Ausstellungskatalog Design ist unsichtbar

Design ist unsichtbar, Bild: Hrsg. von Helmuth Gsöllpointner. Wien: Löcker, 1981.
Design ist unsichtbar, Bild: Hrsg. von Helmuth Gsöllpointner. Wien: Löcker, 1981.

Erschienen
1980

Herausgeber
Gsöllpointner, Helmuth | Hareiter, Angela | Ortner, Laurids | Österreichisches Institut für visuelle Gestaltung

Verlag
Löcker

Erscheinungsort
Wien, Österreich

ISBN
978-3-85409-020-5 (kart.) oder 978-3-85409-012-0 (

Umfang
639 S. zahlr. Ill., graph. Darst. ; 28 cm

Einband
kart. oder Gewebe

Seite 68 im Original

Sozio-Design: Zur Frage der Gestaltbarkeit von Lebensformen

[Text]

LÄSTERN siehe KLATSCH
LANDPARTIEN siehe AUSFLÜGE
LAUSCHEN siehe HORCHEN
LEBENDE BILDER siehe BILDER
LEICHENFEIER siehe BEGRÄBNIS

Leichtsinn und leichter Sinn sind zweierlei. Jener ist ein Laster, dieser eine Tugend. Leichtsinnige Menschen leben in den Tag hinein und versäumen ihre Pflichten gegen sich selbst und gegen andere. Der leichte Sinn dagegen macht sich keine quälenden Sorgen, er tut in allem seine Schuldigkeit und erträgt, was nicht zu ändern, mit jenem heiteren Gleichmut, den Horaz empfiehlt und der deutsche Dichter. Rosen auf den Weg gestreut, und des Harms vergessen! Adelfels, Kurt, Das Lexikon der feinen Sitte – praktisches Hand- und Nachschlagebuch für alle Fälle des gesellschaftlichen Verkehrs, Stuttgart, 1888.

Jedesmal hat man von neuem sich wieder die Frage zu stellen, ob man denn nun angenehm überrascht oder deprimierend enttäuscht sein solle, wenn man entdeckt, daß die großen Themen, die mit anderen gemeinsam zu haben die eigene Zeitgenossenschaft begründet, gar nicht so zeitgenössisch sind, wie man zu glauben hoffte. So schien zum Beispiel die Zeitgenossenschaft der kritischen 68er in einer Reihe von Problemstellungen ausgewiesen, die man als außerordentlich kennzeichnend für die damalige Lage ansah. Im Bereich der Kulturkritik war das etwa das Thema Literatur und Kunst als Ware.

Es schien damit ein ganz unverwechselbarer Gesichtspunkt der Fragestellung entwickelt worden zu sein, ein ganz neues Thema, dem man sich mit großer Neugier und in der Attitüde, grundlegende dicta entwickeln zu wollen, überließ. Galt es da, angenehm überrascht oder deprimierend enttäuscht zu sein, als man entdeckte, daß eben diese angeblich ganz neue und erst aus den Gegebenheiten bis dahin nie gekannter massenmedialer Kulturproduktion zu begründende Fragestellung bereits mehrfach in den vergangenen hundert Jahren in genau der Weise abgehandelt worden war, wie man das anno ’68 zu tun pflegte? (Vgl. etwa Fred, Werner, Literatur als Ware, Leipzig 1911.)

Hatte man diesen Sachverhalt im Sinne des Innungsspruches der Schuhmacher zu verstehen, Nihil novum sub sole, zu deutsch, Es ist alles schon einmal da gewesen? Das hätte ja bedeutet, eine Grund-Annahme des historischen Materialismus aufzugeben, derzufolge einschneidend veränderte Lebensbedingungen auch radikal veränderte Problemstellungen nach sich ziehen. Um die Grund-Annahme zu retten, versuchte man darzulegen, daß sich für den Mitteleuropäer in den vergangenen hundert Jahren gar keine grundlegenden Veränderungen in den Lebensbedingungen ergeben hätten; man lebe eben immer noch unter den gleichen hoch- oder spätkapitalistischen Systembedingungen, von denen schon Marx in seinen Analysen ausgegangen sei.

Diejenigen, die sich mit dieser Sicherung des eigenen Standpunkts nicht zufrieden geben konnten, überfiel verstärkt lähmende Depression angesichts der eigenen Unfähigkeit, zu den bis dahin tatsächlich nie zuvor gegebenen Lebensbedingungen die ebenso erstmaligen Problemstellungen zu entwickeln.

Offensichtlich lebte man noch gar nicht als sein eigener Zeitgenosse. Selbst die Umweltproblematik hatte es in den vergangenen hundert Jahren in Formen der Reflexion und der Aktion schon so gegeben, wie man sie Mitte der Sechzigerjahre völlig neu zu entdecken schien. Der um 1900 geführte Kampf um die Rettung der Lüneburger Heide als Naturschutzgebiet unterschied sich kaum von dem Kampf um das nordfriesische Watt, der Ende der Sechzigerjahre begann.

Als ähnlich zeitlos enthüllte sich die Beschäftigung mit einem anderen, angeblich völlig erstmaligen Problem, der Weltraumfahrt. Auch dieses Paradigma der Endsechzigerjahre war seit einem Jahrhundert in der Diskussion, ohne daß man ihm in Zeiten der ersten realisierten Mondflüge wesentliche, ganz einmalige Aspekte hätte abgewinnen können.

Ähnlich scheint es allenthalben mit dem Thema Lebensformen zu gehen, auch wenn man es deutlich spezifiziert als Frage nach der Gestaltbarkeit alternativer Lebensformen.

Seit gut zehn Jahren glauben wir, mit diesem Thema in ganz besonderer Weise auf die in der Welt bisher einmaligen Auswirkungen industriegesellschaftlicher Lebensbedingungen zu reagieren. Aber die Frage nach den alternativen Lebensformen läßt sich als unmittelbare Kennzeichnung von Problemlagen unserer Gegenwart nicht verwenden. Zumindest seit dem Wirken der alttestamentarischen Propheten ist diese Frage in allen entwickelten Kulturen unserer Weltgegend gestellt worden. Für griechische und römische Autoren der Antike war das ein Dauerthema; und 1980 feiern wir das 1500jährige Jubiläum Benedikts von Nursia, dessen ungeheuer folgenreiche Lebensaufgabe im Entwurf und in der Durchsetzung bis dahin unbekannter Lebensformen – denen der mönchischen Gemeinschaft – bestand.

Die Benediktinischen und Augustinischen Antworten auf die Frage nach den Lebensformen beherrschten tausend Jahre lang die Auseinandersetzungen innerhalb des europäischen Kulturlebens.

1518 veröffentlichte der urbinatische Höfling Baldassare Castiglione seinen Il Cortegiano (bisher beste deutsche Übersetzung von Albert Wesselski: Der Hofmann, Leipzig, 1910, 2 Bde.). Dieser ersten vollständig säkularisierten Begründung gesellschaftlicher Lebensformen folgten zahllose weitere bis in die Zwanzigerjahre unseres Jahrhunderts, als Eduard Spranger die bisher letzte der philosophisch anspruchsvollen Veröffentlichungen zu diesem Thema herausbrachte (Halle 1921).

Im Grunde aber lassen sich selbst noch die Arbeiten Heideggers und Sartres in dem ihnen gemeinsamen Rückbezug auf die Husserl’sche Lebensphilosophie wenigstens als mittelbare Äußerungen zur Frage nach der Gestaltbarkeit von Lebensformen verstehen. Es ist merkwürdig, daß die vor zehn Jahren erneut in den Vordergrund gerückte Fragestellung weitgehend ohne Bezug auf diese die europäische Kultur beherrschende Thematisierung geblieben ist. Lag das möglicherweise an der Verwendung eines anderen Gestaltungsbegriffes für die Erörterung nach ’68, einem anderen Begriff von Gestaltung und Gestaltbarkeit, als ihn die vornehmlich theologisch, philosophisch und kulturgeschichtlich geführten Erörterungen früher verwendet hatten?

Das Bauhaus hatte mit seinen Vorstellungen von der Gestaltung von Lebensformen durch Gestaltung der Lebens-Instrumente (Haus und Hausgerät, Hausrat und Funktionsabläufe des häuslichen Lebens) einen solchen neuen Gestaltungsbegriff entwickelt, der heute weitgehend mit dem Terminus Sozio-Design gekennzeichnet werden müßte. (Zum Begriff Sozio-Design siehe Bazon Brock, Ästhetik als Vermittlung, Lebensbiographie eines Generalisten, herausgegeben von Karla Fohrbeck, Köln, 1977, Seite 416–516.)

Zumindest auf den ersten Blick haben aber diejenigen, die in jüngster Vergangenheit begannen, alternative Lebensformen zu entwickeln und zu praktizieren, sich geradezu ausdrücklich gegen das Design – und mehr oder weniger damit auch gegen das Sozio-Design – gewandt. Das mag ein bloßes Mißverständnis gewesen sein, insofern die Alternativler nur den zur bloßen Propaganda für Gestaltung industrieller Massengüter heruntergekommenen Design-Begriff kannten.

In jedem Fall wäre dieser neue Begriff von Gestaltung der Lebensformen nicht mehr in erster Linie literarisch diskursiv entfaltbar, sondern als exemplarische Realisierung bildendkünstlerischer Gestaltungszusammenhänge aufzufassen.

Daß die Diskussion um die Gestaltbarkeit von Lebensformen gegenwärtig vor allem im Hinblick auf das Gestaltungspotential der bildenden Kunst geführt wird, schafft spezifische Probleme.

Um das Gestaltungspotential der bildenden Kunst in die Gestaltung von Lebensformen umzusetzen, sind andere Fähigkeiten gefordert, als für die Umsetzung kulturgeschichtlicher, theologischer und philosophischer Literaturen benötigt werden.

Ist die These, daß wir in einem optischen Zeitalter leben, in diesem Zusammenhang so zu verstehen, daß wir heute in einem höheren Maße die Fähigkeit besäßen, Gestaltungspotentiale der bildenden Kunst in unsere alltäglichen Lebensvorgänge umzusetzen? Das dürfte kaum behauptbar sein angesichts der Tatsache, daß seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, seit Albertis grundlegenden Äußerungen zu dieser Frage, immer wieder das Gestaltungspotential der bildenden Kunst in seiner Bedeutung für die Gestaltung von Lebensformen dargestellt worden ist. Die Conduite-Schulen des Barockzeitalters sind fast vollständig am Gestaltungspotential der bildenden Kunst orientiert, selbst die Revolutionäre von 1789 ff haben ihre Programme für die Entwicklung republikanischer Lebensformen fast ausschließlich aus der Anschauung bildendkünstlerischer Zeugnisse der römischen Antike gewonnen.

Ausdruck und Repräsentation des sozialen Anspruchs von Führungseliten sind durchwegs im Bereich der bildenden Kunst entwickelt worden: es gibt kaum Herrschafts-Literatur, wie es etwa Herrschafts-Architektur gibt.

Trotz Luthers und anderer Bilderstürmer radikaler Versuche, die Bibel als Herrschafts-Literatur wieder durchzusetzen, haben literarische und dichterische Gestaltungspotentiale nie wieder die bildendkünstlerischen im Einfluß auf die Gestaltung der alltäglichen Lebensvollzüge überrunden können. Ja, gerade im Zeitalter der Empfindsamkeit (der Zeit des ausgeprägtesten Dichtungskultes) wird durch die Flut der Metaphern der Bildanspruch, wie ihn Malerei, Landschaftsarchitektur und Baudenkmäler repräsentierten, auch für die Literatur vorrangig.

Also auch mit Blick auf den Führungsanspruch der bildenden Kunst für die Entwürfe und Realisierungen alternativer Lebensformen, sollte dieser Primat überhaupt bestehen, läßt sich das gegenwärtig verstärkte Interesse an der Frage nach den Lebensformen nicht als einmaliges und spezifisch zeitgenössisches kennzeichnen.

Haben wir also keine Möglichkeit, dieses Thema in neuer, unserer spezifischen Situation entsprechender Weise zu verstehen? Die – neben den Marxisten für die 68er-Diskussion beigezogenen Autoren scheinen diesen Eindruck des Verlustes von Zeitgenossenschaft nur verstärkt zu haben.

McLuhan ließ wissen, daß die bis dahin völlig unvorstellbare Entfaltung der Kulturtechnologie uns wieder zurückführen würde dorthin, von wo wir einst glaubten, uns schnellen Fortschrittes entfernen zu können: die ganze Welt würde wieder jenes Dorf, aus dem wir mit Hilfe der Kulturtechnologie aufgebrochen waren, die Welt zu entdecken, die jenseits unseres beschränkten dörflichen Horizontes läge.

Thomas S. Kuhn machte darauf aufmerksam, daß der Eindruck eines schnellen Voranschreitens in den Wissenschaften vor allem dadurch entstünde, daß es den Wissenschaftlern gelänge, bisher jeweils für entscheidend gehaltene Fragestellungen vergessen zu machen.

Die Kreativitätstheoretiker konstatierten lapidar, Neues zu entwickeln hieße kaum anderes und kaum mehr, als vorgegebene, bekannte Konstellationen auf immer andere Weise zusammenzubasteln.

Norbert Elias glaubte, über die Dynamik der Generationenbewegung hinaus, eine Entwicklungsdynamik der Kulturen entdecken zu können, die als Pendelbewegung zwischen Extremen beschreibbar sei.

Größeres Gewicht für die Orientierung auf das Problem kam aber der Auffassung einiger Kulturtheoretiker lebensphilosophischer und/oder strukturalistischer Provenienz zu, die uns klar zu machen versuchten, daß nicht der objektiv ausweisbare Bestand an Problemstellungen in einer Gesellschaft das Entwicklungsniveau eben dieser Gesellschaft kennzeichnet; vielmehr habe man danach zu fragen, welches Niveau die kulturelle Vermittlung der Problemstellungen an die einzelnen Individuen erreiche.

Nicht die objektive Betroffenheit von gegebenen Problemstellungen, sondern die subjektive Aneignung fremder Probleme als eigener sei der entscheidende Faktor. Derartige Aneignung sei durch Erweiterung des Problembewußtseins der Individuen zu erreichen, die sich damit zugleich als Subjekte handelnd zur Geltung brächten.

In der Tat stellt sich allen Menschen zu allen Zeiten in gewisser Hinsicht das gleiche Problem: das Leben zu bestehen. Daraus ergeben sich entscheidende Fragestellungen, die für alle Menschen aller Zeiten und aller Gesellschaften die gleichen sind.

Kulturelles Lernen kann sich aber deswegen nicht auf die Vermittlung einmal entwickelter Antworten auf diese Fragen beschränken, was immerhin den Vorteil böte, die eigenen Kräfte nicht auf die Entwicklung von Problemlösungen, die schon längst vorhanden sind, zu vergeuden.

Diesen Vorteil nutzen Gesellschaften, die die Integration ihrer Individuen im wesentlichen über die Vermittlung von Traditionen zu erreichen versuchen. Aber auch die eisernsten Anstrengungen, derartige Traditionen konstant zu halten, sind bisher in der Weltgeschichte gescheitert, weil sie scheitern mußten.

Der Hauptgrund dafür ist darin zu sehen, daß eine identische Übertragung von Verhaltensweisen – oder Formen und Inhalten des Denkens – von Individuum zu Individuum ebensowenig möglich ist, wie die identische Übertragung von Generation zu Generation.

Die Traditionen höhlen sich selber aus, wenn sich mit den scheinbar konstant haltbaren kulturellen Formen längst andere Inhalte verbunden haben, bzw. wenn sich die durch nicht-identische Übertragung entstandenen Abweichungen angemessenen Ausdruck bahnen müssen, der nur im Widerspruch zum tradierten Formenkanon entwickelt werden kann. (Für den entscheidenden Bereich der kulturellen Vermittlung, den der Kunst-Praxis, haben Focillon, Panofsky und Kubler derartige Selbstaufhebungen von Traditionen untersucht.)

Andererseits kann sich die kulturelle Vermittlung nicht auf bloße Anleitung zu abweichendem Verhalten und Denken ausrichten, da Abweichung nur mit Bezug auf vorgegebene Größen möglich ist. Derartige Vorgaben sind eben nur als Traditionen leistungsfähig, soweit sie Abweichungen provozieren. In unserer jüngsten Vergangenheit entstand aber häufig der Eindruck, als ließe sich das gesellschaftliche Leben allein mit Hilfe derartiger mehr oder weniger kurzfristiger Abweichungen, den Moden, steuern. Die mittels Propaganda und Werbung für immer neue Moden uns allen als soziale Tugend auferlegte Abweichungspflicht läuft schnell ins Leere, wenn die Traditionen nicht mehr repräsentiert werden können, von denen man sich als moderner Mensch abzusetzen habe.

Die auf Aneignung ausgerichtete Strategie der kulturellen Vermittlung scheint in der Tat der wechselseitigen Ausschließlichkeit entweder propagierter Traditionen oder Moden entgehen zu können. Sie setzt (sowohl im kultur- wie naturrevolutionären Sinne) die Funktion der ohnehin unvermeidlichen Abweichungen von als gesichert geltenden Beständen etwa folgendermaßen an:

Was eine Abweichung tatsächlich für die Optimierung von individuellen wie kollektiven Lebensvollzügen leistet, ist daran zu bemessen, inwiefern es durch sie gelingt, neue Traditionen aufzubauen, das heißt, daß das Neue nur darin seine Qualität hat, uns das Alte auf neue Weise verstehen und gebrauchen zu lehren. Auf der individuellen Ebene ist das erreicht, wenn ein Subjekt im Laufe seines Lebens aus den eigenen Lebensvollzügen Traditionen zu bilden vermag, die vor allem nur diesem einen Subjekt zu eigen sind.

Das führt keineswegs – wie immer wieder behauptet – zum Verlust an Gesellschaftsfähigkeit; erzwingt durchaus nicht asoziale monadische Existenzen. Im Gegenteil: erst an den durch sich und für sich entwickelten Traditionen des eigenen Lebensvollzugs ist ein Subjekt durch andere identifizierbar und als selbstverantwortlich bestimmbar. Auf der kollektiven Ebene sichern die immer neuen Abweichungen den Aufbau von normativen Ansprüchen gegenüber den Individuen, die dadurch erst zu Mitgliedern eines sozialen Gefüges werden können, daß sie sich alle mit den gleichen normativen Ansprüchen auseinanderzusetzen haben. Wenn die Durchsetzung derartiger Normen gegenüber der Mehrzahl der Individuen einer Gesellschaft nicht mehr gewährleistet werden kann, das heißt, wenn sich die Mehrzahl der Individuen nicht mehr auf die gleichen normativen Vorgaben bezieht, um Abweichungen zu begründen, müssen sie durch andere normative Ansprüche ersetzt werden. Erst die den Individuen zugestandene Freiheit der Abweichung befähigt sie, sich überindividuellen normativen Ansprüchen zu stellen, also Traditionen als derart verpflichtend zu empfinden, daß sie eigenes Abweichungsverlangen provozieren.

In diesem Sinne vermögen wir vielleicht besser zu verstehen, was umfassende Gestaltungsprogrammatiker – wie etwa die des Bauhauses – entgegen üblichen Annahmen tatsächlich zu leisten vermögen: nämlich normative Vorgaben mit umfassendem Geltungsanspruch gegenüber jedermann so radikal durchzusetzen, daß die Einzelnen motiviert werden, individuelle Abweichungen von diesen normativen Vorgaben einer Gestaltungsprogrammatik zu entwickeln.

Die Radikalität schlägt in totalitäre Fesselung um, wenn individuelle Abweichungen nicht nur unerwünscht sind, sondern unter Strafe gestellt werden. Das gilt etwa für die Gestaltungsprogrammatiken der Nationalsozialisten, die zum Teil von denen des Bauhauses gar nicht so weit entfernt sind (vgl. nationalsozialistische Kampagne Schönheit der Arbeit mit entsprechenden Vorstellungen des Bauhauses).

Den Anspruch der Bauhäusler, alle Lebensbereiche den gleichen Standards der Gestaltung zu unterwerfen, muß man in anderer Sicht als sinnvollen Versuch begrüßen, verpflichtende Traditionen vorzugeben, damit den Individuen Aneignung dieser Traditionen durch Entwicklung subjektiver Abweichungen ermöglicht würde. Andernfalls wäre das Gestaltungsprogramm des Bauhauses, wie jedes andere, nur Programm der Konditionierung von Individuen, die gerade durch erfolgreiche Konditionierung ihren Subjekt-Anspruch verlieren müßten.

Eine Frage ums Ganze ist es in diesem Zusammenhang, ob die Gestaltung materialer Lebensgüter mehr oder weniger unmittelbar eine den zugrunde gelegten Gestaltungsprinzipien entsprechende Gestaltung von Lebensformen nach sich zieht.

Wer leugnet, daß die spezifische Gestaltung der materialen Lebensgüter deren Gebrauch und Verwendungszusammenhang beeinflusse, leugnet damit die Bedeutung der spezifischen Gestaltung überhaupt. Für ihn erübrigt sich die Frage nach der Gestaltbarkeit und Gestaltung von Lebensformen.

Lebensformen verstehen wir hier als Rahmenbedingungen oder Bedeutungszusammenhänge, durch die Erleben und Handeln der Individuen und Kollektive als sinnerfüllt begründet und verstanden werden können.

Daß materiale Lebensgüter unterschiedlich gestaltet werden können, ist evident. Schwieriger ist es, anzuerkennen, daß auch die Lebensformen als Voraussetzung für den Aufbau von Sinnzusammenhängen gestaltbar sind.

Ich beschränke mich in diesem Zusammenhang auf ein Argument: weder die Zugehörigkeit zur gleichen sozialen Gruppe, noch das Durchlaufen der gleichen Sozialisationsformen, weder die Zugehörigkeit zu ein- und derselben Familie, noch die zu ein- und demselben Kulturkreis zwingt die Individuen, genau die gleichen Sinnzusammenhänge zu entwickeln oder zu übernehmen. (Allein schon die hermeneutische Problematik, daß identische Übertragung von Gedanken über sprachliche Vergegenständlichung kaum gewährleistet werden kann, steht dagegen.)

Selbst höchste Übereinstimmung in biologischer Hinsicht, wie sie bei eineiigen Zwillingen gegeben ist, erzwingt nicht die Annahme, daß bei derartigen Individuen Aneignung kultureller Traditionen zum Aufbau der gleichen Sinnzusammenhänge führen muß.

Das Argument ist natürlich banal, da wir davon ausgehen, daß subjektive Aneignung erst gelungen ist, sobald den Individuen unter dem Druck kulturell vermittelter normativer Tradition eigenständige Abweichungen gelingen.

Aber die normativen Vorgaben dürfen dabei eben nicht als von außen kommende und fremdbleibende verstanden werden. Die Individuen haben sie nicht nur unbewußt zu gestalten – und das ist das Schwierigste, denn es reicht nicht hin, auf der einen Seite die gestalteten materialen Lebensinstrumente in als Traditionen vorgegebene Sinnzusammenhänge um sich zu versammeln und auf der anderen Seite diejenigen Gestaltungen, die sich individueller Abweichung verdanken, nach der Devise: Hier habe ich die verpflichtenden Repräsentanten kultureller Traditionen, und dort sehen Sie, zu welchen Abweichungen ich als zeitgenössisches Subjekt fähig war.

In ein- und demselben gestalteten Sinnzusammenhang und seinen Vergegenständlichungsformen sind Tradition und Mode, normativer Anspruch und Abweichung zu repräsentieren. Soweit die bildenden Künste derart reflexiv zu arbeiten imstande waren, ist ihnen genau diese Vermittlung gelungen.

Weder die noch so perfekte Reproduktion hochrangiger Muster eines traditionellen Formenbestandes, noch die überraschendste Willkür im unvermittelten Entwurf von bisher nie Dagewesenem haben für uns jene Spannung, jenes Appellpotential oder jene emphatische Übertragungskraft, die seit jeher gelungenen künstlerischen Vergegenständlichungen von Sinnzusammenhängen abverlangt wurden.

Erst reflexive Vermittlung von Normativität und Abweichung, von Tradition und Moden schaffen hinreichende Offenheit und Ambivalenz der sprachlichen Zeichen, in denen wir Sinnhaftigkeit zum Ausdruck bringen können.

Ambivalenz im Gebrauch der Zeichen ermöglicht es uns, sich der unterschiedlichen – ja sogar widersprüchlichen Reaktionsappelle jeder Gestaltung bewußt zu werden.

Polyvalenz der Zeichen zu garantieren, ist Qualität jeder Gestaltung, soweit sie uns geradezu die Erkenntnis aufnötigt, daß ein- und dasselbe Zeichen in verschiedenen Sinnzusammenhängen unterschiedliche Bedeutung haben muß.

Also: die Realisierungsformen von Gestaltungsprogrammatiken erzwingen nicht mittelbar oder unmittelbar entsprechende Lebensformen; konditionieren nicht zur zwangsläufigen Ausbildung entsprechender Sinnzusammenhänge, sondern setzen gegenüber den Adressaten die Aufforderung durch, sie zum Aufbau solcher Sinnzusammenhänge zu nutzen, die den einzelnen Gestaltungen Ambivalenz und Polyvalenz garantiert.

Das Risiko einer derartigen Offenheit und eines derartigen Bedeutungswandels der Gestaltungen kann nur das Einzelsubjekt auf sich nehmen. In dem Maße, in dem es dazu fähig ist, wird es in seinen Lebensäußerungen von anderen überhaupt wahrgenommen und beansprucht.

Das einzelne Subjekt gewinnt für die anderen Bedeutung: es garantiert Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, die anderen noch nicht oder nicht mehr zu eigen sind. Aus solchen Beispielen lassen sich Maximen für die Bildung neuer Traditionen gewinnen, die an die Stelle der geltenden treten können, sobald diese nicht mehr kräftig genug sein werden, individuelle Abweichungen und damit Gestaltungsfreiheit zu erzwingen.

Das ist der kategorische Imperativ der Ästhetik, so weit sie sich der Frage widmet, welchen Einfluß die uns von Natur und Kultur vorgegebenen Bedingungen der sprachlichen Vergegenständlichung auf unser Denkvermögen haben.

siehe auch: