Buch Der Rest des Netzes

Fridhelm Klein. Mit Beitr. von Bazon Brock ...

Erschienen
1986

Autor
Brock, Bazon | Klein, Fridhelm

Verlag
Dt. Kunstverlag

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
3-422-06014-6

Umfang
79 S. : überwiegend Ill. ; 32 cm

Einband
engl. brosch.

Seite 13 im Original

Der ewig wandernde Barbar als Kulturheros

Wie würde wohl heute ein Schinkel von seiner Reise zu den griechischen Heiligtümern auf Sizilien berichten, wenn er als Künstler sprechen wollte und nicht nur als Archäologe, als Architekturhistoriker oder touristischer Genießer? Daß sich seit Schinkels Zeiten so erstaunlich wenig Künstler auf das Wagnis eingelassen haben, mit ihren künstlerischen Mitteln auf die Herausforderung der mittelmeerischen Kulturen als ursprünglicher Heimat Europas zu reagieren, kann kein Zufall sein. Sie haben wohl alle gespürt, daß sie, zumindest als Zentraleuropäer, dieser Konfrontation nicht gewachsen wären, beziehungsweise daß sie angesichts jener Natur und der Zeugnisse der in ihr entstandenen Kulturen konsequenterweise zur Aufgabe ihrer bloß individuellen künstlerischen Ausdrucksformen gezwungen worden wären.

Wen in jenen Landschaften kein eng umgrenztes wissenschaftliches Interesse wohltuend einschränkte, verlor sehr rasch den Glauben an sich selbst und seine künstlerischen Mittel: Was konnte es schon bedeuten, zeichnend und aquarellierend auf Kap Sunion zu sitzen, um das Tempelrestchen und die schwellende Erde zum bloßen Vorwand einer Tätigkeit zurückzustufen, die man an beliebigen anderen Orten auf genau gleiche Weise schon zigmal in distanzierender Könnerschaft praktiziert hatte?
Von denen, die sich auf das Wagnis einließen, ihre mühsam erarbeitete Identität aufs Spiel zu setzen, hat man zumindest als Künstlern nichts mehr gehört. Sie kamen von ihrer Odyssee nicht mehr zurück, sie blieben bei Circe oder verblichen als von Polyphem abgenagte Knochen in Felsenhöhlen. Die Unglücklichsten unter ihnen wurden als Stipendiaten deutscher Kulturinstitutionen registriert, um für den Rest ihres Lebens vergessen zu machen, daß sie in jener fernen Heimat die Sinnlosigkeit ihrer künstlerischen Privatexistenz erfahren hatten.

Ihnen fehlte das theoretische Verständnis ihres Tuns; denn Theoria, die anschauende Betrachtung, ist der Weg, sich selbst als Bestandteil eines Weltzusammenhangs zu erfahren. Solche Selbstverwirklichung des Menschen wird nämlich vor allem durch seine Fähigkeit bestätigt, die Welt als das zu nehmen was sie ist; dahin führt Theoria, die anschauende Betrachtung. Sie schließt nicht andere, immer weitere Horizonte zu einem neuen Zusammenhang. Das Ganze entsteht vielmehr durch Entgrenzung, durch Öffnung der Horizonte. In diesem grenzenlosen Ganzen gehen alle Künstler verloren, die in der alten Welt gerade durch deren Eingrenzung ein noch immer wohl überschaubares Ganzes glaubten erwarten zu können, wenn sie nur die einmalig schönen Horizonte als Grenzen abschritten. Aber sie geben sich und ihre Werke kleinmütig auf, sobald sich diese Grenzen als bloße imaginäre Schemata erwiesen.

Die Wallfahrtsakademiker sind im Grunde Idylliker, die ein kleines Reich inniger Wünsche nach Überschaubarkeit durch Steinwälle zu befestigen versuchen. Sie ahmen in der alten Welt nur nach, was ihnen in der unseren als Steinwall gesicherte Idylle überschaubar fremder Kulturen vorgeführt wird: das Museum, vornehmlich als Antikensammlung. Sie verpflanzen das Museum in die alten Welten, indem sie die geografische Heimat der Museumsgüter ebenfalls in ein Museum zu verwandeln suchen, ganz so, wie das auch die Animatoren des Kulturtourismus für ihre Kunden bewerkstelligen.

Die Landschaft wird zur Kulisse; die antiken Skulpturen werden zu Ausstattungsstücken eines Szenarios, dessen Akteure, die modernen Kulturtouristen, Arkadien spielen. Sie erfüllen für sich das zentrale Motto: »Auch ich war in Arkadien«, indem sie, zumeist fotografisch, ihre Anwesenheit dortselbst dokumentieren. Daß dieses Motto nur vom Tode sinnvoll gesprochen werden kann, akzeptieren sie nicht, sie, die dem Tod in seiner schöpferischen Zerstörungskraft keine Gewalt über sich zugestehen wollen. So picknicken und sonnen sie sich denn in ihrer »klassischen Antike«, der kleinbürgerlichen Idylle eines Disneylands ewiger, unvergänglicher Werke und Taten, ohne zu merken, daß sie selbst längst Tote geworden sind.

Kann man sie ins Leben zurückrufen, diese steinernen Gäste? Können Künstler sich selbst aus diesem Zwang zur idyllischen oder fachmännischen Beschränkung befreien? Fridhelm Klein jedenfalls versucht es. Er versteht sich als Entdecker gerade in entgrenzten Horizonten. Ein solcher Entdecker ist, wie Petrarca sagte, ein Wanderer, der nicht ängstlich darauf ausgerichtet bleibt, an ein Ziel zu kommen. Um sich auf den Weg zu machen, hat er sich von dem mühselig Zusammengerafften, Zusammengehaltenen und Bewahrten, das er sein Eigentum, sein Werk, nannte, getrennt. Statt vor der Kraft der schöpferischen Wandlung durch Zerstörung ängstlich hinter die Steinmauern seines kulturellen Besitzes zu fliehen, läßt er sich auf die Natur ein; denn sie lebt aus der Kraft des Todes, der Wandlung durch Vergehen. Er wird zum Wanderer in der von kulturellen Grenzschimären befreiten Natur. Ihren Kräften der Wandlung setzt er sich aus. Mit welcher Absicht? Als ein Selbstverwandelter Kraft zur Verwandlung zu sammeln.

Die Spuren seiner Wanderung, seine Arbeitsresultate, führt Klein uns nicht vor, um seine individualkünstlerischen Fähigkeiten auratisch zum Zeugnis der Schöpferkraft der Natur zu überhöhen (das wäre bloßer romantischer Geniezauber), sondern um unseren Blick auf die Zeugnisse der antiken Kulturen zu verwandeln; und das heißt, um uns die Frage nahezulegen, weIche Bedeutung die schöpferische Veränderung durch Zerstörung (Dämonie) sowohl für die antiken Kulturen wie für unseren sinnvollen Umgang mit ihren Zeugnissen hatte und haben sollte.

Klein bricht mit seinen Abtragungen und Übertragungen mittelmeerischer Naturprozesse in die klassizistische Stereotypie ein, indem er den dort versammelten Antiken etwas von Luft, Wasser, Erde und Licht ihrer Heimat zurückgibt. Aber auch die Natur ist ja inzwischen für uns nur noch als ruinöses Fragment rekonstruierbar; die Maßstäbe ihrer Erlebbarkeit in der alten Welt, die Zeugnisse der Kulturen von Griechen und Römern sind ihr entrissen und in unsere Museen verschleppt worden. Die stummen Steine verlieren dort ohne das Licht, den Wind und die Panoramik von Meer und Landschaften ihrer ursprünglichen Heimat an Ausdruckskraft und Maßstäblichkeit für den Menschen, weil sie sich nicht mehr in unmittelbarer Konfrontation mit den Kräften der natürlichen Zerstörung behaupten müssen.

Die Arbeiten von Klein versuchen, auf Lebensformen jener Menschen zu verweisen, die diese Kulturzeugnisse geschaffen haben, um sich selbst in der Natur und als Bestandteil der Natur verstehen zu können, als Wanderer; Odysseus ist ja nicht von ungefähr eine zentrale Gestalt dieser Kultur. Kleins Arbeiten verwandeln die fragmentierten marmornen Statuen wieder in lebende Menschen, die ihre Blicke einst vor der Dämonie der Natur, auch ihrer eigenen, niederschlugen; sie entwickelten ihre Seelen- und Verstandeskräfte in der Auseinandersetzung mit der über allen Verstand gehenden Schöpfung durch Zerstörung, wie sie die Natur ihnen demonstrierte. Damit solche Natur für die Griechen Heimat sein konnte und für uns wieder werden kann, sind wir gezwungen, die beängstigenden Prozesse schöpferischen Wandels in der Natur in Rechnung zu stellen als Gewalt, die ein für allemal unserer Verfügung entzogen ist, die unseren Kalkülen nicht unterworfen werden kann, und vor der wir uns nicht hinter Steinmauern kultureller Fiktionen zurückziehen können.

Kleins Arbeiten verschaffen diesen Kräften Zutritt in die Museen als Schutzhaftanstalten für antike Kultur. Sie geben diesen Werken Kräfte der heimatlichen Natur zurück. Die Antiken dürfen wieder für das stehen, was sie einst waren. Jedenfalls waren sie nicht Zeugnisse einer Kultur als Gegenwelt zur Natur, wozu wir sie in unserem eigenen Verständnis von Zivilisationstechniken nur allzu gerne gemacht haben. Sie waren Zeugnisse für den Versuch, die Dämonie der Natur, die der Schöpfung durch Zerstörung zu bannen, indem man den ewigen Wandel ohne Ziel akzeptierte und in die Kultur damit jene Dynamik aufnahm, die die Naturprozesse bestimmen. Die Dynamik der Veränderung muß freilich sichtbar gemacht werden, das heißt, kulturelle Zeugnisse als Markierungen dieser schöpferischen Wandlungsprozesse müssen bewahrt werden.

Seit der Antike besorgten das vor allem die Barbaren, die ewigen Wanderer, die gerade in ihrer Zerstörungskraft schöpferisch wurden, sobald sie gezwungen waren, darauf Rücksicht zu nehmen, daß sie zwar nur durch Zerstörung das ihnen Fremde erobern konnten, andererseits aber die Eroberung nur sinnvoll wurde, wenn man über das Eroberte noch verfügen konnte, es also bewahrte.

Kleins Arbeiten in der Glyptothek haben noch diese Kraft des Barbarischen; sie sind einerseits nur fragmenthafte Trümmer der auf sie einwirkenden Naturkräfte, bleiben aber andererseits gerade in diesem ruinösen Zustand von erstaunlicher Dauerhaftigkeit. Auch Klein vermag uns die Erfahrungen und Erlebnisse der Menschen in der Antike nicht identisch zu rekonstruieren, aber er ist mit seinen Arbeiten sehr wohl in der Lage, uns die Distanz erfahrbar werden zu lassen, in der wir (wie die Antike) vor der Natur und vor uns selbst (als Bestandteil der Natur) gebannt verharren; denn es ist für uns ebenso wenig wie für die Menschen der Antike entschieden, wie wir unsere Zukunft sichern können. Denn gerade, wenn wir die natürlichen Wandlungsprozesse als Schöpfung durch Zerstörung akzeptieren, geben wir uns ja eigentlich auf. Wenn wir Kulturen aber als Gegenwelten der Natur errichten, entziehen wir uns ebenfalls die Lebensgrundlage als Naturwesen, die wir nun einmal sind. Die Griechen wußten zwar einen Ausweg: Wir müssen Götter werden; aber daran hinderten sie die Barbaren, vor allem die christlichen, also wir. Heute folgen nur noch Touristen und Postkartenkünstler der griechischen Empfehlung. Lassen wir sie gewähren; denn es ist zu erwarten, daß sie nicht weit kommen werden.

Gebannt aber begleiten wir den dorischen Barbaren Klein in die Glyptothek, wo er die antiken Steine mit dem Prinzip des Schöpferischen konfrontiert, dem sie ihre Gestalt verdanken: der Zerstörung.

siehe auch:

  • Vortrag / Rede

    Fridhelm Klein: Der Rest des Netzes

    Vortrag / Rede · Termin: 01.01.1987 · Veranstaltungsort: München, Deutschland · Veranstalter: Glyptothek · Veranstaltungsort: Glyptothek, Königsplatz 3, 80333 München