Im nachfolgenden will ich zwei Behauptungen von dreien in dem Umfange zu begründen versuchen, der mir augenblicklich zur Verfügung steht.
Die dritte Behauptung, die deutsche Kunstkritik habe im Anschluß an Venedig eine kaum vorstellbare Steigerung des Desasters demonstriert, in welchem sie schon seit Jahren haust, habe ich anderenorts begründet.
Hierzu nur noch dies: man hört, Harry Szeemann, ein hauptbeteiligter Ausstellungsmacher in Venedig, habe mit seiner "Aperto ottanta" die Kunst der achtziger Jahre mit päpstlichem Pathos enthüllen wollen. Wie der sehr eindeutige Titel "Offen 80" besagt, ging es um das, was die gegenwärtige Situation gerade wieder als eine offene erscheinen läßt. Wer als Kritiker selbst gar nicht mehr "offen" sein kann, wird sich nur noch als Modemacher von Gnaden des dritten Auges präsentieren können, und da wäre es ja gelacht, wenn jemand anderer eine eigene Sicht auf mögliche zukünftige Entwicklungen mit einer Ausstellung demonstrierte.
Das Gleiche gilt vom Hochsitz der Kritik aus selbstverständlich auch für den Versuch dreier Ausstellungsmacher, im internationalen Pavillon zu zeigen, was sie für die gewichtigsten Äußerungen von Künstlern in den 70er Jahren halten.
"Alles Unsinn", schnarrt die Kritik, "das sollen die 70er Jahre sein? Was da alles fehlt! Hätte man uns nur machen lassen, dann wäre etwas anderes als 'die 70er Jahre' herausgekommen." Nun freilich, immerhin das stimmt.
Nur vergessen die Kritiker, daß ihre Auswahlen mit dem gleichen Einwand, daß zu vieles fehle, hätten ebenso rechnen müssen.
Was sind das für Kritiker, die offenbar bisher noch nie bemerkt haben, daß Ausstellungen immer entscheidend durch die Werke geprägt werden, die in ihnen nicht gezeigt werden konnten, weil man ja niemals einfach alles zeigen kann. Erst im Hinblick auf das Nichtgewählte bestimmt sich das tatsächlich realisierte Ausstellungskonzept. Der Hinweis auf das, was fehlt, ist kein Einwand gegen eine Ausstellung, sondern ein Fingerzeig auf die Begründung des realisierten Konzepts.
Diese Kritiker werten Ausstellung offensichtlich doch als Gerichtsverhandlung über Wert und Unwert von Werken. Das könnte ihnen so passen. Entschieden wird nicht über Wert und Unwert, sondern ausschließlich darüber, was die Ausstellungsmacher und ihre Kritiker mit dem Appell der Werke anzufangen wissen. Das - bitte schön - sollte man vor allem als professioneller Kritiker zu unterscheiden gelernt haben.
Die beiden Behauptungen, die ich hier begründen will, sind folgende:
(hier fängt der text in “der barbar als kulturheld” an)
1. Seit den 20er Jahren hat es in Deutschland keine derart umfassende und leistungsfähige Avantgarde mehr gegeben, wie sie mit den Namen Baselitz, Penk, Palermo, Immendorff, Kiefer, Höckelmann, Disler, Lüpertz... angedeutet werden kann.
Die Kunst steht und fällt mit den Leistungen ihrer Avantgarde, denn sie allein ermöglicht es uns, überhaupt vom historischen Früheren zu sprechen.
Die Kraft des tatsächlich avantgardistisch Neuen beweist sich darin, daß sie uns zwingt, das Alte von Neuem zu sehen und anzueignen. Wer glaubt, auf die jeweiligen Avantgarden der jeweiligen Zeitgenossenschaften verzichten zu können, verliert damit die Möglichkeit, sich der Nichtavantgarde, den vermeintlich gesicherten Beständen der Traditionen, zuwenden zu können. Wer kein Zeitgenosse sein will, verliert die Möglichkeit, Geschichte anzueignen.
Wenn ich sage, daß es seit den 20er Jahren keine stärkere Avantgarde gegeben hat als die mit den wenigen Namen angedeutete, dann heißt das nicht, daß es in der Zwischenzeit keine Avantgarde gegeben habe.
Vertreter der Concept Art boten eine leistungsfähige Avantgarde, indem sie uns zwangen, die große Zeit der Concetto-Malerei im Florenz des 15. Jahrhunderts neu zu sehen.
Die Vertreter der individuellen Mythologien stellten eine leistungsfähige Avantgarde dar, indem sie uns zwangen, die kulturellen Äußerungen der sogenannten primitiven Kulturen auf eine neue Weise zu verstehen.
Das Werk von Beuys erfüllte den Avantgardeanspruch darin, uns die Hinwendung auf unsere Alltagswelt in einem Spektrum von Wahrnehmungsqualitäten zu ermöglichen, die wir in der Zeit der Prosperität vernachlässigt hatten: Dichte-, Wärme-, Konsistenzwahrnehmungen, welche Menschen in extremen Situationen wie im Krieg selbstverständlich sind.
Mir persönlich ist die Avantgardeleistung von Künstlern wie Blume besonders wichtig, weil sie uns zu verstehen geben, daß mit dem Art Deco eine Verschmelzung mittelamerikanischer, ägyptischer und europäischer Formtopoi gelungen ist, die es an Eigenständigkeit mit dem klassizistischen, dem gotischen, dem barocken und dem Formkanon des Jugendstils aufnehmen kann.
Dergleichen Verdienste der jüngsten Avantgarde sind zahlreich. Keine dieser geschaffenen Möglichkeiten, Bestandteile der Kunst- und Kulturgeschichte aufs Neue als Geschichte in unserer Gegenwart wirksam werden zu lassen, ist aber derart radikal, wie es einst z. B. die Cézanne'sche Avantgarde war, von der her Rintelen Giotto neu entdeckt hat; oder wie es der Expressionismus war, der uns zwang, die romanische Kunst völlig neu zu sehen; oder wie es das Bauhaus gewesen ist, von dem her die Architekturgeschichte seit 1400 umgeschrieben werden mußte.
Wodurch sich der Avantgarde-Anspruch der Baselitz, Kiefer usw. als derart nachdrücklich bereits jetzt bestätigen läßt?
Meiner Ansicht nach: Sie zwingen uns von ihren Arbeiten her, die Kunstgeschichte des Manierismus und des Barock neu zu schreiben und diese produktivste und schwierigste historische Periode auf eine Weise anzueignen, daß sich dadurch unsere gegenwärtigen Entwicklungen in den Künsten entscheidend verändern müssen.
Zu diesem Themenkomplex will ich meine Behauptungen mit einigen Hinweisen auf Baselitz ausführen.
2. Mit Hinweisen auf Kiefer möchte ich dann näher erklären, daß es tatsächlich so etwas wie ein deutsches Problem in der Frage gibt, was Kunst zu leisten vermag. Das Bild als konkrete Utopie, der Mythos als Handlungsanleitung, das ist des Deutschen Schöpfungswahn.
Dagegen wirkt nur Strategie der Affirmation, die Kiefer meisterlich beherrscht.
Baselitz zeigte also "nur" seine erste Plastik? Stimmt das?
Zum einen ist es mehr als ein inszenatorischer Trick, die Gemälde nicht auszustellen, obwohl man von Baselitz bisher nur dergleichen erwarten zu können glaubte. Dadurch, daß die Erwartung nicht erfüllt wurde, Baselitz also keine Gemälde zeigte, standen sie mir jedenfalls stets vor Augen; natürlich die Bilder von Baselitz, die ich bereits gesehen hatte. Für mich waren die Bilder von Baselitz also doch anwesend - vielleicht sogar stärker, als wenn tatsächlich Baselitz' Bilder ausgestellt worden wären - sie "glänzten durch Abwesenheit".
Zum anderen: die Baselitzsche Motiv-Umkehr mit allen von ihr ausgehenden Forderungen an die eigene Wahrnehmung hatte mich häufiger schon veranlaßt, die Bilder in Bewegung zu sehen; und das nicht nur insofern, als ich versuchte, zunächst durch Kopfdrehen, dann schließlich in der Vorstellung, die Umkehrung aufzuheben.
Vielmehr wurde meine Vorstellung dazu angestoßen, die Bilder auch von ihren Seitenbegrenzungen her zu sehen, so daß sie einmal auf der rechten und einmal auf der linken seitlichen Begrenzung zu stehen kamen.
Diese virtuelle Bewegung, kontinuierlich vollzogen, durch Plankippen ergänzt, hatte mir häufiger schon die Empfindung aufgenötigt, es eigentlich mit Plastiken zu tun zu haben. Das Umkehrmotiv setzte gleichsam einen Rotor in Gang, der in den Anamorphosen des 16. Jahrhunderts zum ersten Mal systematisch für die Erzeugung von Bildwirkungen eingesetzt worden ist und heute durch die Optiken der filmischen Bilderzeugung (vor allem Zoom) ersetzt wird.
Baselitz' programmatischer Hinweis auf seinen Widerstand gegen Farbe als Lokalkolorit und Farbe als bloße Eigenschaft von Formen, die er mit ganz anders vorgehenden Generationsgenossen wie Graubner oder Richter teilt, setzt diese plastische Qualität der Farbe so ein, daß das Bild als organisierter Farbkörper wirkt.
Organisiert - und nicht komponiert; das Bildganze besteht nicht aus einer Komposition derart, daß die einzelnen Elemente zueinander so in Beziehung treten, als wären sie ausbalancierbar; ihnen also nichts hinzugefügt oder weggenommen werden könnte. Sondern er organisiert verschiedengewichtige Elemente daraufhin, daß sie als Wucherungen, Zerweichungen, Unvereinbarkeiten, Disharmonien weiterarbeiten.
Baselitz hält nämlich nicht mehr die Fiktion aufrecht, als sei ein Bildganzes simultan erfaßbar.
Das Auge ist immer zur Wanderung von einem zum nächsten Segment gezwungen, und diese Segmente sind relativ klein. Von daher erklärt sich nicht nur bei Baselitz die Bedeutung der Frage, welches Bildformat gewählt wird. Je größer das Format, desto eindeutiger die Entscheidung für die Organisation der Bildelemente; desto geringer also die Verführung, das Bild als definitiv abgeschlossene Komposition zu sehen.
Seit dem 16. Jahrhundert sind die Formatfragen den Künstlern bewußt gewesen. Natürlich steigt mit der Größe des Formats auch die Chance, Bilder als Gegebenheiten in der Welt zu erfahren, ohne ihr Vorhandensein durch viel mächtigere Dinge, vor allem durch den Raum, in dem die Bilder sich befinden, abschwächen lassen zu müssen.
Diese Qualität der Bildquantität ist nicht nur dort gegeben, wo das Bild von der Wand steigt, um als räumliches Ambiente nur noch Bestandteil seiner selbst zu sein. Verräumlichung ist nämlich Bestandteil auch von Bildwirkungen, die von allen Tableaux selbst dann ausgeht, wenn diese Tableaux keine illusionistische Raumdarstellung zeigen. Die Verräumlichung wird in jedem Fall erzwungen.
Empathie
Was wir als das Sehen eines Bildes bezeichnen, was wir als Wirkungsanspruch eines Veranlassers unserer Wahrnehmung - über alle Sinnesorgane - uns erinnernd, analysierend begreifbar machen wollen, ist nach meiner Auffassung, die ich hier nicht begründen kann, in Wahrheit Selbstwahrnehmung des Betrachters. Wie also wirken Bilder und anderes unserer Wahrnehmung Zugemutetes? Durch Empathie.
Die empathische Übertragungsleistung vom Wahrnehmungsgegenstand auf die psycho-physische Befindlichkeit des Wahrnehmenden erzeugt in diesem einen Zustand bzw. ein psycho-physisches Prozeßgeschehen, das als Analogie zum Wahrnehmungsgegenstand im Wahrnehmenden aufgefaßt werden kann.
Wer auf dem gegenüberliegenden vielstöckigen Hause einen Menschen unangeseilt hantieren sieht, bekommt selber Schwindelgefühle und die daran normalerweise geknüpften Angstreaktionen, obwohl er doch mit beiden Beinen sicher auf der Erde steht.
Diese als bedrohlich empfundene Störung der normalen Eigenwahrnehmung veranlaßt die höheren Zentren unseres Weltbildapparates zum Begreifen der Situation, um Fehlreaktionen möglichst zu vermeiden.
Natürlich sind die Störungen der Normalnullwahrnehmungen des eigenen psycho-physischen Zustandes, die von der Wahrnehmung eines vielschichtig organisierten Bildes ausgehen, weniger leicht zu begreifen, um damit Fehlreaktionen einzuschränken.
Was in dieser Hinsicht als Fehlreaktion bewertet wird, hängt von den jeweiligen kulturellen Normen ab, die für einen Wahrnehmenden von Bedeutung sind. Die Zerstörung von Bildern oder ihre demonstrative Leugnung sind fundamentale Fehlreaktionen unterhalb jeder normspezifischen Kulturgeste.
Zerstörung oder Leugnung der Bilder zwingen sich so lange auf, wie dem Wahrnehmenden die eigene psycho-physische Befindlichkeit unbegreifbar ist, die von entsprechenden Bildern in ihm erzeugt wurde. Absacken oder Ansteigen des Blutdrucks, Schweißabsonderung, Erregtheit oder klinische Müdigkeit (letztere besonders häufig in unseren Bildergalerien von Betrachtern erlitten) verweisen nur auf ein vom Bild veranlaßtes psychisches Geschehen, das wir als merkwürdig fremdartige Gefühle zu Erlebnissen verarbeiten, indem wir die Auslöser dieser Gefühle zu begreifen versuchen.
Deshalb ist es eben auch möglich, die irritierendsten, sogar Abscheu und Ekel erregenden Gefühle, die einen vor gewissen Wahrnehmungsgegenständen überfallen, auszuhalten, wenn man sie begreifend zu Erlebnissen verarbeitet.
Der Einwand ästhetisierender Verharmlosung des Schreckens in gewissen Bildern ist voreilig. Verarbeitung des Schreckens, des Abscheus, des Ekels, der Angst zum Erlebnis hat stets kathartische Wirkungen. Daß Bilderlebnisse, so gereinigt vom überwältigenden Gefühl, erzählend ausgetauscht werden können, verdankt man der Leistung des Begreifens.
Nicht Angst vor den Gefühlen, sondern Angst durch überwältigende Gefühle erzwingt den Versuch, die gefühlsauslösenden Bilder zu begreifen.
Baselitzens Bilder erzeugen in mir diese Angst, wobei das Umkehrmotiv sie noch verstärkend zur Geltung bringt.
Motivumkehr
Was zu begreifen treibt mich diese Angst?
Zunächst sicherlich zur Rekonstruktion des Entstehungsvorgangs der Bilder. Dabei sind unterschiedliche Positionen im Laufe der zehn Jahre festzustellen, in denen Baselitz mit der Motivumkehr arbeitet.
Die Einführung der Umkehrung mag damals in erster Linie ein Befreiungsschlag gewesen sein, eine radikale Setzung in den damals verheerend wuchernden Postulaten über die Verpflichtungen der Künstler. Baselitz verweigert sich, so sehe ich es, der arbeitslähmenden Diskussion über Probleme der künstlerischen Produktion vor aller Produktion. Er verlegt mit der Setzung der Motivumkehr die Problematik von Anschauung und Begriff, von Darstellung und Dargestelltem, von Stil und Bilddinglichkeit zurück in die Praxis des Malens.
Für ihn selber scheint das die gleiche Zumutung gewesen zu sein wie für die Rezipienten seiner Bilder. Denn: zum einen bedarf es eines langen Trainings, wie wir aus Experimenten der Wahrnehmungspsychologie wissen, um die Bildumkehrung durch Umorganisation der eigenen Wahrnehmungsverarbeitung bewältigen zu können. Man glaubt noch heute, verschiedenen Werken der ersten Umkehrperiode ansehen zu können, daß Baselitz auf dem Kopf stehende Fotovorlagen benutzte, um noch mangelndes Training der eigenen Wahrnehmungsumstellung auszugleichen (siehe "Schlafzimmer", 1975, in Kunstforum 20, 2/77).
Zum anderen verlangen die großen Formate Bearbeitung von allen Seiten, ähnlich der barocken Deckenmalerei - dennoch entsteht keine Gleichgewichtigkeit aller Ansichten. Bei der barocken Decke bemerkt man das, wenn man, gegen die Hauptansicht gehend, ein Motiv auf den Kopf gestellt sieht. Der Betrachter fühlt sich zur ständigen Bewegung unter dem Deckengemälde veranlaßt, um in der Organisation des Bildfeldes eine auszeichenbare Ansicht zu finden. (Eine Reihe von Barockmalern setzt den Ehrgeiz darein, diese Suche möglichst auszudehnen, um die Bewegung des Rezipienten entsprechend barocken Wirkungskonzeptionen möglichst lange aufrecht zu erhalten.)
Natürlich ist die Suchbewegung vor einem Tafelbild von vornherein eingeschränkter als die vor einem barocken Deckenfresco. Aber auch vor Baselitz' Bildern bewegt man sich zumindest in momentanen Impulsen mit der Frage: Hat er nun, oder hat er nicht? Hat er die Bilder tatsächlich auf dem Kopf gemalt, oder wurden die fertiggemalten Bilder einfach umgedreht?
Die Spuren der Wirkung von Schwerkraft im Farbauftrag geben dem Betrachter dann meistens die Schlußfolgerung auf, daß die Bilder tatsächlich auf dem Kopf gemalt worden sind - zumindest, was das Oberflächenfinish und die Konzeption kontrapunktischer Bildraumorganisation anbelangt. Denn: Baselitz kennt genau so gut wie jedermann die Tatsache, daß in unserer Kultur mit ihrer Ausrichtung auf Lese- und Sehbewegungen von links nach rechts bei der Umkehr des Bildes die Phänomene der Links- und Rechtsvertauschung noch viel gravierender sind als die der Oben- und Untenvertauschung.
(Probleme, mit denen sich Radierer und Fotografen immer auseinanderzusetzen hatten.)
Baselitz zwingt, seinem Konzept entsprechend, den Betrachter, den im Bild durch Rechts-Linksvertauschung bewußt eingesetzten Widerstand gegen die kulturelle Norm der Rechtsdominanz als treibende und provozierende Kraft zu erkennen. Baselitz entspricht diesen Normen nicht, indem er durch kompositorische Maßnahmen die Bilder ins Gleichgewicht bringt. Er macht sie sichtbar und begreifbar, indem er sie den Betrachter als unaufhebbare Gesetzmäßigkeiten erfahren läßt.
Malerei, wie jede Erkenntnistätigkeit, ist nur durch derartige Differenzierungen leistungsfähig. Sie hat aber - im Unterschied zu anderer Erkenntnispraxis - den Gegenstand ihrer Erkenntnis selbst zu schaffen. Das Bild als dieser Gegenstand muß durch seine zunächst nur in irritierenden Affektionen bemerkbare Wirkung den Betrachter veranlassen, analysierend begreifen zu wollen, was ihn da unerträglich affiziert.
Zum Erlebnis wird dieses Begreifen der Affektionen, wenn das Bild Anlaß bietet, auf möglichst vielen Ebenen Differenzierungen der Elemente zu ermöglichen, aus denen Bedeutungen aufgebaut werden können.
Dazu nur ein Beispiel: bildsprachlich können die uns wortsprachlich so vertrauten Operationen wie Negation, Konditional und Konsekutiv nur dialektisch vollzogen werden.
Wenn Baselitz sagen will, daß er nicht die Darstellung jener Repräsentanten der uns vertrauten Objektwelt meint, die als Körper oder Gegenstände alltäglicher Interieurs auf seinen Bildern zu sehen sind; wenn er sagen wollte, daß er, gerade indem er diese Gegenstände "malt", klarstellen will, daß nicht von ihnen her die Bildwirkung begriffen werden kann, dann ist das eben nicht leistbar, indem er darauf verzichtet, diese Gegenstände in den Bildern auftauchen zu lassen. Vielmehr muß er sie dem Betrachter so zeigen, daß dieser gezwungen wird, über deren erwartbaren Bedeutungsanspruch für die Konstitution des Bildes hinauszugehen.
Baselitz ist durchaus kein Vollblutmaler im Sinne eines naiven Ausdruckskünstlers. Seine Malerei ist für mich von reflexiver Sprachlichkeit, stark konzeptionell ausgerichtet. Er markiert eine Position, wie sie die Manieristen des 16. Jahrhunderts als Synthese des Florentiner Konzeptdenkens und der venezianischen Farbpsychologie zustandebrachten.
Tintoretto
Von Baselitz aus gesehen, waren aber nicht ein Pontormo oder Rosso die führenden Vertreter dieser Auffassung, sondern Tintoretto und nochmals Tintoretto.
Was auch immer die Baselitzschen Bilder über das hinaus sind, wozu sie mich veranlassen, ihre avantgardistische Kraft eröffnet sich mir dadurch, daß sie mich zwangen, Tintoretto in den Problemstellungen seiner Zeit völlig neu zu sehen, so, als hätte ich ihn bisher überhaupt noch nicht gesehen. Tintoretto war mir unwahrnehmbar geworden, also gleichgültig, gerade weil ich ihn als gesicherten, vertrauten Bestand einer kulturellen Tradition zu kennen behaupten konnte. Damit aber war Tintoretto für mich nicht mehr gegenwärtig wirksame Geschichte der Kunst und Kultur, sondern Sediment.
Bildsturz
Bevor mich die Werke Baselitzens dazu veranlaßten, habe ich mich jedenfalls nicht fragen können, warum bei Tintoretto, seinen Zeitgenossen und Nachfolgern, von Michelangelos Sixtina-Decke bis zu Tiepolos Würzburger Decke, ein derart durchgängiges Interesse an dem Motiv des Bildsturzes bestand. Zwar hatte uns Sedlmayr dergleichen im Architekturbereich am Beispiel von taumelnder Arkatur in der Gotik zu bedenken gegeben, aber die darin manifesten Bedeutungen hatte man auf die Programmatik der Gotik beschränkt.
Von Baselitz her wurde mir nun klar, daß die entscheidende Korrektur an der zentralperspektivischen Fiktion im Bildsturztopos zuzeiten Tintorettos ermöglicht wurde.
Die kopfstehenden Motive blieben nicht mehr anschauliche Erzählungen von vorgestellten Höllenstürzen. Der Bildsturz, sicherlich auch Entsprechung zu den damals durchgesetzten Auffassungen vom Heliozentrismus und der Kugelgestalt der Erde, löste den Betrachte aus dem Standpunkt, der ihm vor dem zentralperspektivisch organisierten Bildraum aufgezwungen worden war, um ihm eine gottähnliche Perspektive auf Geschehnisse zu ermöglichen: die Erfahrung der Gleichzeitigkeit und der Gleichörtlichkeit. Dem Betrachter wird so die gleichzeitige Durchdringung der organisierten Bildraumsysteme von den verschiedensten Standpunkten her ermöglicht.
Damit wird aber auch die Standpunktfestigkeit als Abstraktion durchschaubar. Die Standpunkte können nur noch für kurze Augenblicke gehalten werden, so, als ließe sich aus der kontinuierlichen Bewegung eine Augenblicksansicht des gesamten Systems fixieren.
Für das, was ich als die Funktion der Avantgarde behaupte, nämlich die vermeintliche Vertrautheit und Kenntnis von Traditionen aufzubrechen, ist es gleichgültig, ob Baselitz für seine Arbeiten tatsächlich die Kenntnis ähnlicher Problemstellungen der venezianischen Schule, des Manierismus und des Barock hatte oder nicht (er hat sie).
Ganz sicher kann er sowenig wie seine Rezipienten von dieser Kenntnis ausgehen, so, als führte er gegebene Traditionen fort. Erst von dem her, was er nun einmal als Werke so und nicht anders in die Welt gesetzt hatte, erschlossen sich ihm Ähnlichkeiten in den Problemstellungen des Manierismus und des Barock; erst von seiner Arbeit her entdecken Baselitz wie seine Rezipienten derartige Problemstellungen in jenen Kunstepochen.
Gerade, wenn wir Baselitzens Werken zugestehen, als "neue" wahrgenommen werden zu wollen, und wenn wir deshalb ihnen gegenüber nicht viel mehr sagen können, als daß wir ihre spezifische Neuheit zu erschließen haben, dann sind wir genötigt, diese uns bisher neuen, unvertrauten und unbegriffenen Werke auf solche zu beziehen, die uns vertraut und begriffen zu sein scheinen. Es kommt also darauf an, derartige Bezüge aufzubauen. (Für mich ist das in der Sicht von Baselitz auf Tintoretto geschehen.)
Der Bezug ist leistungsfähig, wenn vom Neuen her das vermeintlich Vertraute wieder als ein weitgehend Unvertrautes und Unangeeignetes erfahren werden muß. So geht es mir tatsächlich mit dem Werk Tintorettos, wenn ich es vom Werk des Baselitz aus betrachte. Darin zeigt sich mir die Zumutung der Baselitzschen Werke als tatsächlich avantgardistische Kraft; im Unterschied etwa zu den Werken von Malern wie Tübke.
Mißverstandene Tradition
Tübkes Rückgriff auf Bestände gewisser Traditionen der europäischen Malereigeschichte gehen von einer unhaltbaren Auffassung der Wirkung von Traditionen aus. Man kann nicht von Vorbildern zu Nachbildern voranschreiten; Traditionen wirken nicht aus der Geschichte in die jeweiligen Gegenwarten, sondern Traditionen sind Formen der jeweils aktuellen Aneignung von Geschichte durch die jeweiligen Gegenwarten.
Anstatt Traditionen fortwirken zu lassen, sind sie jeweils als lebendige Aneignung von Geschichte immer neu zu schaffen. Die Geschichte ist kein Steinbruch, aus dem man sich nach Belieben bedienen kann.
Aneignung der Geschichte gelingt darin, die Besonderheit und Unwiederholbarkeit der historischen Gegebenheiten würdigen zu können.
Baselitz arbeitet nicht wie Tintoretto, sondern von Baselitz her wird die Besonderheit und Unwiederholbarkeit des Tintoretto von heute aus erfahrbar, wie umgekehrt - und das gehört immer dazu, eben auch von Tintoretto her die spezifische Qualität eines Baselitz als heute produzierendem Künstler erst erfaßbar wird. (Natürlich ist hier Tintoretto nur als ein mir naheliegender Bezugspunkt zu Baselitz gemeint; eine Reihe anderer könnte gefunden werden.)
Wer glaubt, daß Traditionen aus der Geschichte in die Gegenwart wirken anstatt umgekehrt, der wird dann zwangsläufig etwa bei Baselitz das Mißverständnis reproduzieren, Baselitz sei ein Neo-Expressionist; oder er wird - auch das geschieht ja - das Mißverständnis fördern, Baselitz und eine Reihe seiner Kollegen seien Neo-Fauves - die neuen "Wilden".
Gerade, wenn sie neue sind, sind sie keine Expressionisten oder Fauves. Sondern man entdeckt durch diese Neuen an Expressionisten oder Fauves Aspekte, die man bisher nicht hat sehen können und die ohne diese Neuen auch niemals sichtbar werden konnten.
Vor den Zumutungen von etwas Neuem "Neo, Neo" zu rufen und zu meinen, man hätte damit etwas gesagt, bedeutet zu behaupten, daß man dem Neuen gerade nicht zugesteht, neu zu sein.
Auch das eine verständliche Reaktion der Leugnung, würde doch sonst die eigene Orientierung in den Zumutungen sich beständig überholender Neuheiten verloren gehen.
Aber das tatsächlich Neue kann als solches nur neue Sicht auf das vermeintlich Alte und Bekannte sein. Es ist nicht "Neo" als Wiederholung, sondern neu in der Kraft, das Alte seinerseits wie etwas ganz Neues sehen zu können.
Deutsche Mythologie
Jahrelang hat die sich demokratisch aufgeklärt gebende Kritik moniert, daß in den Arbeiten unserer bildenden Künstler kaum etwas von jenen Auseinandersetzungen mit dem nationalsozialistischen Erbe zu spüren sei, wie sie immerhin einige Literaten, Theatermacher und Filmer aufgenommen hatten. Wenn nun sichtbar wird, daß es eine derartige Auseinandersetzung auch von Seiten einiger bildender Künstler gegeben hat, demonstriert man nur die alten Berührungsängste gegenüber jenem Teil des kulturellen Erbes, der virulent genug war, Nazis zu Kulturheroen zu machen und der heute virulent genug ist, um die deutsche Kunstkritik zu gemeinsamer Pflichtübung in theatralische Gesten der Abwehr böser Geister zu treiben.
Ob Künstler oder nicht - wer seine Haltung gegenüber jenem Teil des Erbes so demonstriert, als sei er nicht selbst mehr oder weniger ein potentieller Beförderer des Übels, verdient kein Vertrauen; Leute wie Syberberg oder Kiefer verdienen es, wo sie zeigen, daß nur der Kunstvorbehalt sie davor bewahrt, mit ihrem Tun unwiderrufbare, ihre Mitbürger treffende Handlungsfolgen in die Welt zu setzen.
Deutsche Mythologie? In der Tat - aber diese Künstler zeigen uns wieder, was das denn war und was denn das heute als deutsche Krankheit überall in der Welt noch ist. Ein Deutscher - Schliemann - bewies zum ersten Mal, daß der Mythos nicht der Geschichte vorausgeht, sondern daß der Mythos eine andere Form von Geschichtsschreibung darstellt. Das Geschehen in Troja war nicht als mythische Erfindung zu bewerten, sondern als historisches Faktum, das vom Mythos - literarisch repräsentiert – verarbeitet worden war. Schliemann demonstrierte, daß man den Mythos nur wörtlich nehmen müsse, um auf die ihn tragenden historischen Sachverhalte zu stoßen.
Aufgrund der Besonderheiten unserer Nationalgeschichte, daß nämlich nur als Mythos das Deutsche Reich existierte, wo England und Frankreich längst den Nationalstaat realiter geschaffen hatten, legt sich den Deutschen immer wieder die Vermutung nahe, man könne durch das Wörtlichnehmen des Mythos, durch das Verwirklichen der mythologischen Erzählungen geschichtliche Realitäten schaffen. Der bisher und hoffentlich auf alle Zeiten wirksamste Realisierer des deutschen Mythos konnte nur deswegen die Hälfte der Nation als Mitarbeiter einsetzen, weil er gar nicht daran dachte, ihnen einen neuen Mythos aufzuoktroyieren. Zum Religionsstifter hat es selbst bei Hitler nicht gereicht.
Er brauchte die Deutschen nur zu fragen, ob sie denn auch tatsächlich in einer Welt leben wollten, die ihren Mythos als verwirklichte Geschichte akzeptierte. Wo immer der Mythos - und sei es in der Gestalt wissenschaftlicher Systementwürfe - als bloße Handlungsanleitung für gesellschaftliches Tun verstanden wird, da grassiert heute noch und heute wieder die deutsche Krankheit in der Welt.
Nicht als Handlungsanleitung, sondern als Begründung von Kritik an allen wie auch immer gegebenen Bedingungen des sozialen Lebens in der Welt sind Mythen leistungsfähig, seien sie nun von einzelnen Wissenschaftlern oder Künstlern in die Welt gesetzt oder auch nur vergegenwärtigt worden.
Wir würden einen entscheidenden Teil unserer Kritikfähigkeit einbüßen, wollten wir auf das mythische Potential verzichten, das der Nationalsozialismus zur Geschichte umbaute. Wir werden einer erneuten Verwirklichung nur vorbeugen können, wenn wir ihn als Mythos und nichts anderes uns selbst immer wieder vor Augen führen. Das ist der eine Teil der Leistungen, die durch die Werke von Kiefer, Baselitz, Lüpertz, Immendorf, Hödicke, Penk, Palermo, Höckelmann, Disler und anderen angeboten werden.
Die affektive Betroffenheit vor jenen Werken rührt meiner Erfahrung nach eben daher, daß diese Künstler, wie seit der Pop-Art nicht mehr, genau die sozialen Sachverhalte bewußt oder unbewußt treffen, aus denen die Lage der Nation sichtbarer wird als aus den entsprechenden regierungsamtlichen Verlautbarungen.
Gefahr ist angezeigt, wo die mythische Einheit der deutschen Nation nicht mehr nur als eine Begründung für Kritik an den faktisch bestehenden deutschen Staaten zitiert wird, sondern als verwirklichte Geschichte beschworen wird. Und wer beschwört nicht inzwischen vom linken wie vom rechten Abseits aus die Einheit der deutschen Nation?
Kiefer und Syberberg
Was Wippchens Faß die Krone aufsetzt, ist die durchgängige Verdächtigung von Künstlern wie Baselitz oder Kiefer als Heilrufer nach deutschem Vorbild. Da nun erreicht die Würdigung der Biennale durch die Kritik tragische Züge, die man dem öffentlich repräsentierten Leben in der Bundesrepublik schon nicht mehr eigen glaubte. Aber auch diese Tragödie wurde kontinuierlich nach 1950 weitergespielt, wenn auch nur auf den Hinterbühnen der Staatstheater.
Die Auseinandersetzung um Syberbergs Hitler-Film hat uns das bereits wieder ins Gedächtnis zurückgerufen: fähige Wissenschaftler und Künstler, die vor der Tyrannis nationalsozialistischer Kunst- und Kulturkritik (pardon - natürlich Kunstbetrachtung) hatten fliehen müssen, sah man nun jene schlimmen Urteile selber praktizieren, von denen sie einst bedroht waren. Eine unheimliche Übereinstimmung zwischen Täter und Opfer, an die auch nur zu denken ich mir verbieten möchte, auch, wenn sie nun Künstler wie Syberberg oder Kiefer zu den "eigentlichen" Nazis stempelt. Besonders feige Kritiker zitieren derartige Kennzeichnungen nur als Urteile unverdächtiger Ausländer. Etwa so: Der deutsche Pavillon dokumentiere einen Rückmarsch "in die glorreiche Vergangenheit, die Fahne hoch"; so habe immerhin die "Neue Zürcher Zeitung" Kiefers Bilder gedeutet, teilte der deutsche Kritiker mit.
Weiß Gott - Unfähigkeit der Kritik und daraus resultierende lebensbedrohende Infamien sind und waren nicht auf Deutschland beschränkt, wo ließe sich das nachdrücklicher erfahren als im Einzugsbereich jener ausländischen Blätter, deren Kritiker-Repräsentanten bei uns heute zitiert werden, um die eigene Denunziantengesinnung als bloße Wiedergabe angeblich unverdächtiger auswärtiger Kollegen zu tarnen.
Nein, so kommen wir nicht weiter, so dürfen wir nicht weitermachen.
Wie denn?
Strategie der Affirmation
Kiefer, Baselitz und andere oben mit einigen Namen Herbeigerufene bilden ganz sicher keine Gruppe oder Schule oder Mannschaft, die der gleichen Programmatik verpflichtet wäre. Dennoch kann ich sie, so verschieden sie im einzelnen sind, auf meine hier zur Diskussion gestellten Behauptungen hin angehen.
Das mit Verweis auf Baselitz eben angedeutete Umkehrmotiv läßt sich in anderer Hinsicht zum Teil auch mit dem Verweis auf das Werk von Kiefer sinnfällig darstellen.
Im Übergang zu den 70er Jahren hat Kiefer unter dem Titel "Besetzungen" ein Aktionsprogramm realisiert, das man als großartige Zusammenfassung ähnlicher Programme anderer Künstler der 60er Jahre werten kann. Er reiste an verschiedenste Plätze und in verschiedenste Landschaften des Teils von Europa, der durch die Hitler-Armeen besetzt worden war. Kiefer zeigte sich dort jeweils öffentlich mit zum Hitlergruß erhobenem Arm so lange, bis Umstehende diese demonstrative Geste bemerkt und fotografisch festgehalten hatten.
Naive Gemüter bestätigten sich ihre eigene demokratische Rechtschaffenheit, indem sie Kiefer nationalsozialistischer Gesinnung verdächtigten. Das ist so haltlos, wie es der Vorwurf an Staeck wäre, er sei ein CDU-Propagator mit der Aussage "Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen".
Der Vorwurf teutscher Mythomanie gegen Kiefersche Werke, die deutsche Mythologie zitieren - immer erneut erhoben - ist so haltlos, wie es der Vorwurf gegen Psychotherapeuten wäre, ihre Patienten terrorisieren zu wollen, weil sie ihnen eben jene Symptome verstärkt verordneten, unter denen diese Patienten leiden.
Ich weiß recht genau, wovon ich rede. Seit 16 Jahren versuche ich, ein derartiges Vorgehen als "Strategie der Affirmation" plausibel zu machen. Es hat nichts genützt, obwohl ich glaubte, mich dabei auf Überlegungen berufen zu können, denen man Aufmerksamkeit nicht verweigern kann: z. B. auf Bacons Maxime "Natura non nisi parendo vincitur", was zu deutsch die Marxsche Sentenz abgibt "Man muß die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt."
Immerhin gibt es ja außerkünstlerische Praxisbereiche, in denen diese Strategie der Affirmation sich als leistungsfähig erwiesen hat: in den Kampagnen der kollektiven Selbstanzeige zur Abtreibungsfrage; in den Kampagnen "Dienst nach Vorschrift".
Die medizinische Homöopathie verfolgt die Strategie der Affirmation.
Eulenspiegel und Nietzsche
Einer ihrer bedeutendsten Verfechter ist sogar sehr volkstümlich geworden, nämlich der deutsche Philosoph Till Eulenspiegel, wobei man gleich dafür sorgte, daß Eulenspiegels Beispiel nicht nachgeahmt werden konnte: indem man ihn zu einer Witzfigur verharmloste. (Heute von der aufgeklärten Kritik als Vorwurf hofnärrischer Klamaukmacherei gegen diejenigen Künstler erhoben, die die Strategie der Affirmation befolgen.)
Nicht nur das Volk, vor allem die hohen Herrschaften des Geistes haben ihre Schwierigkeiten mit dem Problem der Affirmation. Hatten sie Eulenspiegel als Narren stigmatisieren können, so erhoben sie seinen bisher bedeutendsten Nachfolger, Friedrich Nietzsche, zum Übermenschen, anstatt seinen populären dicta, daß Gott tot sei, daß der Wille zur Macht die Menschen beherrsche, daß alles Schwache und Kranke vernichtet werden müsse, damit die Zukunft den Herrenmenschen gehöre, als das zu verstehen, als was sie gedacht wurden. Sie sind die Konsequenz des Selbst- und Weltverständnisses, das die bürgerliche Gesellschaft beherrschte.
Die Konsequenzen wurden aufs radikalste, so weit wie nur immer möglich, durchdacht, um mit dem Schock, der von ihnen ausgehen sollte, die Bürger zu zwingen, jenes Selbst- und Weltverständnis endlich zu entdecken, von dem sie längst beherrscht wurden, obwohl sie immer noch das Gegenteil annahmen.
Nietzsche wußte, daß das moderne Gesellschaftsleben nicht mehr aus dem Kampf von Kraft und Gegenkraft der verschiedenen sozialen Gruppierungen organisiert werden konnte. Denn die Begründungen der gegensätzlichen Interessen ließen sich inzwischen gleich hieb- und stichfest entwickeln.
Es nützte nichts mehr, dem Gegner nachzuweisen, daß seine Behauptungen "falsch" seien. Man muß den "Gegner" dazu zwingen, seine eigenen Behauptungen ganz ernst zu nehmen, indem man sie selber zunächst einmal gelten läßt - ja, ihnen derart zustimmt, daß ihr Anspruch sich über alle anderen gegenteiligen Ansprüche hinwegsetzen könnte. Dann werden Konsequenzen sichtbar, die auch den mit der Existenzauslöschung bedrohen, der diese Ansprüche gerade noch glaubte, gegen alle anderen durchsetzen zu müssen.
Ein derartiges Vorgehen bis zum Rande des Abgrundes, bis ins Zentrum der Hölle meint die "Revolution des Ja", meint die Strategie der Affirmation.
Affirmation ist nicht Zustimmung als sich unterwerfende Anerkennung, sondern Radikalisierung eines Zustimmung fordernden Anspruches, bis der aus sich selbst heraus zusammenbricht.
Affirmation ist also nicht Position (die bloße Setzung eines Anspruchs), sondern tatsächlich Negation der Negation. In ihr werden nicht Spruch und Widerspruch in einer neuen Einheit versöhnt, sondern als nur aufeinander Bezogene und auseinander Entwickelte überhaupt begründbar. Weder der eine noch der Gegenanspruch könnte aus sich heraus sinnvoll begründet werden: Sieg des einen über den anderen vernichtet beide.
Wenn etwas von den Philosophen in Deutschland gedacht worden ist, was auch andere als für sich bedeutsam zu bedenken hätten, dann ist es die Entwicklung des eben skizzierten Gedankens.
Die Entfaltung dieses Gedankens in der Praxis betrieben vor allem Künstler - seit Nietzsche und Wagner ihren Streit begannen. Dabei behaupte ich wohl nicht ganz zu unrecht, daß Männer wie der junge Fritz Teufel Künstler waren, die ihren Handlungsbereich über die Kunst hinaus ausgedehnt hatten. Teufels Antwort auf die Aufforderung eines Richters, sich in der Anklagebank zu erheben, ist nahezu ebenso populär geworden, wie entsprechende Antworten Eulenspiegels: "aber gerne, wenn das der Wahrheitsfindung dient". Daß Teufel und andere die Museen verlassende Künstler der damaligen Zeit doch nicht ganz verstanden hatten, was die Strategie der Affirmation besagt, zeigt die Tatsache, daß sie zur herkömmlichen Form der Auseinandersetzung im Kampf von Macht und Gegenmacht zurückfielen oder sich in sie zurückzwingen ließen. Ein Syberberg, ein Kiefer haben das verstanden. Es bleibt zu hoffen, daß ihre Kritiker das möglichst bald auch verstehen werden, damit auch sie endlich wenigstens einige Schritte über den Stand der Diskussion dieser Probleme hinauskommen, wie er in der Auseinandersetzung Nietzsches mit Wagner bereits erreicht war. Ich wage es, das gegenwärtig wieder erwachte Interesse an Nietzsche und Wagner in diesem Sinne zu bewerten.
In Venedig
Kiefer zeigte in Venedig vier große Arbeitskomplexe:
"Deutschlands Geisteshelden" von 1973 (370 x 682)
"Parzival" von 1974 (300 x 560)
"Wege der Weltweisheit - Die Herrmannschlacht" von 1978 (300 x 330)
und mehrere seiner großen Bücher aus demselben Zeitraum wie die drei anderen Werke.
Die Hängung der Werke im deutschen Pavillon war so optimal, daß man meinen konnte, sie seien für den Pavillon geschaffen worden. Natürlich ist das nicht der Fall, Kiefer hatte sie nur im Hinblick auf den deutschen Pavillon ausgewählt. Es wird mir schwer, mich an eine ähnlich gelungene Hängung in einer Ausstellung der jüngsten Vergangenheit zu erinnern. "Parzival" und "Deutschlands Geisteshelden" bildeten die Endpunkte der Achse, die die beiden großen Seitenräume zum Zentralraum des Pavillons mit ihren Wandöffnungen ermöglichen, wobei diese Achse den Zentralraum durchschneidet. Im letzteren Baselitzens Plastik.
Die Formate der beiden Werke legen dem Betrachter den Eindruck nahe, lebensgroß in die Bildräume eindringen zu können.
"Deutschlands Geisteshelden", mit Kohle und Öl auf Rupfen, zeigt einen Einblick in einen lang ausgerichteten Raum, dessen hölzerne Hallenkonstruktion ihm das Aussehen einer Scheune gibt, deren Seitenwände allerdings von Fenstern durchbrochen sind. Zwischen den Fenstern Stützpfeiler der Dachkonstruktion, zwischen den Pfeilern vor den Fenstern Opferfeuer, der Anmutung nach etwa zwischen antiker Beckenesse und olympischer Flamme. Zu jedem Opferfeuer eine Inschrift mit dem Namen eines deutschen Geisteshelden, unter denen in unserem Zusammenhang nur der Wagners erinnert werden soll.
Das gegenüber gehängte "Parzival", Rauhfasertapete, leinölgesättigt, schwarze Ölfarbe, Eisenoxyd, zeigt einen Blick in einen fensterlosen Dachboden. Vor einer seiner quer dargestellten Seitenfronten eine Handwaschtischschale, wie sie früher in Haushaltungen verwendet wurden.
Durch die leichte Aufsicht wird in der blechernen Waschschale Blut sichtbar. Die Inschriften - wie zumeist bei Kiefer hart in die Bilder eingeschrieben, so daß man sogleich daran gehindert wird, den Bildraum als illusionistische Raumdarstellung aufzufassen - verweist auf Parzival und ein zentrales Geschehen in der Parsivalerzählung, die in der Wagnerformulierung "Erlösung dem Erlöser" begrifflich angesprochen wird.
Es ist verständlich, daß ein sowohl sehunerfahrener wie mit den Problematiken der Affirmation unvertrauter Betrachter annehmen kann, er habe es hier mit einem bloß positiven Ausweis germanophiler Mythologie zu tun, anstatt mit deren Affirmation.
Ein vollkommen unerfahrener Mensch wird schließlich in allem nur das sehen, was er sehen will. Wer seinerseits gegen derartige schwarz-weiß-rot gemalten Mythen gefeit ist, weil er sie als Mythen und nichts anderes versteht, also sie nicht als Abbildungen liest, wird keinen Anlaß haben, sie durch Verdrehung und Projektion zu verleugnen. Dazu ist nur genötigt, wer seinen Anteil an ihnen nicht kennt; wer seine Omnipotenzphantasien, seine Sehnsucht nach Stillstellung des Weltlaufes in einem ihm sinnvoll erscheinenden Zustand; wer seine Versuchung zur Erpressung anderer durch Bereitschaft zur Aufopferung nicht zu erkennen wagt.
Die Kieferschen Werke muten dem Betrachter derartige Erkenntnis seiner selbst in den Erzählungen zu, die wie der Parzival-Mythos derart überwältigend sind, daß man sie keinem individuellen Urheber verdankt glauben kann, und die deshalb den Eindruck erwecken, als habe sich in ihnen so etwas wie Geist eines Kollektivs, gar der Geist der Menschheit zu erkennen gegeben.
Künstler und Mythos
Darin liegt eben die Gefahr von scheinbar urheberunabhängigen Aussagen, die, weil sie keinem Individuum mehr zuschreibbar sind, über alle Individuen gleichermaßen hinweggehen. Mythos ist Erzählung, die urheberunabhängig geworden ist und daher einen allgemeinen Geltungsanspruch zu rechtfertigen scheint. Positive Wissenschaft verfährt auf gleiche Weise, sie ist der heute allein gefährliche Mythos. Ihre Geisteshelden rühmen sich des Verdienstes, selbst nicht mehr als Individuen in den Aussagen aufzutreten, die sie repräsentieren. Sie haben ihren Geist dem Geist geopfert in der erpresserischen Hoffnung, als Agenten der Wahrheit dafür belohnt zu werden, daß sich das Geschehen in der Welt genau so entwickelt, wie sie es vorausgesehen und gewollt haben.
Dagegen gibt es nur den Einspruch der Künstler, wenn wir, und das scheint besonders heute sinnvoll zu sein, als Künstler alle diejenigen verstehen, die auf gar keinen Fall bereit sind, als Aussagenurheber hinter ihren Aussagen zu verschwinden; ganz gleich, ob sie nun Künstler im Wissenschaftsbereich, im Sozialbereich oder im Kunstbereich sind.
Am dringlichsten wäre das Bestehen auf der Aussagenurheberschaft in der Politik, wo man am leichtesten reüssiert, wenn man sich als geistloser Agent des großen Geistes, als Verwirklicher kollektiver Mythologien, als interesseloser Beförderer von Ideen präsentiert. Wer das nicht tut, wird als bloßer Macher auf dem Boden der Realitäten festgenagelt.
Kiefers Versuch, die heutigen und die alten Mythen aufzusprengen, indem man ihre ganz menschlichen Urheber in ihnen wieder sichtbar macht - sie also als die Geister zeigt, die sie tatsächlich waren - heißt eben nicht, den Teufel affirmativ mit Beelzebub auszutreiben. Man darf ihn gar nicht vertreiben wollen, weil man sonst der Illusion verfallen könnte, das Übel aus der Welt bringen zu können.
Diesem Irrtum verfallen unsere positiven Wissenschaftler, die von Problemlösungen sprechen, ohne zu verstehen, daß Probleme nur "lösbar" sind, indem man neue schafft.
Diese Herren betrieben Problemlösung auf allen Ebenen nur als ein Unsichtbarmachen. Sie verwandelten das sichtbar Böse und den sichtbaren Schmutz in Gifte, die von den menschlichen Organen nicht mehr wahrgenommen werden können.
Aufgabe des Künstlers ist es, auf Wahrnehmbarkeit, auf Sichtbarkeit dessen zu bestehen, womit wir als Problem auszukommen haben, ohne hoffen zu können, sie jemals aus der Welt zu bringen.
Ich hoffe, daß mir noch jemand zuhören wird, wenn ich das fortsetze. Ich widme diese dreitägige Sklavenarbeit Jürgen Manthey. Er wird wissen, warum.