit: "Damit konzentriert sich der Blick ausschließlich auf die Kunst des jetzigen Jahrzehnts", obwohl doch kein Mensch sagen kann, welches die Kunst eines Jahrzehnts ist, solange die Hälfte des Jahrzehnts noch in der Zukunft liegt.
Ich zitiere diese Unstimmigkeit, weil sie für jedermann zutage liegt. Gleiche Unsinnigkeiten kommen zuhauf in den begleitenden Kommentaren der Ausstellungsmacher vor. Sie liegen nicht für jedermann zutage. Und stellen doch das eigentlich Symptomatische an 'Projekt 74' dar. Wäre das Spekulieren mit Gedanken auf gleiche Weise folgeträchtig wie das Spekulieren mit Devisen, dann würden jetzt einigen Machern die Lizenzen entzogen. Besonders unter dem Druck der 'Kunst-bleibt-Kunst'-Ideologie kommt es darauf an, nach besten Kräften und vor allem glaubwürdig zu argumentieren. Sich nur auf die Wirkung hervorragender Werke zu verlassen, ist gefährlich. Seinen eigenen nachlässigen Umgang mit den Werken zur Empfehlung ans Publikum zu machen, ist verantwortungslos. Hoffen wir, daß nur vorübergehende Überforderung zu Formulierungen wie diesen treibt: "Robert BARRY verwendet Worte und Begriffe, die durch Worte bezeichnet sind, um etwas anzusprechen, was irgendwo zwischen der Welt der Wahrnehmung und der reinen Idee liegt."
Solche Ausdrucksohnmacht wird zum Haltungsfehler, wenn derselbe Autor wenig später schreibt: "Die Unerbittlichkeit, mit der die Gruppe versucht, Probleme nicht im Verschwommenen und Unklaren zu lassen, muß in der derzeitigen Reflexionslage als vorbildlich anerkannt werden." Dieses Urteil soll als Mitteilung ans Publikum verstanden werden, das sich in der Ausstellung nicht den 'unerbittlichen' Art-and-Language-Leuten gegenübersieht, vielmehr einigen vergrößerten Seiten aus den Arbeitsheften von Linguisten, die statt HEIDEGGER nun den CHOMSKY verehren. Zu den Tafeln und dem von ihren Verfertigern erhobenen Geltungsanspruch hört man kein einziges Wort. Dergleichen desaströse Fälle häufen sich in 'Projekt 74'.
Solches Vorgehen ist - Überforderung hin, naßforsches Selberdenken her - unstatthaft. Es grenzt zumindest an Delikte wie Selbstbetrug. Niemand fordert von Ausstellungsmachern derartige Kommentare. Werden sie aber gegeben, dann darf man sie wohl ernsthaft befragen. Das gilt auch für die Kommentare von Künstlern. Bestehen Künstler darauf, daß wortsprachliche Aussagen integraler Bestandteil ihrer Arbeiten sind, dann wird man diese Äußerungen auf ihre Begründung und Begründbarkeit hin befragen dürfen. Ja, jedes Publikum wird zu Recht davon ausgehen, daß für die Auswahl der Ausstellungsstücke in erster Linie das Kriterium der sinnvollen Begründung und Begründbarkeit von Künstleraussagen angewendet wurde. 'Projekt 74' ist ein zwielichtiges Unternehmen, weil die Haltungen und Einstellungen der Projektmacher zwielichtig sind. Dazu ein Hinweis auf das Konzept. Man glaubte offenbar, spielend dem Anspruch gewachsen zu sein, den die 'documenta 5' für thematische Ausstellungen gesetzt hat, indem man mit der Einladung an die Künstler eine Addition von Problemaspekten als thematische Klammer anbot. Bei der Eröffnung jedoch wurde schriftlich verbreitet "daß die Problemkreise ... erst nach Abschluß der Auswahl gebildet wurden, um vorprogrammierte Einengung zu vermeiden". Das sind nun wahrlich fragwürdige Einstellungen zu Aufgaben.
Mit den schließlich verwendeten Problemnamen 'Zeit', 'Wahrnehmung', 'Begriffssysteme', 'Formprobleme', 'Video' und 'Performances' hatte man jedoch immer noch kein Thema, sondern nur einen wohlklingenden Ersatz für "die alten stilistischen Orientierungen", deren Unzulänglichkeit nur durch ein Thema überwunden werden kann. Thematisierungen sind die eigentlichen Leistungen von Ausstellungen heute. Die Leistungen der Künstler sind etwas ganz anderes. Kein Werk geht in einer vernünftigen Thematisierung auf oder wird durch sie verstümmelt. Thematisierung und Werke müssen zwei selbständige Bestandteile einer Ausstellung bleiben, die aber wie Aussage und Beispiel miteinander in Beziehung gesetzt werden. Daß die Projektmacher von Köln sich über diese Anforderung nur hinwegmogeln konnten, bestätigt nachdrücklich die Leistung, die die 'documenta 5' als thematische Ausstellung erbrachte.
Es ist ein Zeichen mehr für die Fehlhaltungen der Kölner Macher, daß sie die 'd5' mit keinem Wort erwähnen - selbst da nicht, wo ihre Formulierungen mit denen der 'd5' fast wörtlich übereinstimmen. Große Zeiten - kleine Leute.

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