Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung

Im Netz kann es kein Vertrauen geben. Daher taugt es nicht für die Wissenschaft, meint der Philosoph und Kulturwissenschaftler Bazon Brock und plädiert für die Einsetzung einer „empathischen Akademie“.

Erschienen
02.05.2010

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Das Netz ist die Hölle der neuen Welt

Sie bemängeln, dass in Kunst und Wissenschaft niemand mehr liest, was die Kollegen schreiben - stattdessen produzieren alle ununterbrochen selbst: Ist Rezeption, ist das Lesen dem Internetzeitalter nicht mehr gemäß?

Die großen naturwissenschaftlichen Zeitschriften stellen fest, dass tatsächlich niemand mehr ihre Artikel liest. Wenn deswegen selbst hochrangige Wissenschaftler glauben, sie könnten ihre Ergebnisse bequem fälschen, was ja sogar bis in die Ränge der Nobelpreisträger vorgekommen ist - wenn also die Kontrolle völlig wegfällt und jeder das Schreiben, die Produktivität, nur noch als ein Machtinstrument innerhalb der Wissenschaftsindustrie benutzt - dann ist die Wissenschaft selbst widerlegt. Denn Wissenschaft ist ja darauf angelegt, dass Individuen miteinander in Beziehung treten, weil sie die gleichen Themen oder Sachverhalte als problematisch bearbeiten, die gerade, weil sie problematisch sind, auch im Dialog bearbeitet werden müssen.

Die Vernetzung selbst besagt gar nichts. Wenn sie strategisch genutzt wird, also nur, um andere auszubeuten, ist sie sogar gefährlich. Das Wesen von Wissenschaft besteht nicht im Lösen von Problemen, sondern im Problematisieren selbst, jede gefundene Antwort wirft wieder neue Fragen auf. Viele Wissenschaftler stellen ihre Arbeiten deshalb gar nicht ins Netz, denn man wird nur ausgeschlachtet, ohne dass einem der andere hilft, ein Problem als prinzipiell unlösbares auszuhalten. Wenn die Entscheidung für wissenschaftliches Arbeiten, also für ein Arbeiten ohne jede Hoffnung auf Beendigung getroffen wird, muss man, um das auszuhalten, eine extrem stabile Psyche haben. Das kann kein Mensch alleine, man muss also in die Gemeinschaft eintreten. Das ist aber gerade das Manko des Internets: Ohne personale Bindung, ohne Konfrontation und en-face-Kommunikation lässt sich nicht beurteilen, auf welche Weise der andere einem gegenübertritt. Im Netz hat man es meistens nur mit einer Vernichtungskonkurrenz zu tun, doch unter diesen Bedingungen muss man sich das Veröffentlichen im Netz verkneifen.

Wie kommt es zu dieser „Vernichtungskonkurrenz“?

Das können Sie gerade beobachten. Die Universitäten werden schlichtweg ruiniert oder in Wissenschaftsindustrien überführt. Heute gibt es keine Professoren mehr, die für etwas einstehen. Sie müssen keine Stabilität mehr aufbringen, sondern sind ausschließlich, wie im gesamten kapitalistischen Wirtschaftsgeschehen, gehalten, den größten Vorteil zu den geringsten Kosten herauszuholen. Das ist alles. Die Universität ist in eine Wissenschaftswirtschaft überführt worden und die Professoren werden zu Funktionären der Wissensindustrie. Sonst ist nichts mehr möglich. Damit fällt die Basis des wissenschaftlichen Forschens im alteuropäischen humanistischen Sinne weg, nämlich: die persönliche Haftung gegenüber den Kollegen, für die Bereitschaft mit ihnen gemeinsam am jeweiligen Problem, ohne Ausbeutung des anderen, zu arbeiten.

Ihr neues Projekt ist eine „empathische Akademie“, in der die Mitglieder gemeinsam forschen und einander die gegenseitige Lektüre garantieren. Können Sie sich so eine Akademie online vorstellen oder schließt sich das aus?

Das geht nur, wenn sich die Leute vorher kennen und sich regelmäßig treffen. Dann ist das Onlinegehen nur eine perspektivische Verkürzung der räumlichen Distanz, in der sie leben und der zeitlichen Distanz, in der sie arbeiten. Das ist in Ordnung, aber man braucht die personale Konfrontation, man muss sich wechselseitig ein Versprechen abgeben können. Empathie stellt einen evolutionären Standardmechanismus der Wirksamkeit von Beziehungen dar. Ohne dass der andere anwesend ist, lässt sich gar keine Empathie entwickeln. Es bleibt also bei dem evolutionären Grundprinzip, dass man in der Lage sein muss, abzuschätzen, in welcher Form sich der andere einem gegenüber verhält, in wie weit man ihm vertrauen kann. Und das ist niemals übers Netz möglich.

Vor fünf Jahren wurden Sie für Ihren Vergleich von Internet und GULAG gescholten. Fühlen Sie sich von den Entwicklungen seitdem, etwa durch die sozialen Netzwerke, bestätigt?

Als wir das vor Jahren sagten, haben die Leute uns für verrückt erklärt. Wir waren vor Jahren viel weiter und haben gesagt, dass das, was die Lager der totalitär-faschistischen Regime, des stalinistischen oder des Hitler-Regimes waren, jetzt, als Weltlager, das Netz geworden ist. Und es ist extrem gefährlich geworden, dort überhaupt in die Akten zu kommen, auffindbar zu sein. Wir wissen, wie delikat der Datenmissbrauch ist, wie hoch die Erpressungsmöglichkeiten liegen, nicht nur von Kriminellen, sondern auch von den eigenen Regierungen und den eigenen Institutionen.

Was macht das Netz so gefährlich?

Ein Netz ohne personale Beziehungen, ohne Verantwortung, ohne Verantwortungsbereitschaft, ohne Kontrolle der jeweiligen Geistesgegenwart kann man nicht sinnvoll nutzen. Im Übrigen ist alle Kommunikation auch abgehoben auf den Genuss der Anwesenheit des anderen. Warum setzen wir uns so gerne in die Kneipe, um mit anderen zu sprechen, oder auf Kongresse etc.? Weil das die Möglichkeit bietet, tatsächlich den Genuss des eigenen Lebens durch die Versicherung des Beistands aller anderen zu erhöhen. Und das fällt beim Netz weg, weswegen es wirklich ein Totenreich ist, ein Todesreich.

Das Internet als virtuelle Unterwelt?

Ja. Der Papst hat am 20. April 2007 leichtsinniger Weise erklärt, er hebe den Limbus auf. Wir haben damals wütend protestiert. Aus dem Limbo, also der Unterwelt, in der Jesus Christus war und in die Vergil den Dante geführt hat, haben alle, die unten waren, ihre große Menschheitsweisheit her - bis zu Doktor Faustus von Thomas Mann. Aristoteles, Sophokles, Aristophanes und Platon, also alle, die vor Christi Geburt bzw. vor 30 v. Chr. gelebt haben, haben dort ihre Heimat. Das weltweite Netz könnte ihre neue Heimstatt werden, es ist die von der Theologie verstoßene alte Konstruktion des Limbo. Und diese Vorbildhölle ist dann tatsächlich da, da kann man dann Aristoteles und Aristophanes begegnen. Aber man nimmt sie nur als Tote wahr, nur als Gewesene. Und so ist es im ganzen Netz - es ist die Unterwelt der neuen Welt, es ist ihre Hölle. Das Niederfahren zur Hölle, das ist unsere Verpflichtung ins Netz einzusteigen, aber dann müssen wir wieder auffahren wie Christus, wie Dante, wie alle großen Geister, damit wir einen sinnvollen Gebrauch von dieser Welt machen können.

Das Gespräch führte Kathleen Hildebrand