Zeitung Der Freitag

Der Freitag, Bild: Nr. 49 / 05.12.2013..
Der Freitag, Bild: Nr. 49 / 05.12.2013..

Erschienen
05.12.2013

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Issue
Nr. 49 / 05.12.2013

Gottesdienst oder Kabarett? Am besten beides wie bei Wagner und Beuys

Christoph Schlingensief als „politischer Künstler“

Der Text wurde in der Zeitung in einer gekürzten Version unter dem Titel "Im Zeitgeist-Gottesdienst" abgedruckt. Hier findet sich die Originalfassung.

Helmut Kohl rief 1981 ff. die „geistig-moralische Wende“ aus und Schlingensief wurde erweckt von dieser unfrommen Lüge, also von der Verkohlung des Publikums durch Kohl – denn Schlingensief war als ehemaliger Messdiener höchst moralsensibel. Wer mit Dick-und-Doof-Filmen aufgewachsen war, hatte jene Halluzinationen des Filmfreundes, die durch Überblendung Gespenster erzeugen. Die Deckoperation von Dick und Doof zu einer politischen Gewalt war vollzogen mit der Übernahme der Macht durch H. Kohl. 20 Jahre lang versuchte Schlingensief das Gespenst Kohl zu löschen. „Tötet Helmut Kohl“, forderte er, zu denken; oder „Legt ihn wenigstens trocken!“

C. S. überbot Loriots Badewannendrama, indem er öffentlich postulierte, es sollten Tausende von gewichtigen Zeitgenossen in den Wolfgangsee springen – Kohls Badewanne im deutschen Operettenrefugium, um mit der so ausgelösten Riesenwelle die Ödylle der Luxushohlheiten am Seeufer wegzuspülen.
Was war das politisch Wirksame an diesem wie einem weiteren Dutzend grandioser Konzepte des Künstlers?

Mit Schlingensiefs Aktionen wurde immer erneut schlagartig offenbar, dass die Bundesrepublik aus dem Geiste des Politkabaretts geboren und gehütet worden war. Jeder Machtoption stellte es sogleich eine Doppelgestalt der kabarettistischen Rationalität zur Seite. Der von Hunderttausenden Ex-Nazis reklamierte Carl Schmitt wurde von Carlo Schmid überblendet und überformt. Welch’ ein Bild: Ex-Nazifürst und Verfassungsvater als tragende Säulen des neuen Tempels der Demokratie (beide übrigens aktive Kunstfreunde, Schmitt war sogar Dada-Propagandist, bevor er dem Führer folgte). Carlo Schmid übersetze aus dem Französischen die Programmatiker des Modernismus und lehrte in Frankfurt Politik als literaturwissenschaftliche Disziplin.
Zwei weitere Karyatiden am Bau der BRD waren Ludwig Erhard und Heinz Erhardt. Schon von Gestalt eine naheliegende Analogie, aber erst Erhardtsche Blick auf die Politik Erhards enthüllte das, was die Kabarettisten seither als Realsatire erkennbar werden ließen.

So gut wie allen Historikern der BRD ist entgangen, dass Umbildung die braunen Volkes nach 1949 in der BRD (aber ex negativo nicht minder bedeutsam in der DDR) ganz entschieden vom Kabarett als moralischem wie erkenntnisstiftendem Verfahren geleistet wurde. Die „Insulaner“, die „Stachelschweine“, die „Lach- und Schießgesellschaft“, das „KommÖdchen“ und Dutzende weitere Anstalten des öffentlichen Erkenntnisbedürfnisses vermochten, was kaum einer philosophischen Fakultät gelang und von Sloterdijk in den Zeiten der „geistig-moralischen Wende“ als „Kritik der zynischen Vernunft“ analysiert wurde. Schlingensief war ihr Prophet wie Märtyrer. Seine Aktionstypik entspricht der Karikatur-gemäßen Verzerrung, Übertreibung, Zerlegung der Zumutungen der Politik. Man hatte bloß bis dato nicht damit gerechnet, dass die Karikatur auch als theatralische, dadaeske, happineske Real-life-Aktion wirksam werden könnte. Kippenberger als bildender Künstler, Bernhard als Literat, die Erlebnisgeiger in der Popszene, Beuys in der Volkspädagogik, Vostell in der Gegenpropaganda, Bazon in den Anweisungen zur negativen Affirmation u.v.a. nahmen sich des so unterschätzten Metiers des Karikierens als Erkenntnisstiftung an.
Schlingensief hatte im Mühlheimer Atelier von Werner Nekes seit 1984 gut aufgepasst. Über acht Jahre hörte er dort, was die zahlreichen aktionistischen Gäste zu loben wussten. Aber C. S. wollte die Erzählungen in jeder Hinsicht überbieten - was ihm tatsächlich gelang. So bot er in Wien seine Ausländer-raus-Aktion in direktem Bezug zum Heldenplatzdrama von Thomas Bernhard an. „Scheitern als Chance“ replizierte das sprichwörtliche Diktum von Achternbusch „Du hast keine Chance, aber nutze sie“. Die Animatorkonstruktion vereinheitlichte den Schwitterschen Merzbau mit den Tier- und Menschenversuchsanlagen wie sie Foucault bloß als historische Phänomene untersuchte, obwohl sie in den Kaufhäusern bereits schamlos als selling fields genutzt wurden.

Harry Szeemann hatte 1983 solche Maschinen in der fabelhaften Zürcher Ausstellung zur Geschichte des Gesamtkunstwerks wieder ins öffentliche Bewusstsein gehoben und C. S. verstand sie kongenial. Martin Warnke versammelte die Politikonographie im von ihm wiedergegründeten Warburg-Institut in Hamburg. Werner Hofmann legte eine erste Studie zur Geschichte der Karikatur vor, sodass jeder erkennen konnte, aus welchem Geiste und welchen Quellen sich die aktionistische Moderne speiste. Schlingensief faszinierten insbesondere die Wiener Aktionisten, die diesen Ursprüngen am nächsten kamen und die in allen Medien den SMS, den simulierten masochistischen Service, anboten. Das wirkte beispielhaft als zeitgemäßes Ethiktraining „Lerne zu klagen, ohne zu leiden!“

Was ist das Entscheidende für die Würdigung der Arbeits- und Denkleistung von C. S.? Im Unterschied zu Künstlerkollegen wie zum Beispiel Kippenberger akzeptierte C. S. die Kennzeichnung des modernen Aktionismus als Journalismus sofort. Kippenberger spielte nicht nur den Beleidigten als man ihm 1985 klarzumachen versuchte, dass er im höheren und besseren Sinne Bildjournalist sei – und kein Maler, dem es darauf ankäme, Arbeitsspuren als Kunstwerke an der Museumswand überhöhen zu lassen. Bereits 1904 stellte der Kunsthistoriker Meier-Graefe fest: „Die ästhetische Macht ist an den Journalismus übergegangen.“ C. S. verstand unmittelbar, was die geschichtliche Stunde der Kunstevolution anzeigte. Man musste sich entscheiden, ob man sich in Gottesanmaßung zum Werkproduzenten oder in der Nachfolge Christi zum Wirken ohne Werk bekennen wollte. Der hohe, heilige Geist der „heiligen deutschen Kunst“ kann durchaus in beiden Feldern wirksam werden. „Werk oder Wirkung?“ hieß und heißt die Herausforderung. Journalismus ist die offensichtlichste Form der Wirkung ohne Werk, wie sie Jesus und Tausende Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer, Priester, Dramaturgen, Regisseure und Schausteller mit überwältigender Beispielhaftigkeit zur Geltung gebracht haben. Alles, was Schlingensief inaugurierte oder als gebotene Chance wahrnahm, war zeitgeistig und systematisch auf Wirkung angelegt, auf Überzeugung und Einsicht – gerade nicht auf absetzende Provokation, nicht auf Klamauk und egomanen Aufmerksamkeitsradau. Ist denn Euch, Ihr etwas bedeutungsärmere Repräsentanten des journalistischen Wirkungsprinzips, nicht doch aufgefallen, dass ausgerechnet jene Künstler besonders milde, höflich, wohlerzogen aufgetreten sind, die Ihr als Radikalisten ausrieft? C. S., Meese, Beuys sind oder waren die Liebenswürdigkeit in Person. Da kann man doch ihre Wirkungsabsicht nicht im Zerschlagen und Einreißen von Konventionen oder ähnlichem Unsinn sehen wollen. Nein, C. S. war gerade wegen seiner Wirkungsstärke ein persönlich höchst zurückhaltender Arbeiter im Weinberg und Tränenfeld der öffentlichen Belange. Wie bei allen Aufklärern reizte das Lachhafte der Politphraseologie seine Lachkraft, stimulierte die Lachlust als Gymnastik des großen Atems, der über der Gesellschaft wehen sollte wie der Geist Gottes über die Ödnisse. C. S., Beuys, Meese, Qualtinger, Polt und und und – wer sie erlebte und erlebt, rühmt ihre Lachkraft – pferdig wiehernd wie Beuys, scheppernd wie das „Määähhh“ einer Herde eingeschüchterter Sündenböcke à la Meese oder kraftvoll zustimmend wie Polt in der Rolle des Selbstmörders.
Der Auftrag zur Vervollkommnung unserer politischen Bildung, meine ich, könne nur dahin lauten, sich möglichst oft daran zu erinnern, wie engelhaft verklärt Schlingensief gelacht hat.

P.S.: Die im Titel dieses Beitrags erwähnten Großkünstler, die Schlingensief über alle anderen stellte, haben es tatsächlich vermocht, Werkschaffen und Wirkungsauftrag gleichermaßen zu erreichen. Wer an dieser Aufgabe scheitert, hat eben viel erreicht. Er wird den dummen Anmaßungen von Künstlerschöpfertum zu widerstehen wissen. C. S. widerstand. Deshalb sollte man sich hüten, die Spuren seines Wirkens mit marktaffinem Begriffspomp als Kunstwerke zu propagieren. Bestenfalls kann man die Bruchstücke als Reliquien würdigen – wie die Rosenschere Adenauers oder einen Erhardschen Zigarrenstummel. Das Beste an Schlingensiefs Arbeit – wie an jeder bedeutsamen – kann man nicht sehen oder mit Händen greifen, man muss es denken.

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