Zeitung DIE WELT

Die Künstler werden sich ihrer Kraft bewusst, Bild: DIE WELT, 09.10.2009.
Die Künstler werden sich ihrer Kraft bewusst, Bild: DIE WELT, 09.10.2009.

 Sonderbeilage zum 20-jährigen Jubiläum des ZKM Karlsruhe.

Erschienen
09.10.2009

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Die Künstler werden sich ihrer Kraft bewusst

Die Avantgarde als Schöpferin neuer Traditionen in der Bauhütte der Technotheologie

Heinrich Klotz, der Gründer des ZKM, hatte die Statur eines Staatengründers, das heißt, er besaß Charisma, wusste mitreißend Visionen zu entwickeln und hatte die Charakterstärke und Kraft, über Jahre hin seine Ziele zu verfolgen. Seine Intuition für Leistungsstärke erfüllte sich noch durch die Wahl seines Nachfolgers, Peter Weibel, der in nicht für möglich gehaltenem Elan das Werk weiterentwickelt und damit Klotz erst richtig würdigt.

Was war das besondere an der Vision ZKM? Was machte die Gründung so beispielhaft für das Verhältnis von radikal-neuen, das heißt nie da gewesenen Technologieentwicklungen und den historischen Beständen von 600 Jahren Arbeit der Künstler und Wissenschaftler?

Ich darf für mich in Anspruch nehmen, zur Vision ZKM ein weniges beigetragen zu haben mit der zentralen These, alles Neue erweist sich als wirksam und bedeutsam darin, dass es unseren Blick auf das Alte verändert. Das Bauhaus vergegenwärtigte die Tradition der mittelalterlichen Bauhüttengemeinschaft. Der Druck der neuen Expressionisten zwang zu einem völlig neuen Blick auf den seit 300 Jahren vollständig vergessenen El Greco. Adolf Loos, der Wiener Apostel der radikal-neuen Architektur, wurde zwar von vielen Zeitgenossen aggressiv angegangen oder verleugnet. Aber am Ende erzwang er ein ganz neues Verständnis des Werks der Renaissancegroßmeister Brunelleschi und Palladio, bei denen vor Loos niemand das Konzept der nackten, weißen Wand entdeckt hatte. Wenn etwas wirklich neu ist, hat es keine Bestimmung. Es bleibt nur die Möglichkeit, von dem tatsächlich nicht fassbaren Neuen mit Blick auf das vertraute Alte zu sprechen. Und dabei die fantastische Entdeckung zu machen, dass das vermeintlich Alte in neuem Glanz einer überzeugenden Gegenwärtigkeit sichtbar wird. Kurz: Avantgarde ist nur das, was uns veranlasst, die angeblich gesicherten Bestände der Tradition auf neue Weise zu sehen. Die so betonte Hingabe aller Avantgarden an das Schaffen von absolut Neuem galt erstrangig nicht der Zerstörung, Leugnung oder Abwertung der Traditionen - obwohl die Avantgardisten immer wieder pathetisch verkündeten, man solle alle etablierten Opernhäuser und Museen, Archive und Theater vernichten. Aber derartige Bilderstürmerei war nichts als banaler Konkurrenzkampf, durch den man selber auf den Sockel steigen wollte, von dem man andere hinwegzufegen drohte. Pierre Boulez wollte noch Ende der 50er-Jahre die Opernhäuser in die Luft sprengen; die Forderung stellte er sofort ein, als er in Bayreuth zugelassen und von jedem Zeitgenossen im Feuilleton als bedeutender Neu-Töner benannt wurde.

Um derartiges Attitüdentheater auftrumpfender Neulinge hat sich Klotz für die Konzeption des ZKM gerade im Hinblick auf die Neuen Medien nie gekümmert. Seine unübersehbare Bedeutung erlangte das Konzept des Avantgardismus als schöpferische Hervorbringung immer neuer Traditionen, indem Klotz und Weibel die Neuen Medien der Gestaltung, vor allem die elektronisch-digitalen, nutzen wollten, um den ungeheuren Reichtum der traditionellen Arbeit von Künsten und Wissenschaften in völlig neuer Weise gegenwärtig wirksam werden zu lassen.

Diesen Zusammenhang von Anwendung neuester Technologien und der lebendigen Vergegenwärtigung von Vergangenheiten kann man sich am besten an unserer Gründungserzählung von 1986 klarmachen: Bill Gates entwickelte das völlig neue, nie da gewesene Betriebssystem Windows. Wer den Namen als Programm las, übersetzte die Funktionslogiken von Windows in einen überraschenden Blick auf die Bildlogiken der Renaissancemaler, die ihrerseits das Bild als Window, als Fenster zur Welt definierten. Indem man durch Experimentieren herauszufinden versuchte, welche Möglichkeiten das Betriebssystem Windows für Künstler und Wissenschaftler auf völlig neue Weise zur Verfügung stellte, entdeckte man über alle bisherigen tradierten Auffassungen hinaus das leistungsfähige Konzept "Bild als Fenster zur Welt".

Einen gewichtigen Diskussionspunkt zum Gründungskonzept ZKM ergab die Frage, wie denn etwa elektronische Bildgebung durch Verteilung von farbigen Pixeln den Blick auf die klassische peinture-Malerei verändern könne. Sind nicht Pixel-Bilder und Malerei in ihrer Bildwirkung unvereinbar? Eben, eben, da lag der Erkenntnisgewinn: Eine noch so elaborierte Pixel-Malerei würde gerade die uneinholbare Einmaligkeit der peinture-Malerei zum Ausdruck bringen, auch wenn der erste Augenschein, etwa der pointilistischen Malerei eines Seurat, Gestaltungsanalogien zur Pixel-Malerei nahe legte. Nicht zuletzt diese Einsicht garantiert den Leistungen der neuen Medien ihre tiefere Bedeutung, indem sie jeden Lernwilligen die Würde des historisch Gewesenen erkennen lässt.

Zum einen ist alles, was entsteht, wertvoll, weil es zugrunde zu gehen droht, also ein für allemal entschwindet. Zum anderen stützt die Erfahrung des Historischen unseren Wirklichkeitssinn, weil wir akzeptieren müssen, dass wir zwar durch Aktualisierung die Bedeutung des Gewesenen jeweils neu formulieren können. Aber das materielle Substrat, also die historischen Objekte, trotz hoch entwickelter Fälschungskunst, nicht beliebig manipulieren können. Durch den Feuerzauber der elektronischen Bilder lernen wir im ZKM, das große stillstehende Bild in besonderer Weise zu schätzen. Oder wir erkennen, warum religiöse Fundamentalisten sich ohne Weiteres, ohne das Gefühl des Verrats an ihrer Frömmigkeit, der Hochtechnologie bedienen können, so wie schon atavistische Blut- und Boden-Ideologen bedenkenlos Kruppsche Waffentechnologie für ihre Missionszwecke nutzten. Warum geht das? Weil langsam erkennbar wird, dass Technologie zu einem großen Maß angewandter Theologie entsprungen ist. Wer etwa das christliche Auferstehungskonzept für einen Budenzauber hält, wird eines Besseren belehrt, wenn er durch Drücken der Repeat-Taste an einem Recording-System nach Belieben in der Wiederholung der Bild-/Tonfolgen die tote Marlene Dietrich oder den längst begrabenen Konrad Adenauer lebendig vor seine Augen zurückrufen kann. Gerade Künstler des ZKM werden sich mehr und mehr ihrer Kraft bewusst, die Auferstehungs- und Verewigungstechnologie der neuen Medien mit Bezug auf die alte Portrait-Malerei oder den Mausoleumsbau bzw. die Stifterhuldigung zu erfassen und im Sinne einer Technotheologie (Weibel) anzuwenden.