Magazin Build

Das Architekten-Magazin

Erschienen
01.01.2009

Herausgeber
Prof. Dr. Johannes Busmann

Verlag
Müller + Busmann GmbH & Co. KG

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

Issue
01/09

Lichteratur/lighterature

Vom Menetekel über die Lichtung zur Displayfassade

„Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Da kams hervor wie Menschenhand;

Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.“

(H. Heine: Belsatzar)

Seit Friedrich Kittler 1986 in seiner grandiosen Untersuchung über technische Aufschreibsysteme wie Grammophon, Film, Typewriter darlegte, daß unsere ästhetische Produktion mit Beginn der Neuzeit nicht mehr von den Kunstavantgarden, sondern von den technischen Erfindungen entscheidend herausgefordert wurde, hat sich auch unser Blick auf Fotografien und unser Sehen durch und mittels Lichtbildnerei verändert. Denn dieses technische Aufschreibverfahren ist im wörtlichen Sinne Lichtschrift oder lighterature, wie Werner Nekes die Fotofiguration resp. Filmbildchimären nennt.

Licht wird Gestalt durch Belichtung, Licht verbildlicht die Gestalten – nicht nur im technischen Sinne als manifeste Reflektion der molekularen Oberflächen von Objekten, sondern auch als Gedanke, als anschauendes Betrachten, als "Klären", eben als Reflektion.

Mit dieser Doppelleistung von Licht als Beleuchten und Erleuchten hat man zwar schon vor der Erfindung der Fotografie gerechnet. So haben die Programmatiker der gotischen Kathedrale alle irgendwie umsetzbaren architektonischen Finessen erörtert, um den Bau möglichst "licht" auszulegen, mit diaphanen, durchscheinenden Wänden, damit die Gläubigen in die Sphäre des himmlischen Jerusalems eintauchen konnten. Das paradiesische Licht sollte gebannt werden, moduliert durch die Farben der Glasfenstermalerei.

Das Licht war auch Medium der Wandlung von Materie in Geist von Baukörpern in den Spiritualleib, als die barocken Lichtmaschinen, die atmenden Steine über den Grundrissen sich schneidender Ovale errichtet wurden: Schwungmassen, die, von Licht bewegt, das Sehen berauschten und den Gläubigen aufwärts schleusten in die Verklärung.

Das verklärende Licht in ein aufklärendes zu überführen, gab dem 18. Jahrhundert seinen Namen. Die englischen resp. romanischen Begriffe für die Aufklärung bezeichnen ganz unmittelbar den Zusammenhang von Erhellen und Erkennen. Die Klarheit des Denkens setzte sich deutlich ab von der Blendung durch die Fülle und Stärke barocker Sonnen, der Sonnenkönige und ihrer Staatskristallographie.

Aber in allen diesen Ekstasen der Verklärung und der Erleuchtung wurde das Licht "nur" verkörpert – es wurde nicht selber Gestalt, gab sich nicht selbst Gestalt. Das ist erst seit der Erfindung der Fotografie möglich, deren mediale Autorität gerade darin bestand, daß sich das Licht selber gestaltete und nicht erst vom Maler, Bildhauer oder Baumeister gestaltet werden mußte.

Die Lichtgestalt der Fotografie wurde als objektiv verstanden, gerade weil sie keiner Künstlerhand bedurfte, sondern nur der Objektive, die das Licht focussierten, und der tabula rasa, der leeren Fläche, der "Platte", auf der die Fluchten des Lichts fixiert werden konnten.

Kittlers Ansatz gemäß mußte man (nach Erfindung der Fotografie) jemanden fotografieren, wenn man ihm ein Licht aufstecken wollte – ihn also auf sich selbst fixieren, ausrichten wollte. Wie leistungsfähig die Selbst-Kennung durch das Fotoportrait ist (eine tatsächliche Reflektion), spürt wohl jeder, indem er immer erneut schockartig gewahr wird, wie wenig er in sein Fotoportrait paßt (selbst und gerade als "Paßfoto"). Die Erfahrung der "Objektivität" des Fotoportraits liegt in der sichtbaren Differenz von Selbstbild und dem Foto als Bild selbst, weil wir uns ein Bild von uns machen, das gerade nicht von uns abgespalten – also nicht objektiviert und fixiert werden sollte. Aber das Gestalt gebende Licht ist eine unerbittliche Autorität – dem Maler entkommt man, dem Fotografen nicht!

Auch die Maler entkamen der Fotografie nicht – weder als Portraitisten noch als Landschaftsmaler. Sie begannen, Portraits nach fotografischen Vorlagen/Vorstudien zu malen; das erbrachte offenbar nicht nur gewisse Arbeitserleichterungen (die tagelangen "Sitzungen" der zu Portraitierenden vor dem Maler fielen weg), sondern führte auch zu neuen Sehweisen, die erst mit der Fotooptik entstanden (z. B. zur Differenzierung von "Bildschärfen" und zur Ausbildung neuer Konfrontationsdistanzen). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts tragen die Maler nicht mehr auf ihren Hutkrempen brennende Kerzen, um ihren Bildern Licht zu geben. Sie gehen hinaus mit der Staffelei wie mit einem Fotogerät. Die Freilichtmalerei verdankt sich dem Lichtkult und dem Lichtraum der Fotografie. Auch die Freikörperkultur folgt der demonstrierten Macht des Lichts in der Fotografie; der Körper läßt sich von Licht beschriften, aufladen und zeichnen (Lichtbräune), das signalisiert Gesundheit, Kraft, Ausstrahlung, da sich alles Leben dem Lichte verdanke.

So verwandeln denn auch die großflächigen Glasfassaden der modernen Architektur das Rauminnere in eine fotografische Präsentation wie in ein Werbe-display, als würde sich jeder Bewohner zu jedem Augenblick fotografierbar in jeder Phase der Arbeit, in jeder Haltung und Regung ausstellen.
Die weißen Wände (siehe Belsatzar), die nackten Flächen der Wohnräume spannen sich wie große Bahnen von Fotopapier aus, auf denen das vom Licht geführte Sehen zum Ereignis wird. Die Welt wird sichtbar, insoweit sie Foto wird, also ins rechte Licht gerückt werden kann. Und wo das natürliche Licht dazu nicht ausreicht, durchfluten Kaskaden des Kunstlichts die nächtlichen Städte – Lichtergüsse, Lichtschwemmen von sintflutlichen ausmaß, das man noch aus dem Weltraum als irdisches Phänomen wahrnimmtr. Der Blick auf die Welt folgt dem Licht, und insofern überall beliebig das Licht angeht, wird alles sichtbar, weil es fotografierbar wird.

Wir vergessen heute nur allzu leicht, wie die Fotooptik unseren Blick auf die Welt veränderte, ihn schulte und differenzierte. Nicht nur das Maß der Sichtbarkeit der Welt wurde in heute kaum noch erfaßbarer Weise erhöht; die Welt wurde auch durch die Fotografie dort ansehungswürdig, wo sie nie bildwürdig war – selbst in den kleinsten Unerheblichkeiten dessen, was zum Betrachten gar nicht gemacht worden war.
Wenn man einen Bestandskatalog der Welt z.B. anhand von Malereien erstellte und ihn mit einem Bestandskatalog anhand von Fotografien vergliche, käme man zu dem Schluß, die Welt habe ihre Erscheinungsform um ein Vielfaches erweitert und zudem ihre Maßstäblichkeit beliebig verändert.
Groß und klein, nah und fern, Einzelheit und geschlossene Form, Mikro- und Makrogestalt werden Fragen des Formats oder der von der Fotografie gewählten Ausschnitte, deren Kompositionen musikalischen Strukturen und Verlaufsformen näherstehen als denen der Malerei, weil sich mit der Fotografie auch unser Zeitsinn wandelte.

Nichts hat Zeiterfahrung, sowohl als Zeitverlauf wie als Geschichte der Zeit, derart geprägt wie die lichtschriftliche Analyse von Bewegung. Zum ersten Mal wurde die kontinuierlich fortlaufende Bewegung in ihre einzelnen diskreten Momente zerlegbar; in den Mehrfachbelichtungen gelang der Aufbau eines Kontinuums aus diskreten Momenten. Und "Zeitgeschichte" ermöglichte die Fotografie, indem sie die einzelnen Phasen der Bewegung fixieren konnte und aus ihnen jedes einmalige Ereignis nach Wunsch und Wahrnehmungsinteresse jederzeit zu rekonstruieren vermochte als Zusammenfügung der einzelnen Lichtbilder. Geschichtserfahrung machte man wie der Lichtbildner: als beglaubigtes Schaffen von Ereignissen durch deren fotografische Entwicklung in Sequenzen, Kontrasten und Formaten.
Auch Philosophen dachten wie Lichtbildner – Husserl z. B. "entwickelte" seine Phänomenologie/Anschauungsverfahren mit zentralen Begriffen der Lichtbildnerei, unter denen die "Abschattung" der Wahrnehmung genau den Vorgang der Bildwerdung der fotografierten Phänomene aufhellt. Der Husserl -Schüler Heidegger entfaltete geradezu eine Licht-Metaphysik, die im Zeitalter der Reklame- und Propaganda-Lichtdome, errichtet aus Emanationen zahlloser Flak-Scheinwerfer, die „Lichtung des Seins“ zur Erscheinung brachte wie einen Kahlschlag im finsteren Walde. Den dazu gehörigen Forstmeister porträtierte Ernst Jünger als Erlkönig, den noch Michel Tournier 1972 als braunen Oger der Deutschen beschrieb.

Gerade weil die Fotografie nicht einfach die Welt als Bild wiederholte – oder bloß verdoppelte –, sondern sie erst in die Sichtbarkeit hob (sie ansichtig werden ließ), zögerte man lange Zeit, Fotos z. B. als Beweise vor Gericht anzuerkennen. Seit aber die Richter wissen, daß sie die verhandelten Ereignisse genauso zum Phänomen werden lassen, wie die Fotografie die Welt zum Phänomen werden läßt (je nach Wahl der Ausschnitte, des Maßstabes, der Lichtführung und der Tiefenschärfe), seither wird jedes Urteil zur Momentaufnahme der Lebenswelt von Menschen, aufgenommen von den Richtern als Fotografen mit dem Apparat der Justiz. Der Richter wird zum Autor des verhandelten Falles und jener gerichtsnotorischen Taten, die das menschliche Handeln zum Phänomen erheben. Ohne Richter keine Ereignisse, ohne Fotografen keine Welt der Phänomene, ohne anschauende Betrachtung keine betrachtbare Welt, die durch Bildreflektion aufgehellt, geklärt und erkannt werden konnte, wobei "Erkennen" als Verwandlung der Bilder zum Weltbild durch Reflektion, durch ein Zurückwerfen der Bilder auf Bilder, durch "Überblendung" zustande kommt.

Der Fotograf richtet die Welt ein, er richtet über ihre Erscheinungsformen (Format, Ausschnitt, Tiefe, Kontrast etc.), autorisiert durch das Licht der Welt, das sich selbst den Bildern direkt einschreibt (diese Autorisierung wird dem Maler nicht zuteil) – also lighterature als Schriftspur der Weltaneignung.
Jedes Foto ist ein Kontinuum vieler Bilder, die alle zu sich quasi periodische Selbstähnlichkeit haben – aus einem Negativ lassen sich zahllose Bilder entwickeln, die alle in gleichen Formaten, in gleicher Objekthaftigkeit zum Phänomen der Wahrnehmung erhoben werden können: das ist der Malerei nicht möglich – oder nur in Nachahmung der Fotografie und durch Übernahme ihrer Verfahren (z. B. A. Warhol).

Entscheidend für die Durchsetzung der Lichtschrift als Medium der Verbildlichung von Welt war die Tatsache, daß auch Laien mit dem Fotoapparat zu Autoren von Weltbildern werden konnten.
Die Malerei blieb immer ein exklusives Medium der Kunstproduktion. Die Fotografie professionalisierte auch die Knipser in der Kunstrezeption; sie machte Laien zu produktiven Betrachtern, deren Sehen schöpferisch wurde, weil ihre Sichtweisen und Bilderfahrungen sofort wieder Lichtbild werden konnten. Das schulte enorm die Fähigkeit, zwischen Medium und Information resp. Mitteilung zu unterscheiden. Aus der Erfahrung dieser Diskrepanz ergab sich auch für Nutzer der Massenmedien die Möglichkeit, durch Unterscheiden zu urteilen, also kritische Aufmerksamkeit für die Eigenleistungen der Fototechnik als Lichtbildung zu entwickeln – also Bildwelten und Weltbilder durch Reflektion des Lichts zur Einheit zu bringen und nicht mehr nur naiv als Leistung jedes Bildes vorauszusetzen.

Technologieentwicklungen ermöglichten auch die aktuelleren Emanationen des Bildes aus dem Licht, nämlich vom Kino über das Fernsehen zu den Großbildschirmen, Lightboxes und Fassadenprojektionen auf unebenen Oberflächen. Bisher wird noch über die Zulässigkeit der Displayfassaden gestritten, weil physisch wie mental die Belastung von Passanten und Anwohnern durch die Dauerkonfrontation mit den bewegten architektonischen Lichterscheinungen riskante Dimensionen annehmen kann. Einen viel versprechenden Ausweg aus dem Dilemma bietet das z.B. von den Paderborner Glasmalereiwerkstätten entwickelte Verfahren, das Glas zum Träger der Bildbotschaften werden zu lassen, die ihre Wirkung bei Tageslicht wie bei üblichem, weil unbedenklichem Kunstlicht in architektonischen Körpern entfalten. Diese zeitgemäße Umsetzung von Glasmalerei, wie sie seit den Tagen des Kathedralenbaus als Vorschein paradiesischer Sphären entwickelt wurde, erreicht inzwischen eine Qualität, die der alten Definition von Licht als Schatten Gottes oder des Geistes gerecht zu werden vermag, zumal dann, wenn leistungsfähige Künstler ans Werk gehen. Gerhard Richter, Markus Lüpertz, Heinz Mack und Neo Rauch haben sich jüngst in diesem Metier wieder bewährt. Es ist endlich an der Zeit, die erstaunlich zahlreich neuen Meister der Lichteratur zu würdigen.

siehe auch: