Magazin agora42

Das philosophische Wirtschaftsmagazin

agora42, Bild: Das philosophische Wirtschaftsmagazin.
agora42, Bild: Das philosophische Wirtschaftsmagazin.

Erschienen
2012

Erscheinungsort
Stuttgart, Deutschland

Issue
1/2013

Wenn die Lösung zum Problem wird

Interview mit Bazon Brock

Herr Brock, 2011 haben Sie in Berlin die Denkerei gegründet und bezeichnen diese als „Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand“. Was kann man sich darunter vorstellen?

Bei der Arbeit des Institutes geht es vorrangig darum, einen intelligenten Umgang mit prinzipiell unlösbaren Problemen zu entwickeln. Zum Beispiel ist das Wetter eine solche Gegebenheit, auf die wir keinen Einfluss haben. Wir können also das Problem des Wetters nicht lösen, sondern uns nur auf das jeweilige Wetter einstellen. Ein wenig intelligenter Umgang wäre beispielsweise, zu versuchen, das Wetter durch Wetterzauber oder durch den Einsatz von Chemikalien zu beeinflussen. Was wäre ein intelligenter Umgang?
Ganz einfach: Kümmere dich nicht ums Wetter, schaff’ dir anständige Kleidung an! Dann ist es egal, ob es regnet, schneit etc.

Es geht Ihnen aber nicht nur darum, intelligentere Umgangsformen mit prinzipiell unlösbaren Problemen zu fördern, sondern auch darum, den Menschen bewusst zu machen, dass das Lösen von Problemen zu neuen Problemen führen kann.

Wobei das ja ein alter Hut ist. Eigentlich sollte dies jedem bekannt sein – insbesondere auch, seitdem Medikamente mit folgendem Hinweis versehen werden müssen: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“ Das heißt letztlich nichts anderes, als dass jedes Medikament in dem Maße schadet, wie es hilft. Mit anderen Worten: Wenn ich ein Herzproblem löse, schaffe ich damit wahrscheinlich ein Nierenoder Leberproblem. Ich glaube auch nicht, dass wir das Problem der Krebserkrankungen irgendwann lösen werden. Solange sich Zellen teilen, wird es Entartungen geben. Anstatt viel Geld in die Krebsforschung und mithin in die Illusion zu investieren, man könne das Problem lösen, sollte man zum einen in die Vorsorgeuntersuchungen investieren und sich zum anderen auf die kuratorische Anstrengung verpflichten, den Kranken optimal beim Umgang mit seinem Leiden anzuleiten. Sprich, man sollte Möglichkeiten erforschen, wie man das Leiden von Krebskranken mindern und somit die Lebensqualität des Betroffenen erhöhen kann.

Leider haben die meisten Menschen nicht einmal in dieser, sie unmittelbar betreffenden Hinsicht ein Verständnis dafür entwickelt, dass die Problem-„Lösung“ zumeist nur ein Verschieben des Problems bedeutet. So ist es auch kein Wunder, dass sie auch in anderen Handlungsfeldern Probleme lieber lösen wollen, anstatt einen intelligenten Umgang mit ihnen zu entwickeln.

Wenn man sich die aktuelle Finanz-/Wirtschafts-/Euro-/Staatsschuldenkrise ansieht und sich die widersprüchlichen Lösungsansätze der zahlreichen Wirtschaftsexperten vor Augen führt, ist man schnell versucht, diese Krise als unlösbares Problem zu deklarieren. Trifft das zu?

Früher konnte man sagen: Wenn das Nachfolgeproblem kleiner ist als das Ausgangsproblem, dann greift die sogenannte pragmatische Sanktion. Das heißt, dann akzeptiere ich das Nachfolgeproblem und sage: „Na ja, das ist wohl unvermeidbar.“ Allerdings sind wir heute in einer Situation, in der die Lösung eines Problems dazu führt, dass das Nachfolgeproblem durch die Interaktion der vielen kleinen Nebenwirkungen größer wird als das Ausgangsproblem. Genau dies haben wir bei der Bankenkrise gesehen. Da hat man ein Gesetz zur Rettung der maroden Banken verabschiedet und ein paar Milliarden in die Banken gesteckt. Dann hat man gesehen, dass das Geld nicht reicht, und hat ein paar Billionen hinterhergeworfen. Inzwischen hat die Finanzkrise weltweit viele Billionen Dollar gekostet. Zur Lösung des Bankenproblems wurden die Staatsschulden geschaffen. Jetzt ist das Staatsschuldenproblem noch viel größer als das Bankenproblem.

Handelt es sich bei der Finanzkrise also um ein unlösbares Problem? Oder gibt es einen Ausweg?

Das hängt davon ab, aus welcher Perspektive man das Problem betrachtet. Aus der Perspektive derer, die sich freiwillig einer höheren Macht unterwerfen, die in unserem Falle den Namen „Markt“ trägt, scheint die Situation tatsächlich aussichtslos. Schließlich kann es dann passieren, dass der Markt plötzlich anfängt, Forderungen zu stellen. Woraufhin man ihm dann eigene Tempel baut, wo man ihm huldigen kann und anfängt, ihm zu Ehren tägliche Rituale zu veranstalten. Und jeden Tag lauscht dann die ganze Gesellschaft bei Schließen der Börsen, so gegen 17.30 Uhr, welche Botschaft der Markt zu verkünden hat. War er heute zufrieden? Ist er wieder nervös? Das ist natürlich Blödsinn, da auch die Börse von Menschen gemacht ist. Aber in dem Moment, in dem ich als letzte Autorität für die Begründung meiner Entscheidung etwas angebe, was ohne substanzielle Begründbarkeit auskommt, kann ich tun und lassen, was ich will. Zugleich kann ich mich immer, wenn ich Mist baue, auf den Markt berufen und somit jegliche Verantwortung von mir weisen.

So kam es dann auch, dass im Namen des Marktes alle bestehenden Regeln des Wirtschaftens nach und nach aufgehoben wurden. Ein Beispiel: Sie haben zwar noch die formale Möglichkeit, einen Konflikt mit einer größeren Firma auszutragen – spätestens aber, wenn Sie nach zwölf Jahren Prozessieren Recht bekommen, inzwischen aber längst Insolvenz anmelden mussten, sollten Sie sich eingestehen, dass Recht haben und Recht behalten keineswegs Gerechtigkeit bedeuten.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Finanzkrise innerhalb kürzester Zeit behoben werden könnte, wenn wir wieder die geltenden Gesetze anwenden und die für die Misere Verantwortlichen auch tatsächlich zur Verantwortung ziehen würden.

Walter Benjamin zufolge ist im Kapitalismus „eine Religion zu erblicken, das heißt der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben“. Fügt sich das nicht perfekt zu Ihrer Beschreibung des Marktkults?

Wobei dieser Kult inzwischen schon zu einem gefährlichen Fundamentalismus geworden ist, der nirgendwo so gut zum Ausdruck kam wie in der Person Richard Fulds, dem ehemaligen Chef der Investmentbank Lehman Brothers. Der Bank also, die 2007 zu den wichtigsten Investmentbanken der Welt gehörte und somit eine der mächtigsten Institutionen der Welt war. In Videos hat er mit Sprüchen gedroht, wie sie auch im Propagandablatt der Nazis, dem Stürmer, standen: Killer- und Sadistenkommandos.

Wenn Sie die Ursache der heutigen Krise im kapitalistischen Fundamentalismus sehen, können Sie nicht nur einzelnen Protagonisten in Wirtschaft und Politik die Schuld geben. Was sehen Sie als den Auslöser dafür, dass dieser Fundamentalismus so mächtig werden konnte?

Bis zum Jahr 1991, als die Sowjetunion endgültig zusammenbrach, funktionierte die soziale Marktwirtschaft recht gut. Einfach deshalb, weil man Angst hatte, dass die Bevölkerung sich sonst auf die sozialistische Seite hätte schlagen können. Nach 1991 gab es diese Balance nicht mehr. Die Kapitalisten glaubten, sie hätten nun das Weltmarktgesetz in ihrer Hand, sie könnten jetzt machen, was sie wollen, sie hätten den Weltkrieg gewonnen, der sozialistische Gegner sei ausgeschaltet. Damit war das Desaster komplett.

In einer Talkshow aus dem Jahre 1990, als die ganze Bundesrepublik im Freudentaumel schwelgte – man feierte die Wiedervereinigung, die Fußballweltmeisterschaft, die Tennisweltmeisterschaft, sah sich schon als kommende Nummer eins der Welt –, sagte ich:

„Ihr Narren! Der Westen wird untergehen! Ihr kapiert gar nicht, welche Probleme auf euch zukommen. Jetzt müsst ihr auch noch den gescheiterten Sozialismus integrieren. Anstatt euch von etwas Unliebsamem befreit zu haben, wird sich die Belastung erhöhen.“

Und was entgegnete man mir? „Was? Sind Sie verrückt?“ In einer Talkshow bei RTL hieß es sogar: „Sie Arschloch!“ Da standen sie, die Herren Wirtschaftsvertreter und träumten von blühenden Landschaften. Und zu den Kosten des Wiederaufbaus hieß es nur: „Das zahlen wir aus der Westentasche!“

Dann kamen Gerhard Schröder, Jürgen Trittin und Joschka Fischer, die mit ihrer Deregulierung zerstörten, was von der sozialen Marktwirtschaft nach dem Fall der Sowjetunion in Deutschland noch übrig geblieben war. Unter der Schröder-Regierung hat auch der Einfluss der Lobby-Gruppen signifikant zugenommen.

Meiner Ansicht nach ist die treibende Kraft der Weltgeschichte der Kampf zwischen legaler Kriminalität und illegaler Kriminalität. Nicht Geschlechterkampf, nicht Rassenkampf, nicht Klassenkampf. Jeder bemüht sich, die Geschäfte des anderen als illegal zu klassifizieren. Dabei machen sie genau das Gleiche: Geld scheffeln. Um jedoch selbst auf die Seite der Legalität zu gelangen, braucht man Zugang zum Gesetz. Hier kommen die Lobbygruppen ins Spiel: Denn Lobbyismus heißt nichts anderes, als den Versuch zu unternehmen, die Illegalität der eigenen Tätigkeit zu legalisieren.

Viele haben zu Beginn der Finanzkrise gedacht, dass sich nun grundsätzlich etwas ändern, eine Neuordnung der Gesellschaft in Angriff genommen wird. Wagen Sie eine Prognose, wie lange wir noch darauf warten müssen?

Ganz im Gegenteil: Es wird noch viel radikaler! Wie wollen Sie jemanden stoppen, der bescheinigt bekommen hat, dass er machen kann, was er will? Der bestätigt bekommen hat, dass er systemrelevant ist und dem fortan alle dienen müssen, damit er fortfahren kann, das zu tun, was er tut?

Heißt das, dass uns in letzter Konsequenz nur eine Revolution bleibt?

Das wäre nichts anderes als ein Notschrei. Zu Revolutionen kommt es, wenn die letzten Mahnungen verstrichen sind, wenn es auf nichts mehr ankommt. Es gibt keine Revolution, bei der nicht schon vorher Chaos erzeugt, bei der die Rechtsordnung nicht schon vorher aufgehoben worden wäre. Es ist ja nicht so, dass die Revolutionen die Probleme erzeugen würden; vielmehr ist die Revolution bereits selbst ein ohnmächtiger Versuch, auf eine absolut unhaltbare Situation zu reagieren. Alle wissen, dass diese Reaktion unangemessen ist, aber es bleibt einem gar nichts anderes übrig.

Sie haben es einmal als die Aufgabe der Politiker bezeichnet, eine Vermittlerfunktion zwischen der Wirtschaft und den anderen Bereichen der Gesellschaft einzunehmen – Politiker sollten durch Gesetzgebung eine Balance zwischen diesen Feldern herstellen. Wenn man sich Ihr Schaffen ansieht, hat man den Eindruck, dass es von einem Ringen um diese Balance durchzogen ist. Warum sind Sie nicht in die Politik gegangen?

Weil die Politik von vornherein allen Leuten, die einen Anspruch auf Selbständigkeit und Autonomie erheben, verschlossen ist. Außerdem wird die Politik offensichtlich von Leuten getragen, die erstens nicht sonderlich gebildet sind und zweitens auch kein Interesse an Bildung haben – wie sonst soll man die Tatsache interpretieren, dass zwar problemlos Gelder zur Bankenrettung gefunden werden konnten, dafür aber Theater und andere Bildungseinrichtungen plötzlich nicht mehr finanziert werden können. Insofern sah ich mich an anderer Stelle besser aufgehoben und bin jetzt seit 50 Jahren als Lehrer an Hochschulen tätig.

2010 haben Sie gemeinsam mit Peter Sloterdijk den Studienlehrgang „Der professionalisierte Bürger“ an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe ins Leben gerufen, den man als „Diplom-Bürger“ abschließen kann. Braucht man heutzutage ein Diplom, um Bürger sein zu können?

Ich versuche den Leuten klar zu machen, dass man erst einmal ein ausgeprägtes Interesse an sich selbst entwickeln muss. Dass man sich erst einmal darüber klar werden muss, wer man ist und was man will. Es geht darum, handlungsfähig zu werden. Und handlungsfähig wird man nur durch persönliche Einsicht. Gleichzeitig sind es aber gerade diese gefestigten Persönlichkeiten, die überhaupt sozial bindungsfähig sind und die Verantwortung für andere übernehmen können.

Wollen Sie die Menschen also letztlich doch zu politischem Engagement bewegen?

Nicht in dem Bereich, an den wir normalerweise denken, wenn von Politik die Rede ist. Es reicht, wenn die Widerstandsfähigkeit, das heißt der Selbstbehauptungswille, von möglichst vielen Menschen gestützt und entwickelt wird. Zunächst muss es darum gehen, dass es wieder selbstentfaltete Bürger, interessierte Bürger gibt, die verstehen, dass es für sie selbst am besten ist, wenn sie sich engagieren.
Viele Menschen denken, dass sie mit ihrem Misstrauen der Politik sowie den Macht- und Kommunikationsprinzipien gegenüber alleine dastehen. Sie brauchen das Echo von anderen, die ähnlich denken, um sich nicht abnormal vorzukommen. Und zwar – das ist die Schwierigkeit – von denjenigen, die sich illusionslos den Problemen stellen; die sich also nicht zur Bekämpfung der vorherrschenden Ideologie selbst wieder auf eine Ideologie berufen, die sie dann notfalls mit der Kalaschnikow durchzusetzen gewillt sind. Insofern geht es mir darum, solche Menschen zu suchen und zusammenzubringen.

Wenn man das begriffen hat, kommt der Rest von alleine. Denn wenn das Politische die Bedingungen definiert, unter denen man leben muss, man diesen Bedingungen aber nicht zustimmt, wird man zwangsläufig politisch werden.

Ist dann das Ziel des Studienlehrgangs „Der professionalisierte Bürger“, den Bürger im Sinne Gandhis hervorzubringen: „Sei selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst“?

Zugegeben, diese Erkenntnis ist nichts Neues. Sie bildet gewissermaßen das Fundament aller großen Weltreligionen. Und Sigmund Freud hätte dies vielleicht „erwachsen werden“ genannt. Jedenfalls ist das die einzige Möglichkeit, angemessen auf die ökonomische und gesellschaftliche Krise zu reagieren. Man flieht nicht mehr vor der Wirklichkeit, sondern akzeptiert sie so, wie sie ist, und lernt damit umzugehen, anstatt sich zu verstecken.

Leider sehen wir gerade überall das Gegenteil. Die Politik der Bundeskanzlerin stellt nichts anderes als ein Angebot an alle dar, sich von der Wirklichkeit vollkommen fernzuhalten und sich der Illusion hinzugeben, Mutti wird das alles regeln. Schlimm, dass das so hingenommen wird, dachte man doch, die Deutschen hätten nach den Erfahrungen im letzten Jahrhundert begriffen, dass man sich der Wirklichkeit stellen muss. So kann Frau Merkel damit fortfahren, das rechtsstaatliche Prinzip auszuhöhlen – mit dem Vorwand, es retten zu wollen. Wie oft hat sie gesagt: „Das ist die rote Linie, die dürfen wir nicht überschreiten.“ Dann wurde die rote Linie überschritten, es kam die nächste rote Linie etc. Ein pausenloses Überschreiten von roten Linien! An ihrer Seite Finanzminister Wolfgang Schäuble, der ja nun wirklich alles tut, um die ganzen Ausnahmen, Regelbrüche und Grenzüberschreitungen im Nachhinein akzeptabel erscheinen zu lassen. Wenn man das sieht, kommt man nicht umhin, an die Propaganda der 30er-Jahre zu denken, die von Joseph Goebbels sehr intelligent betrieben wurde. Der deutsche Finanzminister muss sich mit seiner Propaganda keineswegs hinter Goebbels verstecken.

Je mehr die Merkel kriminell agiert – also objektiv legale Kriminalität betreibt – desto mehr huldigen ihr die Leute. Sie nehmen an, dass die Kanzlerin über höhere Einsichten verfügen würde – sie weiß schon, was sie tut, sie kann das viel besser als jeder andere, sie rettet unsere Zukunft etc. Das ist ein psychologischer Zwang: Es kann doch nicht sein, dass unsere gute Mutti eine Dirne ist, die mit den Kapitalinteressen ins Bett geht und uns verkauft. Nein, unsere Mutti, die würde uns nie verkaufen! Ebensowenig konnten Deutsche sich vorstellen, daß der heißgeliebte Führer die Welt durch Vernichtung retten wollte.

Nun kann man nicht von der Hand weisen, dass es viele Personen gibt, die das Spiel nicht mitspielen wollen; die sich in Initiativen zusammenfinden und in gesellschaftlicher, ökonomischer oder ökologischer Hinsicht etwas verändern wollen. Aber häufig laufen diese Anstrengungen ins Leere und zurück bleibt Enttäuschung. Werden da taktische Fehler gemacht oder kann man in der momentanen Situation einfach nicht mehr erreichen?

Man kann eben nur tun, was man tun kann. Wenn man sich gut darauf versteht, andere Leute zu motivieren, sich mit den Sachverhalten zu beschäftigen, die alle etwas angehen, dann ist das schon genug getan. Das kann ein Dorfpfarrer sein, der noch in der Lage ist, seine geringe Klientel zusammenzuhalten und davon zu überzeugen, dass man sich gemeinsam für etwas einsetzen muss. Das reicht. Es muss nicht plötzlich alles anders werden.

Wundern Sie sich nicht, dass nicht ein bisschen mehr Widerstand aus der Bevölkerung kommt?

Seltsam ist das schon. Hier in der Bundesrepublik braucht bisher niemand Angst zu haben, dass er gleich ins Gefängnis gesteckt oder getötet wird, wenn er gegen die „Tyrannin“ rebelliert. Trotzdem sind alle völlig apathisch. Dass wir keinen Widerstand sehen, hat wohl vor allem mit der sogenannten Komplexität zu tun. Die Gesetze und Paragraphen sind ja so verklausuliert, dass selbst Fachleute nicht mehr wissen, gegen wen oder was man sich zu wenden hätte. Wenn man in einer Gesellschaft lebt, wo man ständig gesagt bekommt, dass die Probleme mit dem System als solchem zu tun hätten, dass eben alles höchst komplex und wissenschaftlich oder juristisch völlig undurchschaubar sei, dann kann man schon verstehen, dass viele Menschen sich überfordert fühlen und einfach mit dem Strom schwimmen.

Auf der anderen Seite wird über das Thema Nachhaltigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen intensiv diskutiert. Zeugt diese Diskussion nicht doch von einem ausgeprägten Bewusstsein dafür, dass sich etwas ändern muss? Sehen Sie im Konzept der Nachhaltigkeit einen möglichen Ausweg aus der Krise?

Na ja, wer wollte in Nachhaltigkeitsvorgaben nichts Vernünftiges sehen? Allerdings stellt sich oft die Frage, was dieser Ansatz im Alltag konkret bedeuten kann. Ein paar meiner Freunde aus Griechenland, die aufgrund der Krise alle keine Arbeit mehr finden, sind jetzt aufs Land gezogen, wo sie ihre eigenen Lebensmittel anbauen. Ihr Ansatz, als Selbstversorger unabhängig von der Gesellschaft zu sein, ist wohl die pragmatischste Interpretation des Nachhaltigkeitskonzepts.

Auch wenn sie aus der Not heraus gehandelt haben, sind sie nun glücklich, dass sie endlich etwas Sinnvolles tun können. Zwar garantiert ihnen das noch keine gesundheitliche Versorgung, aber das hält sie nicht davon ab. Wenn man so eine neue Gesellschaft denkt und den Rest nach dem Subsidaritätsprinzip organisiert, kann ich mir eine funktionierende Gesellschaft gut vorstellen. Wenn man beispielsweise in Deutschland die vielen Arbeitslosen begeistern könnte, sich die Voraussetzungen für ihr Überleben selbst zu schaffen, indem sie bei der Bewirtschaftung von Ländereien mithelfen beziehungsweise die Ländereien selbst bewirtschaften, hätten wir auf einen Schlag für eine große Stabilität gesorgt.

Frage des Fotografen: Ich befinde mich kurz vor dem Ende meines Studiums an der Kunstakademie in Karlsruhe. Vorher war ich in einem Autokonzern als Maschinenbautechniker tätig. Dort habe ich ziemlich
darunter gelitten, dass das vorherrschende Gefühl eine eigentümliche Gleichgültigkeit gegenüber allem war. Man hat sich – beispielsweise, weil man sich nicht gegen Vorgesetzte stellen wollte – mit Dingen arrangiert, von denen man wusste, dass sie nicht in Ordnung sind.

Als ich dann an die Kunstakademie gegangen bin, hatte ich die große Hoffnung, dort auf Menschen zu treffen, die selbstständig denken und die Kunst dazu nutzen, einen Standpunkt zu beziehen. Nun bin ich aber wieder auf dieselbe Gleichgültigkeit gestoßen. Was ist aus der Kunstgeworden?

Was ist wirklich bedeutsam auf dem Kunstmarkt? Das, was hohe Preise erzielt! Was erzielt hohe Preise? Das, was große Kunst ist! Was ist große Kunst? Das, was hohe Preise erzielt! Diesem tautologischen Prinzip hat man sich völlig unterworfen. Das bedeutet: Wer kauft, hat immer recht. Niemand, der ein Werk kauft, wurde je gefragt: „Warum hast du es gekauft? Warum findest du es gut?“ Ganz anders ist es bei jenen, die sich gegen den Kauf eines Kunstwerks entscheiden. Da heißt es schnell: „Seid ihr Banausen? Habt ihr keine Ahnung? Versteht ihr nichts von Kunst?“ Fürs Ablehnen brauchen Sie Argumente, fürs Zustimmen nicht. Das wird heute überall akzeptiert – leider auch an den staatlichen Hochschulen. Dies zeigt einmal mehr, dass nie wirklich verstanden wurde, wofür Kunst und Wissenschaften eigentlich stehen. Tatsächlich geht es darum, einen Standpunkt außerhalb des Terrors der Kultur, des Terrors der Religion zu beziehen. Dies nahm seinen Anfang im 14. Jahrhundert, als Künstler oder Wissenschaftler sich sagten: „Ich halte mich nur noch an das, was ich selbst begründen kann.“ Das nennt man Autorschaft. Meine Autorität ist nur dadurch begründet, dass ich der Autor meiner Kunst bin. Künstler wird man also nur, wenn man sich aus der Vormundschaft des Hofes, des Marktes, der Politik, der Religion etc. befreit. Heute hingegen denken die Leute, Kunst und Kultur seien Synonyme.

Sie haben völlig vergessen, worum es eigentlich geht. Die Kulturrepräsentanten erobern die autonomen Künste und Wissenschaften wieder zurück. Überall gilt das Primat der Geldgeber – die Geldgeber sind Kulturträger. Warum? Weil Künstler und Wissenschaftler Geld brauchen, um zu leben, um zu arbeiten. Und das Geld kriegen sie nur von Leuten, die bestimmte Argumente hören wollen; Argumente, die ihre Position, ihre Kultur, ihre Religion, ihre eigene Überlegenheit bestätigen. Deshalb gibt es auch keine Kritik mehr, nur noch Zustimmungsgerede. Damit haben sich die Wissenschaft und die Künste selbst liquidiert. Es gibt nur noch Angestellte der Industrie. „Professor“ heißt nichts anderes mehr als „ausgelagerter Mitarbeiter für Informationsbeschaffung, die wirtschaftlich genutzt werden kann“. Sonst gibt’s nichts mehr, keine Unis, keine Kunst, gar nichts.

Das ist tragisch, denn das heißt, Sie brauchen gar nicht mehr Kunst zu studieren in der Hoffnung, dass sie dadurch freier werden, kritikfähig werden, was auch immer. Denn Ihre Kritik interessiert niemanden mehr. Man will nur eines wissen: Bringt es Geld oder nicht?

Herr Brock, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. ■