Buch Zur Rückkehr des Autors

Gespräche über das Werk Friedrich Nietzsches

Zur Rückkehr des Autors. Gespräche über das Werk Friedrich Nietzsches, Bild: Hrsg. von Rüdiger Schmidt-Grépály. Göttingen: Steidl, 2014..
Zur Rückkehr des Autors. Gespräche über das Werk Friedrich Nietzsches, Bild: Hrsg. von Rüdiger Schmidt-Grépály. Göttingen: Steidl, 2014..

Zwischen uns und Nietzsche steht die Tradition der Editoren. Nietzsches Schriften wurden nie in der von ihm gewünschten Form herausgegeben. Was er uns in welcher Form zu lesen geben wollte, wird die im L.S.D. Verlag erscheinende Edition »Nietzsches Nietzsche« offenbaren: Sie präsentiert die handschriftlichen Druckmanuskripte seiner vollendeten Werke, faksimiliert in Originalgröße, gedruckt auf unterschiedlichen Papieren, jedes Werk in einer eigenen Schachtel.

Nach der Textsammlung »Friedrich Nietzsche. Lernt mich gut lesen! –« wird auch dieser Band auf die Edition einstimmen. Kam im vorherigen Band der Philosoph selbst zu Wort, äußern sich diesmal ausgewiesene Kenner über Friedrich Nietzsche und sein Werk. Gespräche zwischen Peter Sloterdijk, Bazon Brock, Renate Reschke und Rüdiger Schmidt-Grépály geben Aufschluss über den Philosophen Nietzsche als Autor.

Erschienen
01.02.2014

Herausgeber
Schmidt-Grépály, Rüdiger

Verlag
Steidl

Erscheinungsort
Göttingen, Deutschland

ISBN
9783869306261

Umfang
80 S.

Einband
Hardcover/gebunden

Seite 95 im Original

Zur Geburt des Denkens aus dem Mangel an künstlerischer Begabung

Friedrich Nietzsche gegen die Musikideologie der Unzeit

Bazon Brock im Gespräch mit Rüdiger Schmidt-Grépály

Rüdiger Schmidt-Grépály: Lieber Herr Brock, was war Ihre erste Begegnung mit Friedrich Nietzsche?

Bazon Brock: Das habe ich mich noch nie gefragt. Aber wenn ich das erinnern sollte, dann ist es wahrscheinlich eine Unterstreichung in Ecce Homo in der Ausgabe Schlechta, die in den fünfziger Jahren verbreitet wurde. Dies geschah durch meinen Klassenkameraden Erwin Cornel, der ein hervorragender Gräzist war und der im Wesentlichen Nietzsche und Dostojewski als das Dioskuren-Gespann uns allen näher brachte – er war ein Flüchtling aus Ostpreußen und lebte mit seiner Mutter in einem Kasernen-Loch, eine Ein-Zimmer-Bunker-Vision. Und diese Bunker-Vision, in der er existierte, führte dazu, dass er uns diese berühmte wechselseitige Durchdringung der Weltsichten Dostojewskis und Nietzsches vorhielt. Und der Beweis war immer der Hinweis auf die Trümmer, die Kasernen, das Militär, was damals üblich war. Nietzsche wurde natürlich im Wesentlichen, infolge von „Wille zur Macht“, tatsächlich als Theoretiker der Machtausübung bzw. der Begründung von Machtansprüchen gesehen, sodass man – wir kannten Carl Schmitt nicht, wir hatten im Wesentlichen auch Theunissen nicht als politischen Denker, Theoretiker vor der Nase – alles mit Nietzsche abdeckte. Das war grundlegend. Aber diese Beziehung zu Dostojewski ist mir in Erinnerung geblieben, wegen des vermuteten psychischen Potentials, das man brauchte, um so etwas zustande zu bringen. Da gibt es natürlich nur zwei Grenzen: Die eine ist der Wahnsinn und die andere Grenze ist der Terror. Wahnsinn hieß im Sinne der Dostojewski’schen Vorstellungen: die Überforderung des moralischen Sinns, des Ethos, des Verstehens gegenüber den Tatsachen der Welt. Das heißt, der Organismus erhält sich gesund, indem er sich aus der Zurechnungsfähigkeit verabschiedet; Schizophrenien, schwere Psychosen sind ja Gesundheitsmaßnahmen. Und das kommt dem Nietzsche-Verständnis sehr entgegen. Das, was herkömmlich als Hysterie abgetan wurde oder als Psychopathologie im eigentlichen Sinne, das sah er als Gesundheitsmaßnahme. Und das ist genau im Sinne der späteren Entwicklung: Ein Körper entzieht sich selber der Zurechenbarkeit zu den Weltzuständen, indem er sich in einen Zustand der Nichtzurechenbarkeit, der Nichtzurechnungsfähigkeit versetzt. Und das gilt grundsätzlich auch für den Terror, nur ist beim Terror die andere Grenze der Nichtzurechenbarkeit der absolute Anspruch, etwas zu deklarieren. Ein Psychotiker oder ein psychiatrisch auffälliger Mensch verschwindet in der Anstalt, während der Terrorist in der Öffentlichkeit agiert. Normalerweise durften ja die psychotisch auffälligen Leute gar nicht in den Straßen umherlaufen, bis auf die Ausnahmen, die Thomas Mann schildert. Die Psychiatrien waren wirklich die Höllen. Während der Terrorist sich dagegen gewehrt hat: Er will nicht, dass er mit seinem Problem abgeschoben wird und vertritt dies mit dem Mittel der Deklaration: Das überschreitet alle Menschlichkeit und deswegen muss man dagegen antreten – indem man aus der Menschheit austritt oder indem man sie rettet. Man darf sich nicht wegschließen lassen, sondern muss sein Problem auf der Straße deklarieren. Genau das hatte Wagner Nietzsche schon klar gemacht. Denn Wagners Konzept war, wie er 1849 und 1850, also bereits in seiner Jugend, an einige seiner Freunde schreibt: „Wenn ich zu etwas komme, geschieht es nur durch Terrorismus.“ – wörtlich, das ist der Begriff – künstlerischer Terrorismus. Dieses Thema hat er immer wieder aufgegriffen: „Nun denn, Geld habe ich nicht, aber ungeheuer viel Lust, etwas künstlerischen Terrorismus auszuüben.“ Oder: „Mit völligster besonnenheit und ohne allen schwindel versichere ich Dir, daß ich an keine andere revolution mehr glaube, die mit dem niederbrande von Paris beginnt.“ Nietzsche hat das aufgenommen, aber er war nicht in der Lage, es künstlerisch zu kompensieren. Das war sein Elend. Denn der Ausweg aus diesen beiden Ebenen: Irrenhaus – in die Hölle weggeschlossen, oder: öffentlich hingerichtet durch den Terroristen, der sich wehrt, der einfach um sich schießt – dieser Ausweg ist die Kunst gewesen. Das heißt, sie balanciert auf dem schmalen Grat zwischen den beiden einzigen Alternativen, die die bürgerliche Gesellschaft unter diesen Bedingungen freigab, nämlich sich in die Hölle des Irrenhauses oder in den Heldentod auf der Straße zu stürzen. Wagner hingegen hat das extrem gut gekonnt. Warum? Weil er sein Werk zum Instrument des Terrrors wie des Wahnsinns gleichermaßen gemacht hat.

Schmidt-Grépály: Sehen Sie bei Wagner die Libretti als literarisches Werk oder seine Aufsätze?

Brock: Selbstverständlich die Libretti, die er selber als die größten Erzählungen der Menschheit, als Großdichtungen auffasste. Wagner gelingt es, in seinen Textformaten, also in der Erzählung der zugrundeliegenden Dramen, die Irrsinnigkeiten der psychiatrischen Verschlossenheit des Gehirns vor der Welt – das sind ja alles völlig autopoietisch ablaufende Erzählungen von phantasmagorischen Welten –, das heißt, den Mythos als die Vernunft des Wahnsinns darzustellen. Und auf der anderen Seite steht die Musik, die den künstlerischen Terrorismus repräsentiert. Man hat beides: Wahnhaftigkeit im Sinne der Dichtung genauso wie künstlerischen Terrorismus als Musik. Und beides wird dann zusammengeschlossen – das ist natürlich die größte Wirkungsmacht, die es überhaupt geben kann. Das hat Nietzsche sehr wohl gewusst und wollte auch tatsächlich als Propagandist Wagners Karriere machen. Allerdings war Wagner Nietzsche spielend überlegen. Denn: was Nietzsche nicht wusste oder was er nicht nachempfinden konnte, ist, dass Wagner sich einerseits der Wahnhaftigkeit als Literatur aussetzte und andererseits als Leipziger Barrikadenrevolutionär dem Terrorismus als objektive Macht und Gewalt im Bewusstsein hatte: Dieser Wahn muss befriedet werden. Wahnfried ist eben nicht ein beliebiger hübscher Name aus der Poesie, sondern er bringt zum Ausdruck, dass man Wahnsinn nur instrumentalisiert einsetzen kann, unter der Bedingung, dass man jederzeit wieder herauskommt, das heißt, wenn man selbst der Arzt in der Klinik ist. Das hat Nietzsche dann nachgeahmt und gesagt: Aha, Wagner kann sich nur auf den Wahnsinn dieser mythologischen Großerzählung einlassen, die die ganze Welt verschlingt, weil er selber den Arzt spielt. Dann hat Nietzsche immer von sich als großem medizinischen Psychologen gesprochen. Er als Psychologe der Gesellschaft – das heißt: er kann sich in dem Wahnsystem bewegen, weil er der Arzt ist.

Schmidt-Grépály: Er spricht ja auch tatsächlich vom Philosophen als „Arzt der Kultur“ .

Brock: Genau. Immer wieder kommt dieses Motiv des Psychiaters in der Klinik vor. Er sagt immer, das Wesentliche sei für ihn die Psychologie. Da sehen Sie die Wahnhaftigkeit, die Grenzgänge.

Schmidt-Grépály: Nietzsche studierte die Schriften der Klinik Salpêtrière in Paris, die französischen psychiatrischen Schriften.

Brock: Und da stellte sich ihm die Frage, was sein, Nietzsches, Wahnfried hätte sein können? Darauf hat er gesagt: Das ist der Moment der Verklärung, in dem sowohl der Druck der Wahnhaftigkeit wie der objektiven Gewalt, natürlicher oder gesellschaftlich vermittelter Gewalt, vollkommen von mir abfallen. – Er liegt in der Sonne an einem Hang in Sils Maria, es ist vollständige Stille – also das was die Griechen mit der Panschen Mittagsstille beschrieben haben –, und plötzlich wird ihm klar, dass dies die einzige Alternative in der Weltgeschichte ist, nämlich: Wo alles auf Entwicklung strebt, alles auf Vollendung, alles auf große evolutionäre Zusammenhänge ausgerichtet ist, ist für den Philosophen, für den Künstler nicht das Resultat, also nicht die Eschatologie, nicht das Ziel das Entscheidende, sondern die Orientierung auf den Moment. Das ist der der Moment der Selbstvergessenheit, der völligen Aufgabe jedes psychologischen Drucks, der Ruhmsucht, der Eifersucht, des Durchsetzungswillens gegenüber Konkurrenten etc. Und andererseits natürlich auch der nicht mehr notwendige Widerstand gegen die Herren der Welt, gegen den Pöbel, gegen die Könige, in diesem Falle Wilhelm II. und die Antisemiten und so weiter. Das ist natürlich eine ganz alte theologische bzw. philosophische Figur. Und das ist der Grundkonflikt: Die Erfüllung oder die Ausarbeitung eines Eschatons in der Evolution, sowohl der natürlichen wie der kulturellen, mit all den philosophischen Perspektiven, mit den unglaublichen Gedankenreihen, die dort entwickelt werden. Gegen den völlig begriffslosen Moment der Erfüllung bei völliger Abstellung aller psychologischen Motive der Selbstwahrnehmung und aller gesellschaftlichen Motive – der erfüllte Augenblick. Das ist am Ende unentschieden ausgegangen. Bei Wagner ist es ganz eindeutig: Er hat es erreicht, beide Ebenen miteinander zu vereinen. „Wahnfried“ stellt den erfüllten Augenblick auf Dauer. Wagner ist der Familienchef, Herr der geordneten Verhältnisse. Ewig steht der gleiche schöne Napfkuchen nachmittags auf dem Tisch.

Schmidt-Grépály: Es heißt ja auf dem Schild am Haus: „Hier wo mein Wähnen Frieden fand – Wahnfried – sei dieses Haus benannt.“

Brock: Und auf der anderen Seite ist ihm die soziale Evolution seiner Werkwirksamkeit gewiss (Wagnervereine, Wagnerbünde usw. schießen in jeder Großstadt aus dem Boden. Es würde also ewig eine Evolution der Entfaltung des Wagner’schen Werks geben). Nietzsche hat derartige Gewissheit nie genießen können. Er hatte zunächst die Ambition, es mit Wagner aufzunehmen, wurde aber brutal zurückgewiesen – so brutal, wie wohl kein Mensch von einem verehrten Anderen, den er anerkennen musste, im Hinblick auf die schon erbrachte Leistung abgewiesen worden ist. Er kommt zu Cosima und Richard, bringt eine eigene Komposition mit und die beiden lachen sich krank über dieses Gestümper.

Schmidt-Grépály: Es gibt dann noch einen bösen Brief von Herrn von Bülow gegen Nietzsches Kompositionen.

Brock: Damit beginnt sein Elend. Das heißt, er hat wirklich versucht, den Wagner’schen Weg zu gehen, hat aber gemeint, das sei gar keine Alternative für einen normalen Menschen, das sei einzig eine Alternative für eine künstlerische Sonderbegabung. Das Thema hieß ja „Ewigkeit in jedem Augenblick“: „Doch alle Lust will Ewigkeit.“ Und Ewigkeit meint die prinzipielle Wiederholbarkeit

Schmidt-Grépály: Und würden Sie aus diesem Gedanken heraus auch den Zarathustra interpretieren, der ja so seltsam quer steht zu allen anderen Schriften und Werken von Friedrich Nietzsche?

Brock: Er hat da versucht, statt Wagner andere Figuren zu finden und er überträgt das, was er im Hinblick auf Wagner nach dieser grausamen Enttäuschung entwickelt hatte. Sein Widerstand gegen Bayreuth ist stark von dieser individualpsychologischen Abweisung und Kränkung erfüllt – er will nicht dorthin fahren, will sich dort nicht zeigen, will die Wagners nicht sehen, die ihn herzlich eingeladen hatten.

Schmidt-Grépály: Nietzsche verlässt die ersten Festspiele in Bayreuth dann nach den Proben. Die Aufführung selbst sieht er schon nicht mehr. Und dann kommt auch noch Menschliches, Allzumenschliches, in dem Wagner selbst nicht mehr genannt wird.

Brock: Es ist sicherlich in erster Linie ein privates Erleben der unglaublichen Enttäuschung. Ihm wird klar, dass er sich nun umorientieren muss. Und er will zeigen, dass Wagner für ihn doch nicht die letzte und einzige Instanz darstellt, sondern dass eine eigenständige Entwicklung etwa im Zarathustra oder grundsätzlich in der Gestalt des Propheten möglich ist. Mit der Figur Zarathustra in einem ganz besonderen Maße, weil er allen griechischen Philosophien vorausgeht, als die persische Geschichte, die völlig unbekannt war. Er konnte sozusagen auch noch zaubern, indem er den Leuten etwas vorsetzte, was sie nicht einmal hätten erahnen können. Denn niemand hätte erwartet, dass es in der Tradition des fernen Persien etwas wiederzuentdecken gäbe, das im 19. Jahrhundert unmittelbar als Parallelerscheinung zu Wagner brauchbar sein könnte. Es war also ein gutes Kalkül. Aber hätte er tatsächlich die Rolle eines Zarathustra erfüllen können? Es bleibt ihm ja wohl ahnungsweise die düstere Einsicht, dass ihn Zarathustra keines Blickes gewürdigt hätte, auf keiner Ebene. Darin wiederholt sich die Reaktion Wagners, der Nietzsche ebenfalls abgewiesen hatte. So kommt ein ungeheures psychologisches Reaktionsschema in Gang. Nietzsche hat wirklich erlebt, dass von dem ihm höchst Verehrten bis hin zum gleichgültigen Pöbel des Akademos, geschweige denn von der politischen Herrschaft am Hofe, wo Wagner überall die erste Geige spielte, kaum jemand auch nur in neutraler Weise sein Werk zur Kenntnis nahm. Aber er wusste genau, dass es nicht daran lag, dass niemand ihn kannte, sondern dass man ihn wirklich ablehnen wollte. Genauso wie die die Wagners, die ihn ja sehr gut gekannt und gerade deswegen abgelehnt haben. Daraus entwickelt sich bei Nietzsche folgender Mechanismus. Nämlich, dass er gelesen werden will und die Welt auf eine Weise erklärt, wie sie bisher noch niemand gesehen hat, weil diese Welt erst in Folge von Nietzsches Einwirkung entstehen wird. Das heißt, in der Ablehnung erfährt er die Bestätigung für die außerordentliche Bedeutsamkeit seiner eigenen Position. Denn man muss wissen, dass sich niemand die Mühe machen würde, etwas abzulehnen, wenn er das nicht für gefährlich hielte. Für gefährlich wird etwas nur gehalten, wenn es wirklich wirksam ist, und wirksam nur, wenn es wirklich wirksam ist. Alle diejenigen, die ihn jetzt ablehnen, werden kapitulieren müssen vor der Epiphanie, vor dem Erscheinen dessen, was sie jetzt zu seiner Ablehnung gezwungen hat.

Schmidt-Grépály: So, wie Sie sprechen: Wenn man sich plötzlich auf den Nachlass konzentriert, zieht man ja diesem vermeintlich authentischen Nietzsche die Zähne. Denn wenn Sie sagen, dass das Werk von den Zeitgenossen nicht wahrgenommen werden konnte, weil sie es ablehenen mussten, müssen wir dem Leser, wenn wir Nietzsche gerecht werden wollen, die Chance bieten, mit einer Neuedition zu seinem Werk zurückzukehren.

Brock: Nun wollen wir das systematisch entwickeln: Werk und Wirkung. Wir ziehen daraus heute eine ganz andere Konsequenz. Wir würden sagen: Was rekonstruiert wird, das sind die Werkzeuge. Es geht nicht mehr um den Werkbegriff im Sinne einer geschlossenen Entität, in der weder etwas herausgenommen noch zu der etwas hinzugefügt werden kann, [also] um etwas, das als die letzte Bestätigung vom Verfasser selbst, also von Gott selbst, über die Wohlgelungenheit der Welt aufgefasst werden muss. Wir wollen die Werkzeuge kennen, mit denen jemand arbeitet. Das Werk ist eigentlich nur abgelegtes Werkzeug. Das gilt für die Moderne insgesamt. Selbst bei einem bildenden Künstler wie Beuys ist alles, was im Museum steht, das abgelegte Werkzeug. Das Werk selber ist aus Anlass einer bestimmten Inszenierung in die allgemeine Vorstellung getragen worden. Alle haben daran eine Erinnerung, aber das Objekt selber wird auf die Ebene des abgelegten Werkzeuges gebracht. Was Sie mit Ihrer Edition machen, ist jetzt die Wirkungsgeschichte als Bestandteil des Werkes von den Werkzeugen, die er benutzt, zu isolieren. Das heißt: was waren seine Begriffsbildungen? Was hatte er für Vorstellungen von der Integration der Begriffe in ein System? Gibt es überhaupt einen solchen Ansatz wie eine systemische Vereinheitlichung? Ist das System dann das Gerüst des Werkes oder ist es im Zeigen der Mittel das entscheidende Werkzeug? Wieso entdeckt er den Partikularismus, also die Fragmente?
Die Antwort auf die letzte Frage ist ziemlich eindeutig. Er war Humanist, aber vielmehr Grieche als Römer. Insofern war er sozusagen Archäologe, in dem Sinne nämlich, dass er mit Ruinen zu tun hatte. Ruinen sind Fragmente, die als Fragmente mehr sagen und in höherem Maße sprechen als das Original, von dem diese ruinösen Stücke übrig geblieben sind. Er hat dann verstanden, dass im 18. Jahrhundert die großen Aufklärer in den englischen Gärten Ruinen aus ganz neuer Substanz bauten, wobei die ruinösen Tempelchen, die man da errichtete, als Fragmente von Gebäuden, ungeheure Kosten verursachten. Für dieselben Kosten hätte man gleich den ganzen Bau neu aufrichten können. Das heißt, man hatte plötzlich verstanden, dass der ruinöse fragmentarische Charakter jeder systematischen Rekonstruktion der ehemaligen Ganzheit überlegen ist, weil er in viel höherem Maße die Antizipationskraft und die Empathie stimuliert. Nietzsche wusste als erster, literarisch gesehen, dass die Ruinen nicht in die Form einer nachträglichen Ergänzung in den Originalbestand – also in das, was klassischerweise das Gefüge der Werke genannt wird – zurückgeführt werden dürfen, sondern dass sie selbst durch ihre Geschichte, durch die entsprechende Wissenschaft der Sicherung der Ruinen, also der Archäologie, einen höheren Status bekommen hatten als alle ursprünglichen Werke. Das heißt, die ruinösen Spuren der antiken Welt überformten das, was diese antike Welt zu ihrer Zeit je hat sein können oder gewesen sein konnte. Mit anderen Worten: Nietzsche ruiniert, er gibt den Texten sozusagen die Gestalt von Ruinen. Jedes Fragment hat die Kraft in sich, auf ein Ganzes zu verweisen, das als solches gar nicht erfassbar wäre.

Schmidt-Grépály: Aber meinen Sie, wenn Sie von Fragment sprechen, seine drei sogenannten Aphorismenbücher? Ich sehe im Moment nicht, wo die Fragmente sein sollen bei Nietzsche. Auch sind die Nachlasstexte keine Fragmente, obwohl sie von Colli und Montinari unter diesem Titel veröffentlicht werden. Denn das sind einfach seine Notizbücher, seine Gedanken, Gelegenheitsnotizen. Diese Textzeugnisse kann man nicht Fragmente nennen.

Brock: Das sind klassische Beispiele dafür, wie er als Archäologe arbeitet.

Schmidt-Grépály: Diese Bücher würden Sie als Fragmente und nicht als Aphorismen-Bücher bezeichnen?

Brock: Als Ruinen, als Werkzeugdemonstrationen. Der Aphorismus ist nur eine bestimmte literarische Zuspitzung, das heißt eine bestimmte Gesamtsentenz wird sichtbar in einer Formulierung. Aber die meisten dieser Fragmente im Sinne des ruinösen Teilstücks – das Fragment wird hier nur als ein Teilstück eines ruinösen Zusammenhangs genannt – sind gar keine Pointen oder Sentenzen.

Schmidt-Grépály: Ich frage noch einmal nach: Ist denn für Sie das gesamte Werk fragmentarisch?

Brock: Ja, es ist sprechende Ruine, das ist klar, denn es gibt keine Systematik mehr, das heißt, man kann nicht mehr mit Hegel, mit Kant, mit Leibniz systematisch Philosophie treiben.

Schmidt-Grépály: Aber dann muss man wahrscheinlich das erste Buch Friedrich Nietzsches, die Geburt der Tragödie, herausnehmen, denn das ist ja noch der Versuch eines geschlossenen Werkes.

Brock: Das war eine übliche akademische Abhandlung.

Schmidt-Grépály: Ohne Fußnoten, ohne Anführungszeichen, ohne Belege.

Brock: Gut, das gab es sehr viel häufiger, als wir es heute kennen. Diese Tradition hatte sich noch gar nicht durchgesetzt. Es war wirklich akademisch gedacht.

Schmidt-Grépály: Aber auch schon der Versuch, etwas zu schaffen, nämlich eine Geschichtsphilosophie von Richard Wagner. Das ist eine seiner Absichten. Oder sehen Sie das anders, betrachten sie das als späteren Zusatz im Vorwort?

Brock: Die Frage ist folgende: Ist die große Erzählung aus der Musik geboren worden oder umgekehrt? Haben die großen Repräsentanten gemeinschaftsbildender Strukturen wie Clan, Familie, Stamm erst gesungen, weil sie über Fernwirkung kommunizieren mussten, und das gesungene Wort, also die Stimme, trug dann als Gesang weiter als das gesprochene Wort? Haben sie erst gesungen und dann ist der Gesang im Näherkommen semantisch strukturiert worden? Das Singen ist primär nicht semantisch strukturiert, sondern im Hinblick auf die syntaktischen Abfolgen mit all ihren Differenzierungen. Man hört hin, weil es eben gegenüber allen Naturgeräuschen einen derartigen aufmerksamkeitssteigernden Effekt hat. Zunächst haben die Menschen gesungen, und aus der Musik entwickelt sich dann die Erzählung, die Tragödie. Das heißt, die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik ist tatsächlich eine anthropologische Geschichte, die erzählt wird.

Schmidt-Grépály: Da hat man fast einen Sprung zur modernen Popmusik, die ja über die Arbeit der Sklaven entstand, durch die Gesänge auf den Feldern im Süden der Vereinigten Staaten.

Brock: Es ist immer das Gleiche, weswegen die Menschen auch heute immer noch so berührt sind von dem Leitmedium Musik. Heute kann man sogar sagen, die zahnärztliche Tätigkeit ist geboren aus dem Geist der Musik, die mir während der Behandlung vorgespielt wird. Also die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik ist ein Versuch, systematisch zu erklären, was im Übergang von rituellen Gesängen zu Aischylos und der Differenzierung zwischen Chor und primärem Darsteller passiert ist. Entscheidend für diese Entwicklung war das chorische, singende Reflektieren. Der Chorsänger als Mitglied eines Kollektivs wird informiert, indem er in die Formation des Chores eingestellt wird. Der Chor ist das Leitmedium, aus dem sich von Aischylos bis zu Euripides, also während des ganzen fünften Jahrhunderts, die Tragödie ausdifferenziert. Sie verkörpert das Verhältnis der singulären Erscheinung eines Menschen, der als Ich spricht – beispielsweise als Antigone –, zu dem, was vom Chor repräsentiert wird, zum sozialen Zusammenhang, zur kosmischen Ordnung etc. Die Tragödie besteht immer darin, dass der singuläre Anspruch eines Individuums in Konflikt mit der Ordnung gerät, die durch den Chor, also durch den Gesang der Welt, durch die stillen Rhythmen der Welt, den Herzschlag, das Meeresrauschen repräsentiert wird. Nietzsche wollte damals wirklich zeigen, wie die moderne Dramatik, wie die moderne Erzählung entwickelt worden ist aus dem Geiste der Musik. Bei Wagner war es aber genau umgekehrt: Da geht es gerade um die Geburt der Musik aus dem Geiste des Dramas – ein Vorgang, der die ganze anthropologische Geschichte auf den Kopf stellt. Die Musik illustriert die Tragöde; aber gleichzeitig übersteigt sie alles, was mit Worten ausgedrückt werden kann. Das hat Hollywood bei Wagner gelernt.

Schmidt-Grépály: Dann hätten wir, so wie Sie jetzt sprechen, tatsächlich einen inhaltlichen Grund für den Bruch zwischen den beiden, der demnach schon sehr früh begann.

Brock: Mitte der 1870er Jahre ist er schon vollzogen.

Schmidt-Grépály: Also unabhängig von der Abweisung sehen Sie ja durch die Anlage der Geburt der Tragödie und das Konzept von Richard Wagner schon einen fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Autoren?

Brock: Ja, Nietzsche kapiert plötzlich, dass ihm die Wissenschaft gar nichts nützt, weil das faktisch Wirksame in seiner Zeit, etwa bei Richard Wagner, genau anders herum funktioniert: Dass die Musik die das Sekundäre, alle Partialitäten, diese kleinen fragmentarischen Einzelheiten weit überwölbende Einheit ist, das nennt man Ideologie. Man kann auch sagen: Wagner hat gar keine Musik geschrieben, sondern er hat Musikideologie produziert. Wagner hat sich nicht erst das Programm vom Reichsparteitag mühselig von anderen vorgeben lassen, er hat es gleich selbst geschrieben. Er hat das Programm geschrieben und dann eine entsprechende Durchsetzung in der Musik entworfen. Bayreuth ist ja wirklich ein ewiger Reichsparteitag – er hat das Schema erfunden. Wer in Bayreuth sitzt, ist sofort Mitglied dieser neuen Religionsgemeinschaft, die den blonden Christus propagiert.

Schmidt-Grépály: Also wenn wir jedenfalls so früh einen sachlich begründeten Bruch ansetzen zwischen Nietzsche und Wagner, könnte man daraus auch verstehen, warum Nietzsche sich so früh als unzeitgemäß erfährt. Und dann sogar mit diesem Begriff an die Öffentlichkeit geht und Unzeitgemäße Betrachtungen schreibt.

Brock: Unzeitgemäß heißt ja nichts anderes als: da ich in der Gegenwart keine Chance habe, als jemand der jetzt spricht wahrgenommen zu werden, habe ich nur die Möglichkeit in der Nicht-Jetzt-Zeit, also zur Unzeit wahrgenommen zu werden. Und die Unzeit war die Zukunft. Er sprach nicht mit den Toten, obwohl es bei Zarathustra so aussieht, als ob er die Unzeit zurückverlegt. Die Unzeit ist immer die Zukunft, die Zeit, die noch nicht definierbar ist, eine offene Zukunft. Die Vergangenheit können wir definieren, aber die Zukunft eben nicht.

Schmidt-Grépály: Meinen Sie, das gilt auch für die Bücher, die er selbst als „meine Freigeisterei“ bezeichnet, Bücher also, die man vergleichen kann mit der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die sogenannten Aphorismenbücher? Menschliches, Allzumenschliches ist in der ersten Auflage Voltaire gewidmet. Die Widmung scheint mir uneindeutig: Ist die Widmung ernsthaft oder ist das die Kampfansage an Bayreuth, wo ja vor allem über Cosima Wagner die Franzosen gehasst worden sind?

Brock: Ich bin ganz überzeugt, dass Nietzsche das auf den Kampf gegen die Antisemiten bezieht und damit auf alles, was nach 1871 kommt; obwohl das eigentlich schon 1806 mit der deutsch-französischen Erbfeindschaft begann, als Kampf der Preußen, der Russen und der Engländer gegen den Globalisierer und Universalisierer Napoleon sowie die Erfindung des Nationalstaats als Kulturstaat. Indem sich Nietzsche auf die französische Tradition bezieht, tritt er gegen den Wilhelminischen Chauvinismus an. Die Zerstörung des deutschen Geistes durch die Etablierung des deutschen Nationalstaates als Kulturstaates, das ist Nietzsches Thema. Das hat er so genau wie kein anderer gesehen: Das Ende der großen deutschen Musiktradition, das Ende der großen Philosophietradition, der Literaturtradition, von Bach bis Meyerbeer, ist durch den nationalen Kulturstaat Bismarcks gekommen. Was bekamen die Deutschen stattdessen? Akademisch gebildete Patrioten, die auf den Marktplätzen volkstanzen. Das war das Ende des großen Konzepts von der Freiheit. Freiheit heißt bei Nietzsche nichts anderes als Abkoppelung vom Erfolgsstreben.

Schmidt-Grépály: Sehen Sie hier auch eine Verbindung zur marxistischen Interpretation der großen Denkleistungen in Deutschland.

Brock: Das kommt von Heine. Heine hat das als Motiv, Börne übrigens auch. Viele haben das gesehen, aber Nietzsche hat es phantastisch formuliert. Gleichzeitig mit der ambivalenten anderen Seite. Das deutsche Wolkenkuckucksheim des abstrakten poetischen, musikalischen, philosophischen Denkens ist in sich schon eine Kritik an dieser bloß spirituellen Dimension.

Schmidt-Grépály: Das heißt, wenn die Franzosen revolutionär auf die Straße gehen, dann können die Deutschen das nur im Kopf.

Brock: Ja, sie hatten überhaupt keine Chance, in irgendeiner Weise das, was sie als das Deutsche Reich planten und dachten, angemessen – also wie die Engländer oder Franzosen – umzusetzen.

Schmidt-Grépály: In diesem Zusammenhang versteht Nietzsche sich – man könnte fast sagen – als revolutionär, auch wenn es keine sachliche Brücke gibt zwischen 1789, der französischen Revolution, und Nietzsche. Er meint, erst von ihm an gibt es ein neues Denken und eine neuen Politik. Durch sein Auftreten wird sich ja die Geschichte teilen: vor Nietzsche und nach Nietzsche.

Brock: Das hat er wohl nur als Parodie gesehen.

Schmidt-Grépály: Er meint tatsächlich, 2500 Jahre Geschichte des Abendlandes denkend abgeschafft zu haben. Was passiert jetzt nach dem Zarathustra? Wir haben wieder eine andere Werkgestalt vor uns, Nietzsche versucht in Jenseits von Gut und Böse und in der Genealogie der Moral, sich wieder einer geschlosseneren Form zu nähern. Es sind zwar nicht geschlossene Abhandlungen wie noch die Geburt der Tragödie, es sind aber auch keine Bücher mehr mit Sentenzen, Aphorismen, Aperçus, sondern es sind mehr als nur große Essays. Und hier, vor allem in der Genealogie der Moral haben wir den Nietzsche, der zuletzt aktuell gewesen ist – dass er das heute noch ist, glaube ich nicht mehr –, nämlich den französischen Nietzsche: Die Genealogie der Moral, alles nach Zarathustra, das sind die Schlüsseltexte für Foucault, Derrida, Virilio. Die französischen Philosophen, die den intellektuellen Diskurs der letzten zwanzig, dreißig Jahre wesentlich bestimmt haben. Diese Interpretationen – besonders auf Nietzsche bezogen – gelten im Feuilleton noch immer als die aktuellsten.

Brock: Ich weiß nicht, ob schon jemand untersucht hat, wann Nietzsche zum ersten Mal die Begründung des Essays aus dem Geiste Montaignes abgeleitet hat. Nietzsche entdeckt, dass die Franzosen mit der Schaffung des Essays eine ungeheuer produktive neue Methode zur Vermittlung zwischen theologischer Systemik, Dogmatik einerseits – also dem geschlossenen Weltsystem – und den experimentellen Eroberungen der Welt durch die Seefahrer und Eroberer andererseits entwickelt haben. Man muss „etwas versuchen“ – essayer. Lateinisch hieß es studere, das ist nämlich der Witz: studere heißt ja nichts anderes als „sich bemühen“. Das Bemühen heißt also, sich auf Grund eines Interesses, einer Leidenschaft einer Sache anzunehmen. Dieses studere oder essayer – das ist Nietzsches deutsches Verständnis des französischen Essayismus – man muss es als den Versuch durch Versuchung sehen. Demzufolge gibt es gar kein Versuchen, in dem nicht die Versuchung inszeniert wird.

Schmidt-Grépály: Aber das ist meiner Meinung nach nicht der Grund, warum Foucault die Genealogie der Moral liest.

Brock: Was die Franzosen daraus machen, ist eigentlich unerheblich. Das ist nichts anderes, als dass sie sich den totalitären deutschen Geist erlauben. Die ungeheure Ideologie der Deutschheit, die sie mit Hitler aus der Hand genommen bekamen, aber ungeheuer fasziniert hat, können sie sich nun aneignen. Also unbeschadet Großnazis, Großdeutschideologen, Großpathetiker, Wagnerianer sein. Die Franzosen sind ja die größten Wagnerianer aller Zeiten – indem sie das Wagnertum durch Nietzsche reflektiert sehen. Nietzsche ist ihnen die Lizenz. Da reist man als Franzose nach Bayreuth und fühlt sich als großer Aufklärer, aber gleichzeitig darf man sich der deutschen Ideologie hingeben. Die französischen Wagner-Enthusiasten realisierten das Konzept von Vichy, das heißt, die Kollaboration als Souveränitätsausdruck.

Schmidt-Grépály: Nun beanspruchen es Autoren wie Foucault und Derrida, mithilfe von Friedrich Nietzsche bis in die Mikrostrukturen hinein Machtstrukturen zu analysieren. Und da benutzen sie Nietzsche immer als Kronzeugen.

Brock: Also wenn sie das, wie wir sagen, als Werkzeuganalytiker machen, dann ist es ja in Ordnung. Nur da sehe ich wenig Erfolgreiches bei den französischen Autoren. Ich muss sagen, mir sind die französischen Verweise auf Nietzsche völlig gleichgültig. Es bringt nichts. Das ist Rationalisierung, das ist Behübschung, Dekor. Als ob man größer würde, wenn man zwanzig Mal Nietzsche sagt, so als sei man dadurch selbst schon ein halber Nietzsche. Das machen sie auch mit Ernst Jünger, Heidegger und Carl Schmitt – Huldigungen an den Faschismus im Gewande künstlerischer Meisterschaft. Dagegen war Nietzsche der Philosoph der Selbstversuchung, zu der die postmoderne Harmlosigkeit gar nicht fähig war. Nietzsche nötig die Geisteswissenschaften zum Problembewusstsein und zu den Verfahren der Naturwissenschaften, nämlich durch das Experiment zu lernen und nicht mehr durch Begriffssystematiken. Er kann als das erste Beispiel dafür gelten, dass sich jemand als Philosoph den wissenschaftlichen Anforderungen einer Versuchsanordnung ausliefert. Wenn man das aber als Bekenntnis zur Naturwissenschaft liest, kann etwa der Wille zur Macht als das jedem Lebewesen inhärente Verlangen angesehen werden, das Leben aufrecht zu erhalten. Da bleibt nichts übrig von der pathetischen Dimension, die man dem Begriff üblicherweise andichtet.

Schmidt-Grépály: Der Begriff „Wille zur Macht“ spielt ja eine große Rolle in seinen privaten Aufzeichnungen. Diese gesamte Denkbewegung nach dem Zarathustra von Jenseits von Gut und Böse, Genealogie der Moral bis hin zu Götzendämmerung und Antichrist wollte er in einem Werk zusammenfassen, dass Wille zur Macht heißen sollte. Dazu kommt es nicht mehr, wie wir wissen. Alles andere ist dann Rezeptionsgeschichte und sind konstruierte Texte. Sie haben ja eingangs schon den Ecce Homo erwähnt, in gewissem Sinne ist das ja sein sehr frühes Testament, sein abschließendes Werk. Er rundet da schon seine Biographie, mit 44 Jahren, mit einer offenbaren Vorahnung dessen, was da kommt, sonst schreibt man so früh keine Autobiographie. Also nochmals meine Frage nach dem letzten Denkweg von Friedrich Nietzsche.

Brock: Da kann man mit Baudelaire und dem ganzen Umkreis der jungen Genies – Verlaine, Rimbaud, Lautréamont etc. – parallele Entwicklungen beobachten. Am besten hat das die sozialmedizinische Analytik beschrieben, Groddek und andere. Wie sieht man das? Ich für meinen Teil halte das, was sich da als Wiederruf oder Bekehrung oder wie auch immer abzeichnet, weder für eine außerordentliche Entgleisung, noch für eine merkwürdige Abirrung, sondern für das Resultat des Selbstversuchs. Und Selbstversuche können schief gehen.

Schmidt-Grépály: Wie bei Baudelaire, der von Vivisektion spricht.

Brock: Baudelaire und andere fingen mit der Selbstversuchung an, indem sie Drogen, Alkohol, Kaffee in unvorstellbaren Mengen konsumierten und sich Nihilismus, Verzweiflung und Schmerz aussetzten. Aber das sensationelle Resultat all dieser Selbstversuchungen, das Konzept des „Übermenschen“, ist das Gegenteil von dem dem, was der Kleinbürger damit assoziiert. Der Übermensch wird nicht als Gott- und Heilandseratz auf die Bühne gestellt; Übermensch ist die zeitgemäße Formulierung der Autonomie des Bürgers, der sich selbst zu legitimieren imstande ist. Der Übermensch also als souveräner Bürger, der gerade nicht mehr auf göttliche oder sonstige Erwähltheit angewiesen ist, sondern seine Souveränität aus der Fähigkeit entwickelt, sich selbst zum Repräsentanten der Menschheit zu verpflichten. Die Berufung wird nicht mehr im Sinne einer Auserwähltheit durch eine autoritäre dritte Instanz gesehen, sondern durch das Prinzip der Selbstwahl.

Schmidt-Grépály: Das heißt mit Nietzsches Zusammenbruch scheitert dann dieses Experiment?

Brock: Gescheitert ist es ja nicht. Sondern es ist missglückt im Sinne von: man kann nichts mehr darüber aussagen, weil die Bedingungen des Experiments, durch die Beschädigung des Experimentators, der gleichzeitig Gegenstand der Untersuchung war, durch die Störung oder Dysfunktion nicht mehr beurteilt werden können.