Buch Sympathy for the devil

Sympathy for the devil
Sympathy for the devil

»Sympathy for the Devil« wird 40 Jahre alt. Anlässlich dieses Geburtstags veranstaltet der vorliegende Band eine kleine Party. Achtzehn brilliante Essays, geschrieben von führenden deutschen Intellektuellen, gehen den Spuren nach, die dieser Song aufgegriffen und hinterlassen hat.

Es handelt sich um Spuren, die sich in der Popkultur, aber vor allem auch in der Religions-, Medien- und politischen Geschichte antreffen lassen: Von Godards One plus one bis in die frühchristliche Gnosis zurück reicht das Material der »Coverversionen«, von der jede von einer prägnanten Zeile des Songs ausgeht. Und natürlich darf in Rockkultur experimentiert werden: vom Sampling bis zum Remix, von der Verdopplung bis zur Auslassung. Ein Buch also nicht nur für die Gebildeten unter den Fans der Stones, sondern auch für alle ironischen Verehrer ihres Titelhelden.

Erschienen
2008

Herausgeber
Albert Kümmel-Schnur

Verlag
Fink Verlag

Erscheinungsort
Paderborn, Deutschland

Seite 49 im Original

Stolen many a man’s soul and faith.

Kraft durch Frevel – Eine Strategie der Rationalisierung

Auf eine überraschende Weise lässt sich das Freudsche Theorem der „Rationalisierung“, das die allgemein menschliche Tendenz kennzeichnet, nachträgliche Rechtfertigungsgründe für affektgeleitete Entscheidungen zu finden, mit dem heute gebräuchlichen Theorem der „Rationalisierung“ als Begründung für kapitalegoistische Unternehmensdesigns in Übereinstimmung bringen.

Denn wenn heute alltäglich in der durch die Presse repräsentierten und gebildeten Öffentlichkeit Rationalisierungen als ökonomisch unumgängliche Maßnahmen zur Steigerung des Markterfolges eines Unternehmens dargestellt werden, dann ist, wie jede Empirie zeigt, der Verweis auf Rationalisierungszwang schon selber die probateste, weil unhinterfragt anerkannte, nachträgliche Begründung von Entscheidungen, die im Vorhinein entweder tautologisch oder undurchdacht sind. Denn jedes Unternehmen trifft logischerweise alle Entscheidungen im Hinblick auf seinen angestrebten Markterfolg – so jedenfalls die Beschwörung der schicksalhaften Unausweichlichkeit der Marktmacht durch die Industriegötter (erinnert sei an die Tatsache, dass die griechischen Götter eben nicht Herren der Naturgesetze und damit auch nicht der menschlichen Psychodynamik gewesen sind). Also wären Entscheidungen mit der Konsequenz von Rationalisierungen für jeden Unternehmer entweder selbstverständlich und bedürften gerade nicht der nachträglichen Begründung; oder solche Entscheidungen, um das gelindeste zu sagen, wären undurchdacht, wenn, wie üblich, mit keinem Wort darauf hingewiesen wird, dass der Markt auch nur im abstraktesten Sinne seine Vermittlerrolle spielen kann, soweit auf beiden Seiten, der Seite der Produzenten wie der Konsumenten, der Anbieter und der Käufer, Gleichgewicht zu bestehen ermöglicht wird. Sobald aber alle Unternehmen rationalisieren, heißt das in erster Linie, sie entlassen Mitarbeiter, also die Käufer ihrer eigenen Produkte.

Woher soll die Markt regulierende Kaufkraft kommen, wenn permanente Rationalisierung permanente Reduktion des Kaufkraftvolumens heißt? Das nach-nachträgliche Argument der „Flexibilisierung“ durch Globalisierung hat auch nur den Anflug von Begründetheit für sich, solange die Globalisierung noch nicht hergestellt ist, und man Rationalisierung vermeintlich durch Ausweichen in Billiglohnländer glaubt bewerkstelligen zu können. Logisch ist das natürlich alles unhaltbar, wie es eben für Rationalisierungen kennzeichnend ist, sonst ginge ihnen ja keine anders begründbare Entscheidung voraus, als dass man im Affekt entschieden habe, also gar nicht entschieden, sondern bloß reagiert habe.

Erstaunlicherweise sind auch heute noch Begründungen als Hinweis auf affektgeleitete Reaktionen wie Wut, Hass, Opportunismus erzeugende Angst, Neid, Eifersucht, Bequemlichkeit, also kurz, die herkömmlich als Todsünden gekennzeichneten Reaktionen, nicht zugelassen. Ist das nur eine Form der kollektiven Verdrängung gruppenspezifischer Moral? Wird nicht Rationalisierung geradezu als Ausweis der Bereitschaft erzwungen, sich dieser Verpflichtung auf Moral auch dann zu unterwerfen, wenn man gegen sie verstößt? Ist dem Königsberger Unterscheidungssinn jede Moral ohnehin nur eine regulative Idee, die gerade ihren Sinn darin erfüllt, für die einzelnen Entscheidungen nicht konstitutiv sein zu müssen? Anders gefragt, ist das Rationalisierungsargument Verweis auf Lügen als einer sozialen Tugend? Als fromme Notlüge war das immer schon anerkannt, aber im Falle unserer Beispiele heutiger Gebrauchslogiken für das Rationalisierungsargument dürfte es sich nicht um fromme Lügen handeln. Statt einer Notlage des Begründungspflichtigen entspringen die unfrommen Lügen der Rationalisierung gerade einer Autonomiebehauptung des Argumentierenden; er verweist ostentativ z.B. auf seine Souveränität garantierende Intelligenz, wenn er Rationalisierungsargumente selbstverständlich als Lügen zu benutzen in der Lage ist, weil er damit durchkommt.

Die Versuchung durch den Erfolg des Lügens auf einer gesellschaftlichen und nicht nur individuellen Beziehungsebene scheint einen Gutteil des lustvollen Kraftgewinns durch Frevel auszumachen, jedenfalls gegenwärtig. Zu den uns noch nahe liegenden historischen Entwicklungspositionen gehört die Klau-mich-Bewegung der 60er Jahre. Damals wurde der Frevel des Bücherklauens zum Kraftbeweis für intellektuelle Befähigung; wer Bücher klaute, fühlte sich in jedem Falle noch verpflichtet, sie auch zu lesen, um also Kraft aus dem Frevelakt zu beziehen.

Man klaute ja nur Bücher, die man unbedingt durch intellektuelle Neugier und Erwartung für unabdingbar hielt, unabdingbar zur Definition des Gebrauchszusammenhangs von Büchern wie des Lebenszusammenhangs, in dem alle gleichgesinnten Generationsgenossen standen. Auf der Ebene der kleinstdimensionierten Lügen entsprang Klauen der ethischen Verpflichtung auf den Systemwandel, gerade wenn man nicht daran glaubte, das Schweinesystem zu schädigen, wenn man ein paar Löcher in die Stallwände bohrte.

In besagtem Lebenszusammenhang stand etwa der Frevel der sexuellen Promiskuität, die man ja gerade dem System vorhielt, um Willfährige, also Huren und Luden des Kapitals zu züchten. Im Lebenszusammenhang der 60er Jahre-Reformer und erst recht der Straßentheaterrevolutionäre hatte man aber der Devise Tribut zu zollen: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Der sozial-ethische Don Juanismus erzeugte bei seinen individuellen Trägern entsprechenden Ekel vor der Hingabe an Partner, weil Hingabe dem Autonomieanspruch zu widersprechen schien. Aber mancher nahm selbst den größten Widerwillen gegen die fromme Promiskuität mit individuell zerstörerischen Folgen auf sich, um heroisch die Unterwanderung des Systems durch Subversion erzwungener Treueverhältnisse wie die der bürgerlichen Ehebindungen zu befördern: Pflichtpensum war, mindestens eine Hausfrau pro Woche aus den Fesseln ihrer Ehesklaverei zu befreien.

Das Rationalisierungsmotiv „Kraft durch Frevel“ scheint seine größte Überzeugungskraft nach dem Zweiten Weltkrieg aber durch Demonstration seines schier überwältigenden Effekts im Bereich der Künste gewonnen zu haben. Spätestens mit der ersten Documenta von 1955 gewöhnte man sich an Zustimmung, ja Begeisterung für den Geltungsanspruch der „modernen, abstrakten, ungegenständlichen Kunst“. Und zwar auch dann, wenn man eben diese modernen Künste eigentlich so beurteilen wollte, wie sie lange vor stalinistischer und hitleristischer Stigmatisierung als „entartet“ schon gesehen worden waren. Zum einen stammt der Begriff der Entartung von Max Südfeld, der sich germanophil und deutsch-national „aufnordete“, und 1892 expressis verbis den Kampfbegriff „entartete Kunst“ mit größtem Erfolg in der Öffentlichkeit lancierte. Zum anderen waren gerade die Träger der gesellschaftlich fortschrittlichen Kräfte selbst in Fragen der Kunst-Avantgarden verstockteste Reaktionäre, Lenin allen voran; das bildungsbürgerliche Lager fand es überwiegend auch dégoutant, sich die Clownerien von Dadaisten, Futuristen, Surrealisten und das wilde Geschmiere von Fauvisten, Expressionisten und Kubisten als bloßes Satyrspiel nach der längst schon abgespielten Tragödie „Untergang des Abendlandes“ gefallen zu lassen. Naturgemäß waren derartig ungnädige Einstellungen gegenüber der modernen Kunst nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erledigt, weder auf der Seite der Besiegten, noch auf der Seite der Sieger.

Das galt nicht nur für verknöcherte Altvordere, sondern auch für junge Burschen wie Thilo Koch und Henri Nannen, die in schöner Übereinstimmung mit vielen ihrer neuen Freunde aus dem Westen und den hängengebliebenen Re-Education-Officers mit geradezu freiheitsrettendem Pathos gegen die Anmaßungen der Modernisten Sturm liefen – bis in die 60er Jahre hinein. Das galt aber viel schlimmer sogar für Pathetiker der Künstlerkönnerschaft wie Carl Hofer, der 1946 als entarteter Künstler von den Siegern mit der Aufgabe betraut wurde, die Berliner Kunstakademie zu re-demokratisieren und dazu als erstes seine modernistischen, also ungegenständlich malenden Kollegen aus der Zeit der Nazi-Verfolgung aus der Mitwirkung an der neuen Akademie ausschloss. Aber gegen all diese sich säuisch in ihrem gediegenen Kunstverständnis suhlenden Bewahrer der hohen Kunst und ihrer Reinheit, ihrer Meisterseligkeit und Realitätsenthobenheit bildete sich ein unwiderstehliches Argument, dem sich schließlich spätestens am Ende der 70er Jahre so gut wie alle Bundesbürger angeschlossen haben. Und dieses Argument lautete: Wenn sogar der Führer und Stalin, sein bedeutendster Konkurrent, ganz abgesehen von Mussolini, Franco, Salazar, Horthy, Quisling und dergleichen Randfiguren nebst ihren Pendants aus den westlichen Demokratien der Auffassung waren, ein paar Farbenschmieranten, Fotografen, Bildverhauer, Kasba-verliebte Architekten oder verjudete Wissenschaftler, Literaten und Filmkünstler hätten die Macht, ideologisch gefestigte Reiche zu Fall zu bringen, wobei einem Werk die Gegenmacht zu einem Bataillon von Soldaten zugerechnet wurde, dann sei ja definitiv bewiesen, welche Bedeutung die modernen Kunstwerke besäßen. War es da nicht verständlich gewesen, dass man wegen dieser unglaublichen Macht der Künstler versuchen musste, sie unter Kontrolle zu bringen, indem man die Künstlervereinigungen gleichschaltete und sie dem strikten Primat des Politischen unterstellte?

Schließlich bediente man sich dieses Arguments ja auch im Nachkriegstriumphalismus der konvertierten Demokraten mit besonderem Stolz: die Bundeswehr habe sich strikt dem Führungsanspruch der Politik zu unterwerfen. Der nationalsozialistische Führungsoffizier, der unter Hitler in der Armee für den Primat der Politik sorgen sollte, wurde nun zum Offizier für politische Bildung der Soldaten – da konnte es doch vielen nur logisch erscheinen, dass auch die Künste sich dem Primat der Politik (erst recht unter den Bedingungen des Überlebenskampfs gegen den Totalitarismus des Ostens) zu unterwerfen hatten. Wie anders sollte man garantieren, dass die in ihrem Machtpotential durch Hitler und Stalin beglaubigten Künstler ihre bekannten subversiven Fähigkeiten nicht auch gegen das neue Regime wenden würden und somit die mühsam von Alliierten erkämpfte Demokratisierung künstlerischer Allmachtswillkür aussetzen würden? Dagegen gab es nur eine erfolgreiche Strategie, nämlich zu zeigen, dass Künstler nicht schon deswegen als wirkungsmächtige, keiner Kontrolle unterworfene Geltungsegoisten respektiert werden müssten, weil man sie wegen dieses Geltungsanspruches verfolgte, in Gefängnisse sperrte, ihre Werke zerstörte, ins Exil trieb oder kurzerhand umbrachte. Auf diesem Beweismechanismus beruhte ja die vorbehaltlose Akzeptanz von Geltungsansprüchen moderner avantgardistischer Künstler: Verfolgten des Nazi-Regimes wurden in der Schuld- und Schamgemeinschaft der demokratischen Wiedergutmachungsidealisten Autorität völlig unabhängig von den Inhalten ihrer Positionen aufgebürdet, wobei einige ganz froh darüber waren, ihren Künstlerstatus nicht mehr durch das Werk oder ihre Werkzeuge begründen zu müssen, sondern schon mit dem Status als Verfolgte Geltung zuerkannt zu bekommen. Der Kunstfrevel der Nazis hatte aber auch den Verfolgten des Dritten Reiches Kraft gegeben. Sie konnten ihre Würde in dem Bewusstsein wahren, Widerstand gegen den Frevel geleistet zu haben. Für die Art und Weise, wie glücklich Davongekommene in der BRD die Interessantheit ihrer Biografie mit Verweis auf ihre Lebenszusammenhänge wahrten, mag das denkwürdige, weil mehrfach überlieferte Bekenntnis Rudolf Augsteins gelten:

Bitte, nur kein Gewinsel über die Last der deutschen Geschichte! Darin wetteifern doch schon die vielen Esel ringsum! Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten diese verdammte Geschichte nicht! Nicht Luther und nicht Friedrich, Bismarck nicht und nicht die ganze Bagage bis zu Hitler! Was fingen wir an? So wie es war, hat jeder von uns Stoff für drei Leben und sogar noch ein paar mehr. Nicht auszudenken, daß wir Franzosen wären, mit diesem einen Napoleon! Und davor und danach nur eine handvoll glänzender, aber meist erbärmlicher Chargen wie den Herzog von Orléans, den dritten Napoleon oder diesen Vorstadtchauvinisten Poincaré! Auch die Italiener sind nicht besser dran, die sich immer gleich um 500 Jahre zurück besinnen müssen, um auf einen attraktiven Bösewicht zu stoßen! Oder sogar, am schlimmsten vielleicht, Nein! Bestimmt am schlimmsten: Holländer zu sein! (…) Wir waren zu jung, um uns von den Nazis korrumpieren zu lassen, aber alt genug, um die interessante Sache dauernd mit sich
herumzuschleppen. Die Generation nach uns wird sich mit der Inhaltsleere abmühen müssen, um am Ende an der Langeweile zugrunde zu gehen. Alles was ich von ihr weiß und beobachte, nötigt mich zum Bedauern. Anders als Sie und ich hat sie kein Lebensthema! Sie wird sich eines erfinden müssen! Und wer weiß, was dabei herauskommt.

Augstein zögerte nicht, solche Bekenntnisse als positiven Zynismus zu kennzeichnen. Damit wollte er einerseits unbeschönigt realistisch eine Haltung zur Schau stellen, die Ernst Jünger in Der Arbeiter  vorträgt: „Je zynischer, spartanischer, preußischer oder bolschwistischer das Leben geführt wird, desto besser wird es sein.“ Andererseits wollte Augstein dem Vorwurf entgehen, dass auch er mit der (oben zitierten) Position eigentlich nur eine Variante des deutschen Sündenstolzes auslebe. Psychologisch ist immerhin verständlich, warum Deutsche den Vorwurf, ein Jahrtausendverbrechen begangen zu haben, ja eigentlich das geschichtliche Verbrechen schlechthin, zu einer immer wieder bekundeten Einmaligkeit wendeten und zur Einzigartigkeit einer historischen Tat umbauten: Alle behaupten ja ununterbrochen, den Holocaust macht den Deutschen keiner nach. Also nehmen wir das Urteil einfach an. Hatte nicht schon der zurückgekehrte verlorene Sohn seine Frevel auf verdächtige Weise besonders anschaulich geschildert? Wurde nicht biblisch kodifiziert, dass man als Bekehrter umso mehr Anrecht auf Achtung und Anerkennung verlangen kann, je verwerflicher die gebüßten Taten zu sein schienen? Überhaupt wurde die Autorität der Bibel allzu auffällig dafür bemüht, konstruierbare Parallelen zwischen biblischen und  zeitgenössischen Ereignissen als Ausweis heilsgeschichtlicher Bedeutung von Zeitgeschehen zu behaupten und damit wohl auch zu rechtfertigen. Dass die im Augstein-Zitat angesprochene Haltung durchaus nicht feuilletonistischprovokant ist, hat Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften mit Nachdruck dargestellt. Das Interesse an einem Mädchenmörder aus der Tatsache zu begründen, dass der Mann den Beruf eines Zimmermanns [!!] ausübe und musikalisch sei, übersteigt bei weitem die romanhaften Attitüden von Dichterheldinnen, die seit den Räuberpistolen von Goethes Schwager sich vorstellungshalber Sympathien mit dem Bösen erlauben, um ihre Erregtheit als Zeichen von Lebensintensität zu steigern. Solche KdF-Lesegenüsse hatten zwar nicht unerhebliche indirekte Folgen, als viele sich mit den KdF-Damen identifizierende Frauen bereit waren, die Heldengebärerinnen und Helden beweinende Mutter abzugeben oder als in den Produktionsprozess eingestellte Dienerin des Volkswohls mit Symphonie erprobten Gansehäuten zu reagieren, wenn sie in die Nähe einer ordensgepanzerten Heldenbrust mit auf Zeuger gestähltem, sportiven Unterbau vordringen durften. Jedoch alle diese national und völkisch so stimulierenden Hoffnungen auf KdF-Beweise blieben weit hinter einem inhärenten Prinzip der Moderne zurück, unabhängig von ihrer bürgerlichen, demokratischen, totalitären und fundamentalistischen Ausprägung. Es ist das Prinzip der schöpferischen Zerstörung, das von Wagner bis Schumpeter, von Künstlern, Ökonomen, Politikern aller Fraktionen zur Verwirklichung propagiert wurde. Wagners finales Lebensbekenntnis, dass uns Deutschen, verlören wir erst alle falsche Scham, die historische Aufgabe zukäme, die zersetzende jüdische Intellektualität, deren Erwähltheitsgewissheit und Sabotage der „heil’gen deutschen Kunst“ auszulöschen, ist durchaus keine Marotte, sondern begründende Strategie der Werkgeltung. Solcher Strategie gelten alle sozialdarwinistischen Übertragungen von Fressen und Gefressenwerden und von Tod als Bedingung angestrebter Größe, wie von Abräumen als Voraussetzung für Neubauen. Sogar die Studentenrevolutionäre zwischen 1968 bis zum Ende des Pol-Pot-Regimes gingen ganz selbstverständlich von einer nicht nur schöpferischen Tat durch Zerstörung aus. Sie hielten vielmehr den Zusammenhang von Revolution mit radikalstem Ausgang und Neugründungspathos für ein kulturelles Prinzip. 1967 untersuchte Arno Plack die derartig herrschende Moral in seinem Buch Die Gesellschaft und das Böse, deren fünfter Teil mit eben einer Würdigung von „Zerstörung als kulturellem Prinzip“ bereits auf eine Reihe von Einsichten verweist, mit der die französischen Intellektuellen zehn Jahre später der fatalen Überzeugungskraft von Meisterdenkern (des Bösen) entgegenzutreten versuchten. Der Kraft aus der angeblich historisch unabwendbaren Radikalität, Tötungs- und Opferbereitschaft mit der bedenkenswerten Entlastung, dass von den Gegnern auch individuell Unschuldige, Frauen, Alte und Kinder, nicht verschont werden könnten (als seien alle anderen mit mehr als eitler Selbstgewissheit tatsächlich schuldig gesprochen worden), verdankte man die Beruhigung des Gewissens und die Bestätigung, doch einer historischen Mission, und nicht dem eigenen Egoismus gefolgt zu sein.

Die Leser können sich jetzt wohl selber daran machen, das Theorem „Kraft durch Frevel“ im 20. Jahrhundert, das weiß Gott nicht beendet ist, weiterhin beispielhaft zu entfalten. Der Autor verabschiedet sich mit dem einzig wirklich bedeutenden Beweis seiner BRD-bürgerlichen Tugend, nämlich harmlos sein zu wollen und sein zu müssen, weil man sonst unter die Knute des P.C.-Verdachts gerät, nämlich politisch inkorrupt zu sein. Das ist der schlimmste Vorwurf, dem man ausgesetzt sein kann, solange man noch auf Integration in gesellschaftliche Zusammenhänge abzielen will. Deshalb eine versöhnliche, heitere, gutwillige und positiv gestimmte Schlussfassung unseres KdF-Theorems: die bekannteste Form des Frevels in unseren Zeiten republikanischer Selbstfesselung ist der Verstoß gegen das Schlankheitsgebot. Der Republikaner versteht lustvoll gutes Essen und Trinken als Frevel und gleichzeitig bietet ihm dieser Frevel die wenigen Momente tatsächlicher Empfindung von Freude. Damit hätten wir die historische Einheit von Kraft durch Freude und Kraft durch Frevel wieder hergestellt und bekundet, dass sich Augstein geirrt haben muss. Denn für uns heute sind Fragen des Body-Shapings und des Fittings in Modeklamotten und Attitüdenpassepartouts der Feuilletonauffälligkeiten mindestens so Aufmerksamkeit fesselnd und problematisch, wie für die Augstein-Generation es die tadellose Haltung junger Lieutnants, die Manneszucht und die Bereitschaft gewesen ist, die Größe des Widerstandes als Beweis für die Größe der eigenen Mission zu nehmen. Das ist doch eine beachtliche Entfaltung des Fortschritts: vom Opfer der politischen Verfolgung zum Fashion-Victim.