Ausstellungskatalog Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart

Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart
Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart

Kunstmuseum Wolfsburg, May 13 - Oktober 3, 2010 ; Kunstmuseum Stuttgart, February 5 - May 22, 2011 ; [on the occasion of the Exhibition Rudolf Steiner and Contemporary Art] / ed. by Markus Brüderlin and Ulrike Groos. With contributions by Holger Broeker ...

Erschienen
2009

Herausgeber
Markus Brüderlin

Verlag
DuMont

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

Steiners Gegenmodell

Wie kaum ein Zweiter vermochte Rudolf Steiner, aus dem letzten Großversuch dieser Art der Zusammenführung von Poiesis und Praxis durch Richard Wagner, seine Konsequenzen zu ziehen, und ein Gegenmodell zu entwickeln. Er war einerseits immer orientiert an dem Wagnermotiv, andererseits aber notwendig gezwungen, sich von ihm abzusetzen, weil der Anspruch, den er selbst setzt mit dem wagnerischen Vorgehen nicht realisierbar gewesen wäre. Als wer wollte Steiner agieren, als Kreator-Gott oder in der Imitatio Christi? Als einer, der herumzieht und die Wunder der Erleuchtung tut, stand er in der Imitatio; seine Arbeit bestand darin, die Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit darzustellen, d. h. sie aufzuklären, also ins Zentrum des Lichtkegels zu stellen. Je erfolgreicher er damit wurde, desto stärker war er versucht, sich als Oberhaupt einer Bewegung zur Durchsetzung von Geltung der Wahrheit zu sehen (noch heute muss man im demokratischen Rechtsstaat beschwören, sich ausschließlich auf die Wahrheit zu stützen bei dem Versuch, politisch oder gesellschaftliche Geltung zu erreichen).

Steiner muss als Geisteslehrer auf Geltung dringen, er muss als faktischer Bewirker die Imitatio Kraft Christi repräsentieren, und er muss den kapitalistisch Verseuchten zeigen, dass es da eine materiell-physische Ebene gibt, auf der der Hintergrund der ganzen Geschichte als Werk vorhanden ist, die Natur nämlich. Er ist aufgeklärt genug, den Werkbegriff nicht mehr für das Kunstwerk zu reklamieren, sondern für das Werkschaffen als inhärentes Ziel des Arbeitens („Arbeiter! Ans Werk!“) generell. Dadurch kommt es zu einer Gleichschaltung von Steiner’scher Spiritualitätsbewegung, also d.h. Imitatio Christi, mit den Kreatoren des Kapitals, das heißt den Arbeitern und damit zur sozialistischen Bewegung, die ja die schöpferische Energie des Gottes über die Stufe des künstlerischen Werkschaffens jetzt zur allgemeinen Werktätigkeit entwickeln, so dass wir dann Werktätigkeit als Representatio des schöpferischen Gottes kennen. Bei der Spiritualität im Sinne der Imitatio Christi ist das eigentlich Wichtige, die Seele der Menschen, ihre Lebensform, ihre Vorstellungen in Bewegung zu bringen. Da hatte Steiner sehr viel aus der Lebensreformbewegung vom Ende des 19. Jahrhunderts mit übernommen. Genauer gesagt: er hat sie zum Teil selber mit geschaffen bzw. hat sie eigentlich erst definiert: als anthroposophische Bewegung. Er setzte sich von dem doch nur kulturalistisch beschränkten Verständnis von Spiritualität ab, dass etwa durch Frau Blavatsky als Indien-Schwärmerei das Großbürgertum entzückte. Rudolf Steiner hat sich durch die Wahl des Begriffs „anthropos“ in die Tradition der Aufklärung gestellt und sich deutlich von Theosophie und Theodizee, also den Rechtfertigungslehren für göttliche Willkür entgegengestellt. Dass er dann den Begriff Anthroposophie statt Anthropodizee wählte, verdankt sich der pragmatischen Intuition, seine Wirkung besser durch die Orientierung auf Philosophie zur Geltung zu bringen, statt auf die weniger volkstümliche und von Leibniz her mathematisch geprägte Theodizee zu setzen. Natürlich musste Steiner sein Programm als Weltbild, als Schulbild, als Gemeinschaftsbild formulieren, wie man das aus der paulinischen Gründungsphase der christlichen Gemeinden auch kennt.

Machen wir uns das an einem heutigen viel diskutierten Problem klar:
Wer auf den Kunstmarkt orientiert ist, benötigt einen Blickfang, einen visuellen Attraktor als Werk an der Wand. Konzeptkünstler, die Sola-fide-Künstler, die nur durch den Glauben an die „heilige Kunst“ oder die göttliche Einstrahlung in das menschliche Gefäß arbeiten, haben demzufolge am Kunstmarkt keine Chancen. Von den handfesten Kunstwerkshändlern werden diese Kunstanbeter in die Ecke zu den Werkzeugkisten, Reinigungsmitteln und zu den Notfallgerätschaften gestellt. Denn Kunsthändlern und ihrer Klientel bemisst sich Geltung am Marktwert, die imaginatio an der Sinnlichkeitsattraktivität, die cognitio wird im Wesentlichen durch die Nennung des Urhebernamens ausgewiesen, wobei es bemerkenswert ist, mit welcher Rafinesse die Händler in allgemeinverständlichster Kurzform selbst die komplexesten Werke und ihre Urheber kennzeichnen („Der Mann mit dem Hut“, „der Mann mit dem abgeschnittenen Ohr“, „der Klassiker“, „der bedeutendste deutsche Künstler der Gegenwart“ – wahlweise Immendorf, Baselitz, Polke, Kiefer etc.). Die Konzept-Leute, die sola fide, nur aus dem Glauben, und nicht aus der Überwältigung durch ein glanzvolles Werk auf die Kunst orientiert sind, fassen Geltung als Hingabebereitschaft einer Gemeinschaft auf, verstehen die Wirkung als wunderbare Eröffnung von inneren Vorstellungswelten, Gefühlen und Mitschwingenergien. Die cognitio als begrifflich bestimmbare Erkenntnis durch das Formulieren dieser Begriffe erfüllt sich als programmatischer Grundsatz, dass Gott, Natur, Mensch etc. ein Leib, ein Geist und ein Gesetz sind – in Analogiebeziehungen derart: „Im Kleinen wie im Großen, im Inneren wie im Äußeren, im Seelischen wie im Materiellen, im Gewesenen wie im Zukünftigen“. Die Steiner’sche Vermittlung zwischen den Positionen lautet: Der Werkbegriff kann nicht für das Kunstschaffen reklamiert werden, Werke sind vielmehr Indikatoren, also Vermögensstandsanzeiger für das Gelingen, den schöpferischen Akt, seine Wirkung und Geltung als Einheit des Arbeitens zu realisieren, nämlich im untrennbaren Wechselspiel von Leben und Arbeiten, von Praxis und Poiesis. Wie sollte das gelingen? Es gelingt insofern, als Rezipienten zu Produzenten werden, als Kunstbetrachtung selber zur künstlerischen Aktion wird, als das anleitende Lehren selber zum produktiven Hervorbringen des zu Lehrenden und zu Lernenden ist. Und insofern als das Lernen wollen unabdingbar zur erforschenden Untersuchung, zur inventio wird.