Buch Das Ende der Gewissheiten

Reden über Europa

Das Ende der Gewissheiten
Das Ende der Gewissheiten

Verlagsangabe:

Das Europa der Religionen

Unter großer Beachtung von Medien und Publikum fand im Herbst 2008 die zweite Staffel der Reden über Europa, ausgerichtet von der Allianz-Kulturstiftung, im Wiener Burgtheater statt. Im Frühjahr 2009 wurde die Reihe in der Berliner Staatsoper Unter den Linden fortgesetzt. Die prominenten und renommierten Autoren dieses Bandes suchen nach Antworten auf die Gretchenfragen: Kann es eine europäische Identität ohne Religion geben? Wie kann eine echte Symbiose der Traditionen und Religionen in Europa gelingen?
Quo vadis, Europa? - Unsere Zeit steht im Zeichen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Für viele Menschen bedeutet sie eine Zeitenwende und das Ende alter Gewissheiten. 23 renommierte Autoren - Politiker, Wissenschaftler, Wirtschaftsführer und Intellektuelle – suchen nach Antworten auf die drängendsten Fragen: Welche Lektionen sind aus dem Systembeben der Wirtschaft zu ziehen, das alle Lebensbereiche erschüttert? Wie lassen sich die Folgen des Klimawandels abfedern? Wie kann sich Europa als Global Player behaupten und zugleich in seinem Innern eine vitale Symbiose der Kulturen und Religionen schaffen? Die Autoren des Bandes: Daniel Cohn-Bendit, Tariq Ramadan, Bazon Brock, Sybille Krämer,
Konrad Paul Liessmann, Anthony Giddens, Peer Steinbrück, Michael Schindhelm, Ulrich Beck
u.a.

Erschienen
2008

Herausgeber
Michael Thoss, Christina Weiss

Verlag
Diedrichs Verlag

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
978-3-424-35014-2

Umfang
288 S.

Seite 47 im Original

Europa als Avantgarde einer Weltzivilisation

Wider den Kulturalismus

1. Eurozentrismus?

Jedermann, der mit Bezug auf die geschichtlichen Errungenschaften von Europa spricht, hat als erstes den allfälligen Vorwurf zu bedenken, eurozentrische Positionen zu vertreten. Die historischen Leistungen Europas werden markiert mit den Prinzipien der Individuation, der Gewaltenteilung, des Rechts- und Sozialstaats und mit der Organisation der Gesellschaften als Demokratien, in denen Streikrecht, Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit und die Freiheit von Künsten und Wissenschaften zur Geltung gebracht werden können.
Über diese allgemeine Kennzeichnung hinaus wird stets ein Cluster sozialer Errungenschaften wie Arbeitsschutz, innerbetriebliche Mitbestimmung, Alters- und Krankheitsschutz angeführt. Vor allem aber dürfte die europäische Geschichte dafür stehen, die Einheit von Gesellschaften als trans-kulturelle, universale Orientierung auf Zivilisation herstellen zu wollen.

Der Vorwurf, man mache sich eurozentrischer Vormachtsbestrebungen schuldig, wenn man auf besagte Fortschritte beim Aufbau der Zivilisation hinweist, kann auf eine sehr einfache, nichts desto weniger schlagende Weise widerlegt werden: Die Fortschritte mussten in innereuropäischen Auseinandersetzungen unter größten Opfern über 200 Jahre hinweg erkämpft werden. Die Durchsetzung der Errungenschaften hat sogar innereuropäisch radikalere Konflikte bewirkt, als es die zwischen Europa und jenen Regionen der Welt heute sind, aus denen der Vorwurf des Eurozentrismus erhoben wird. Den Rest erklärt die Individual- und Gruppenpsychologie, derzufolge nicht verarbeitete Selbstvorwürfe als Stigmatisierung Dritter ausgelebt werden. Die Selbstgeiselung von Europäern, der europäische Begriff der Weltzivilisation sei eurozentrisch, beruht auf der peinigenden, nicht eingestandenen Erkenntnis, dass man selbst nicht das Geringste für die Durchsetzung der Zivilisation gegen die Pathetiker der kulturellen Identität getan habe.


2. Kreuzfahrer

Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden, heißt die Anleitung zur Rechtfertigung des Masochismus. Die Erhöhung ihres moralischen Standpunkts erwarten Europäer, wenn sie mit dem Nachdruck von Unbefleckten gegen Zionisten oder Jerusalem-Pilger anderen Zuschnitts den Anwurf erheben, da solle schon wieder der alten Kreuzfahrertradition entsprochen werden; eine Warnung, die umso selbstloser von Europäern vorgetragen werden könne, als sie ja auch von den betroffenen Muslimen immer wieder erhoben werde. Das ist eine der bemerkenswertesten Leugnungen historischer Tatsachen aus dem Geiste der moralischen Selbstrechtfertigung. Mit dem Kreuzfahrervorwurf wird die unterstellte Absicht gekennzeichnet, muslimischen Kulturen ihren legitimen Anspruch auf Jerusalem bestreiten zu wollen. Historische Tatsache aber ist, dass Muslime den Juden und Christen das Recht auf die angestammte Lebenssphäre „Gelobtes Land“ streitig gemacht haben. Da sich der Islam erst ab Mitte des 7. Jahrhunderts die Welt anzueignen versuchte, Juden und Christen aber in der Region seit mindestens 2.000 bzw. 600 Jahren gelebt hatten, bevor der Prophet den Auftrag Allahs zur Unterwerfung der Welt verkündete, trifft also zu, dass die Halbmondfahrer sich genau der Usurpation schuldig gemacht haben, die sie den Kreuzfahrern vorwerfen. Kreuzfahrer sind also die Muslime in Gestalt ihrer Gegner.
Dass Europäer sich selbst so lustvoll dieser Kreuzfahrermentalität bezichtigen, besagt umgekehrt, dass sie sich rechtzeitig auf die Seite der Sieger in der weltgeschichtlichen Entscheidung zwischen islamischer Welt und Christenheit schlagen wollen. Das psychologische Muster für derartigen Opportunismus filterte Camus aus Beobachtungen während des algerischen Unabhängigkeitskriegs. Camus erzählt, eine junge Zivilistin habe auf die Frage, warum sie sich gerade Gruppierungen anschließe, die am entschiedensten durch Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit gegen das angebliche Ideal der Freiheit verstießen, geantwortet: Wenn sie als Mitglied der mildtätigen und freiheitlichen Gruppierungen von den Radikalen gefangen genommen werden würde, habe sie das Schlimmste zu erwarten; deshalb gehöre sie zu den Brutal-Radikalen, denn bei Gefangennahme durch die weniger radikale Gruppe sei ihr milde Behandlung durch den Gegner gewiss. Nach diesem Muster orientieren sich nicht nur psychopathische Konvertiten. Wer aus guten Gründen den endgültigen Sieg der Muslims für unabdingbar hält, wird vernünftigerweise dafür Sorge tragen, nicht den Siegern als Feind in die Hände zu fallen.
Es gehört zu den überzeugendsten Aspekten der muslimischen Welteroberung, dass sie jedermann in den eroberten Ländern die Intelligenz zutraut, solchen Argumenten folgen zu wollen.


3. Europas Aufstieg

Allseits wird die Einschätzung akzeptiert, dass die chinesische wie die arabische Kultur in vielen Hinsichten der Zivilisation des mittelalterlichen Europas überlegen gewesen sei. Umso dringender die Frage, was den Aufstieg Europas ab dem 13. Jahrhundert begründete? Die Gründe kann man in der summarischen Feststellung bündeln, dass es die Europäer verstanden, „tausend Blumen blühen zu lassen“, indem sie bloßen Individuen erlaubten, zu Aussagenautoritäten zu werden. Herkömmlich gelten in Kulturen nur sechs Wege zur Begründung von Aussagenautorität, nämlich die Zustimmung des Vaters, der Götter und ihrer Priester, der weltlichen Führer und Lehrer, der Traditionen und Sitten. Jeder Anspruch auf Autorität konnte nur durch Verweis auf diese Instanzen erhoben werden. Ausgehend von oberitalienischen Stadtstaaten setzte sich in Europa aber, nach heftigen Auseinandersetzungen mit den Kulturalisten, das Prinzip „Autorität als Autorschaft“ durch. Den Individuen wurde gestattet, eigenmächtige, deswegen allerdings nur hypothetische Behauptungen über die Welt zu bilden, um zu erproben, wie weit man das eigene Weltverständnis durch die Arbeit mit den eigenen Annahmen verändern könne. Das Prinzip „Autorität durch Autorschaft“ zuzulassen, war der gut begründeten Vermutung zu verdanken, dass die beliebigen Mutmaßungen Einzelner keine Gefahr für die kulturelle Gewissheit der Kollektive bedeuten können. Zudem schienen diese kulturellen Gewissheiten gerade dadurch geschützt, dass sich die Vorgehensweisen der Individuen eben nicht als kulturell-religiöse Dogmen ins Spiel bringen wollten, sondern ganz im Gegenteil, sich als bloß experimentell, also völlig undogmatisch verstehen ließen. So erklärt sich der Aufstieg Europas aus der unglaublich schnell wachsenden Zahl von Individuen, die bereit und fähig waren, sich ihres eigenen Verstandes ohne Autorisierung durch die Repräsentanten der Kulturen und Religionen zu bedienen. Es ist nur natürlich, dass in allen Belangen das Vermögen zur Naturbeherrschung, auch das zur Beherrschung der menschlichen Natur, schnell und umfassend steigt, wo Zehntausende gleichzeitig je unterschiedliche Strategien und Konzepte entwickeln und erproben.


4. Säkularisation

Die Grunderfahrung der westlichen Moderne, explizit seit ihrem Selbstverständnis als Aufklärung im 18. Jahrhundert, besteht in der Einsicht, dass gerade das emphatische Insistieren auf Rationalität, Faktizität und soziale Zweckmäßigkeit, die Orientierung auf deren Widerpart, auf Irrationalität, Kontrafaktizität und Absurdität, hervorruft. Schon Hegel wandte gegen Kant ein, dass dessen Markierung der Grenzen des menschlichen Verstandes das Gegenteil der zugrunde liegenden Absicht bewirke; denn wo Grenzen gezogen werden, werde gerade der Blick auf das Jenseits der Grenze gelenkt. Wenn sich Rationalität vernünftig als Wissen um die Grenzen der eigenen Urteile definieren lässt, dann bewirkt das strikte Bestehen auf Rationalität zwangsläufig die suggestive Erwartung des Irrationalen. Faktizitätspostulate führen zur Begründung von Kontrafaktizität und die Unterwerfung menschlicher Beziehungen unter den Primat der sozialen Zweckmäßigkeit intensiviert die Sehnsucht nach dem Gegenteil solcher Kalküle des Nützlichen, nach Absurdität, deren weitaus bedeutendsten Ausformungen einerseits das religiöse Bekenntnis „credo, quia absurdum“ ist und andererseits der Bestätigung von Liebe als Kraft, alles Kalkül zu überschreiten: „Denn die Liebe ist größer als aller Verstand“.
Die durch das westliche Verständnis von Zivilisation unabdingbar zu fordernde Säkularisation beruht also nicht mehr nur auf der Trennung zwischen moderner Zivilisation als Stiftung trans-kultureller Einheit und kulturalistischer Vor-Moderne, geprägt durch die zentrale Kraft jeder Kultur, nämlich den Letztbegründungsmythos als Stiftung einer Religion. Säkularisation ist vielmehr der Ausdruck der Insistenz auf Rationalität, Faktizität und Kalkül, weil deren Gebrauch zur systemimmanent erzwungenen Orientierung auf deren Gegensatz führen muss. Säkularisation wird also gekennzeichnet durch die Notwendigkeit, einen vernünftigen Umgang mit der Unvernunft zu erreichen, statt sich über die normative, Verhalten bestimmende Kraft des Irrationalen, Kontrafaktischen und Absurden meinen hinwegsetzen zu können. Man erschließt sich die europäische Tradition von Aufklärung am nachhaltigsten, wenn man Vernunft als die unabdingbare Einheit von Faktizität und Kontrafaktizität, von Rationalität und Irrationalität, von Kalkül und Absurdität begreift.
Ein derartiges Verständnis von Säkularisation führt gerade zur respektvollen Anerkennung der Macht der Religionen, der Liebe und jeglichen anderen Formen von Kontrafaktizität, anstatt sie als bloße Atavismen zu stigmatisieren.


5. Paradoxie der Freiheit

Zu den Konsequenzen der durchgesetzten Säkularisation gehört die Gewährung von Freiheit der Religionsausübung. Kann die auch für diejenigen Religionen gelten, die sich gerade nicht auf die vernünftige Balance zwischen Rationalität und Glauben einlassen wollen, sondern den Primat, ja die Normativität des Kontrafaktischen aus religiöser Glaubenspflicht mit allen Mitteln meinen durchsetzen zu müssen? Besonders im Geltungsbereich des Grundgesetzes der BRD ist die Paradoxie der Freiheit, keine Freiheit für die Feinde der Freiheit, immer wieder auffällig geworden. Wenn politisch, religiös, kulturell Verfolgten Asyl gewährt wird, wollen auch diejenigen rechtmäßig Asyl beanspruchen, deren religiösen Überzeugungen ihnen ausdrücklich die grundgesetzlich geforderte Säkularisation nicht anzuerkennen ermöglicht, sondern auf der Ausschließlichkeit ihres Offenbarungswissens gerade deshalb bestehen lässt, weil sie dessentwegen verfolgt wurden.
Sich hinter solchen Paradoxien der Konfliktvermeidung wegen zu verschanzen, ist riskant. Man sollte wenigstens wissen, wie man aus paradoxaler Erstarrung herauskommt, zum Beispiel mit dem Angebot der Dialektik. Was würde die empfehlen angesichts der Paradoxie der Regelhaftigkeit: Keine Regel ohne Ausnahme? Wenn vor den Instanzen der Regelanwendung, den Gerichten, gefordert wird, im Einzelfall, z.B. den Härtefall, von der Regel abzuweichen, dann gilt gerade für die Asylgewährung politisch, sozial, kulturell Verfolgter, dass jeder Fall ein Ausnahmefall ist. Das anzuerkennen hieße aber, regelrecht die Regel außer Kraft zu setzen und den Unterschied zwischen Regel und Ausnahme aufzuheben. Faktisch geschieht das längst, wo die Konsequenzen einer Anerkennung und Nicht-Anerkennung von Asyl-Anträgen ununterscheidbar geworden sind.


6. Kulturelle Identität

Zu den berühmten Treppenwitzen der Geschichte, also zu dem Getratsche der Küchenmädchen über die Herrschaft, gehört die Entstehung der nationalen Kulturstaaten Preußen, Russland und England aus dem Widerstand gegen Napoléon. Besagte Staaten wollten sich wehren gegen den durch den Code Napoléon formulierten Anspruch einer universalen Zivilisation, die Napoléon gegen alle kulturalistische und regionale Identitätskrampferei durchsetzen wollte. Sinnigerweise lernten die Preußen gerade von den französischen Revolutionären Motive für den Kampfeswillen einer Volksarmee gegen den bloßen Berufsopportunismus von Söldnertruppen zu entwickeln. Auch vaterländisches Pathos leiteten die Preußen von den die Marseillaise singenden Revolutionären ab, die sich als „Kinder des Vaterlandes“ Kampfespflicht abforderten. Da aber die Vaterlandsliebe der französischen Revolutionäre zum Sturz, ja zur Ermordung des angestammten Königs, des sechzehnten Ludwigs, geführt hatte, glaubten sich die Preußen, Russen und Engländer im Namen ihrer Herrscher, der „Väter der Vaterländer“, verpflichtet, sich dem französischen Beispiel zu widersetzen, obwohl sie ja gerade im Namen der Freiheit und der dynastischen Brüderlichkeit und der christlichen Gleichheit als Gotteskinder Widerstand gegen die Vereinnahmung in die abstrakt bleibende Konzeption einer Weltgesellschaft leisteten – und das verwundert umso mehr, als ihnen mit der tausendjährigen Anerkennung des katholikos, der Gemeinschaft aller rechtgläubigen Christen, ein Beispiel für die Einheit aller Menschen vertraut gewesen sein musste. Aber als Lutheraner, Orthodoxe und Anglikaner hatten sich ja Preußen, Russen und Engländer bereits seit langem von dem Geltungsanspruch des katholikos abgekoppelt.

Wie ist zu erklären, dass man im Namen der gleichen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit doch glaubte gegeneinander kämpfen zu müssen? Natürlich ging es primär um Machtpolitik. Aber um sie durchsetzen zu können, entwickelte man zu Beginn des 19. Jahrhunderts unhintergehbare Begründungen mit der Behauptung, jedes Volk sei als Nation und Kultur- wie Sprachgemeinschaft geradezu verpflichtet, wegen der Einlösung seiner Besonderheiten auf dem Freiheits- und Gleichheitsgrundsatz bestehen zu müssen. Dabei wurde alles drangesetzt, die jeweilige Besonderheit in kultureller, ethnischer und geschichtlicher Hinsicht hervorzuheben. Im Falle des von Preußen dominierten deutschen Widerstands gegen die Gleichmacherei Napoléons führte das zur Entwicklung von vaterländischen Wissenschaften wie der Germanistik, die gegen alle historische Wahrheit etwa die Erfindung der Gotik zum deutschen Nationalstil ausrief. Insofern die Franzosen durch die Revolution von 1789 und die Auslöschung der Bourbonen-Dynastie der Etablierung einer universalen Zivilisation, also einer Weltgesellschaft verpflichtet zu sein schienen, mussten die Preußen, Russen und Engländer ganz besonders auf die Entfaltung der regional-kulturellen Einheit bedacht sein.
So entstand der für die europäische Geschichte zweite grundlegende Konflikt, nämlich der der deutsch-französischen Erbfeindschaft als einer unversöhnlichen Konfrontation von Kultur und Zivilisation, also von deutscher Kulturnation und civilisation française. Die unsäglichen Folgen dieser zweiten europäischen Katastrophe konnten es durchaus mit denen der ersten, nämlich den dreißigjährigen Religionskriegen zwischen Protestanten und Katholiken aufnehmen.
Die dritte, noch folgenreichere Konfrontation, die projektierte Auslöschung der jüdischen Kultur durch die deutschen Nationalkulturalisten, machte dann aber allen Europäern endgültig klar, wohin die kontrafaktische Behauptung von kultureller, ethnisch-rassischer, sprachlicher und nationaler Identität, gar noch in einer homogenen Ausprägung dieser Identität, führt, – wenn auch im einzelnen und kleinen weiterhin der kulturelle Identitätswahn wie in Nordirland, im Baskenland, in Korsika und auf dem Balkan lebendig zu sein scheint – und heute, was viel bedenklicher ist, im Namen der Durchsetzung von religiös-kultureller Suprematie, wie der des Islam in Europa, historisch längst erledigt geglaubte Gegnerschaften wie Feindbilder wieder zurück kehren.
Europa eine Bestimmung zu geben, die auch aus der leidvollen Erfahrung in der Geschichte des Kontinents beglaubigt ist, heißt deshalb: Europäer könnten die Welt lehren, dass nur der Aufbau einer Weltzivilisation die Gewähr dafür bietet, die ewigen, kulturell-religiös begründeten Vormachtskämpfe einzuhegen in der Erkenntnis, dass jede Gruppe nur kulturell-religiöse Identität beanspruchen kann, soweit sie anderen das Gleiche zugesteht.
Europa eine Bestimmung zu geben, heißt also, es zur Avantgarde einer Weltzivilisation werden zu lassen. Das sollte umso eher möglich sein, als die Prinzipien kulturell-religiös unabhängiger Praktiken wie die der Künstler, Wissenschaftler, Techniker, Diplomaten in Europa kodifiziert wurden und weitgehend bereits weltweit gelten; zum Beispiel als Verkehrsregeln, denen zufolge für die Teilnahme am Verkehr weder kulturelle, noch religiöse, rassisch-ethnische Identitätsmerkmale eine Rolle spielen dürfen. Für die Arbeit als Chemiker kann ebenso wenig eine behauptete kulturelle Identität geltend gemacht werden wie für irgendeine Wissensschaft. In diesem Sinne stehen die Europäer für Vergesellschaftungsformen neuer Art, die aber in absehbarer Zeit weltweit Anerkennung finden müssen:
In Zukunft werden Menschen sich nicht mehr primär wegen kulturell-religiöser, sprachlicher, ethnischer Gleichheiten zusammenfinden, sondern weil sie gleichermaßen ökonomischen, ökologischen und anderen unlösbaren Problemen konfrontiert sein werden, die keinerlei Grenzen und Abschottungen von Nationen wie Religions- und Kulturgemeinschaften akzeptieren und deswegen nur von Gemeinschaften gemeistert werden können, die prinzipielle Vergeblichkeit aller kultureller Suprematiebestrebungen leidvoll erfahren haben.

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