1. Notruf des kleinen Bürgers mit Abitur
Tagtäglich liest man in zahllosen Variationen in so gut wie allen deutschsprachigen Zeitungen Schlussfolgerungen wie diese: "Es ist eine Welt des lupenreinen Darwinismus ... In dieser Welt ist es egal, gegen welche ethischen Normen man verstößt. Entscheidend ist allein, ob man damit durchkommt." (Berliner Zeitung, 16/2013)
Auseinandersetzungen zwischen Vertretern unterschiedlicher Interessen werden nicht mehr auf das bonum commune, auf Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, auf ethischen Grundkonsens welcher Begründung auch immer bezogen, sondern ausschließlich als Machtkampf definiert. Das entspricht dem Austragen von Konflikten in Gesellschaften jenseits des Konzepts von Rechtsstaatlichkeit. „Diaspora für alle“ oder „Ungerechtigkeit für alle“, lauten die Maximen – außer für diejenigen, die sich Recht verschaffen durch die Macht des Stärkeren. Recht verschaffen, heißt im Allgmeinsten sein Tun zu legalisieren. Womit zugleich das Tun der Konfliktgegner illegalisiert wird. Darauf scheint es selbst kriminellen Organisationen im wörtlichen Sinne wie aber auch Staaten, Unternehmen oder Parteien anzukommen. Das ist nicht nur in der Psychodynamik begründet, sich in seinen Handlungen gerechtfertigt sehen zu wollen oder nötigenfalls zu erklären, dass eine asoziale Handung als Reaktion auf erlittenes Unrecht zurückzuführen sei. Vielmehr hat gerade die Forderung nach Rechtfertigung und damit nach Legalität und Legitimität zur Radikalisierung des Rechts als durchgesetzte Rechtfertigung geführt.
Was seit Jahrzehnten als uneinschränkbare Tendenz zur Verrechtlichung identifiziert wird, erweist sich als Aushebelung des Rechtsstaats durch die Rechtspraxis – ohne dass formaliter Rechtlosigkeit beklagt werden kann. Die Verrechtlichung aller sozialen Prozesse diente dazu, dass den Bürgern der unmittelbare Zugang zur Sphäre des Rechts verstellt wurde und ein Teilsystem der Rechtsprechung das Monopol auf Zugang zum Austrag von Konflikten erhielt.
Explosionsartig stieg die Zahl der Rechtsanwälte in der westlichen Welt durch den Zwang zur Verrechtlichung als vermeintliche Sicherung des Rechts. Darüberhinaus gelang es dem Stand der Anwälte, mit rechtlichen Mitteln die Beanspruchung ihrer Vermittlertätigkeit nach eigenem Gutdünken zu konditionieren. Die Anwälte bestimmen autonom, ob sie sich an die gesetzliche Gebührenordnung halten wollen oder nach Belieben Arbeitsstundensätze festlegen. Der Recht suchende Bürger hat – angeblich in freier Vereinbarung – Bedingungen zuzustimmen, auf deren Zustandekommen, aber vor allem auf deren Kontrolle er keinerlei Einfluss hat. Täglich muten Anwälte ihrer potentiellen Klientel die Aussage zu: „Dann gehen Sie doch woanders hin. Nur wer nichts kann, arbeitet nach Gebührenordnung.“
Angeblich erzwang die Verrechtlichung zur Sicherung des Rechts auch die Verpflichtung, alle Verträge – selbst in der Individualsphäre eines Bürgers (Verträge zu Mieten, Heizung, Strom, Versicherungen) – so zu formulieren, dass sie sich auch der bemühtesten Anstrengung, sie zu verstehen, möglichst vollständig entziehen. Das sprichwörtliche Kleingedruckte sollte die Aufmerksamkeit der Bürger ablenken – zumal selbst der Gebrauch von leistungsfähigen Brillen bei Schrifttypen von 6-Punkt und weniger eine sinnvolle Perzeption kaum ermöglicht. Durch die Verrechtlichungsmaxime ist das Kleingedruckte in das Kleinformulierte gewandelt worden. Verträge werden bis in die kleinsten Einzelaspekte zerbröselt und verlieren durch zahllose Konditionalperspektiven (Klauseln) jegliche Eindeutigkeit. Im Konfliktfall können dann nur Fachanwälte mit Verweis auf ihre Spezialisierung über den Sachverhalt kooperieren – mit dem Ziel der die Parteien vertretenden Anwälte, sich das höchstmögliche Honorar zu verschaffen.
Die Hoffnung, Richter würden diesem Spiel bzw. der Durchsetzung von Interessen als Legalisierung Grenzen setzen, ist leider weitgehend unbegründet. Nicht erst die Rechtsprechung in totalitären Regimen bewies vielfältig, wie sich politische, weltanschauliche oder religiöse Opportunitäten in der Rechtsprechung durchsetzen, ohne dass an den Buchstaben der Gesetze durch die jeweiligen Machthaber auch nur das Geringste geändert zu werden brauchte (die dankenswerte Braunschweiger Untersuchung über die Justiz im Dritten Reich wird niemand vergessen können, der sich der Willkür von Naturgewalten oder Rechtsprechung auszuliefern hat). Wo das Volk dem Recht zu huldigen hoffte, wussten die Organe der Rechtsprechung immer schon, dass man auf hoher See und vor Gericht ohnmächtig in göttliche Richterhand gelegt ist. Die Vielzahl der göttlichen Richterrollen bietet keinen tröstlichen Verweis auf Polyjudizens – ebenso wenig wie Polytheismus oder Polyhotelismus den Monotypismus der Göttlichkeit oder des Hotelwesens aufhebt. Alle jahrelang beschrittenen Instanzenwege führen trotzdem immer nur vor das Faktum: Judex locuta, causa non finita. Denn, Urteile zu sprechen, ist eine delikate Sache; sich den Urteilen zu unterwerfen, gilt aber als ein Zeichen der Schwäche der Schwachen.
2. Das Expertenurteil
Am 12. Juli 2012 wandte sich der allseits hochgeschätzte Professor für öffentliches Recht und Bundesverfassungsrichter a.D. Paul Kirchhof in der FAZ an das verunsicherte bürgerliche Publikum. Nur allzu gern hätte man sich durch dieses höchstranginge Expertenurteil von der Haltlosigkeit des eigenen Lamentos (siehe oben) überzeugt. Begierig nahm man’s, las und ging zu Boden – denn Kirchhofs Darlegungen sind viel radikaler und desillusionierender als kleinbürgerliche Ängstlichkeit. „Niemand wird diesen elementaren Rechtsverlust wollen. Wohl aber sind viele bereit, im Heute ein Stück des Weges in die weitere Illegalität voranzuschreiten, weil dieser Weg beachtliche Gewinne verheißt oder auch nur die Chance bietet, drohende Verluste auf andere zu verschieben.“
Was meint hier einerseits „niemand“ und andererseits „viele“? Warum sollten die „vielen“ den Rechtsverlust nicht wollen, wenn doch die Illegalität Gewinne verspricht?
Mit dankenswerter Offenheit stellt Kirchhof im Hinblick auf das Ermächtigungsgesetz für den ESM vom Juni 2012 dar, wie die Partner des Maastricht-Vertrags das „Recht grob missachteten“. „Finanzstabilität durch immer weniger Rechtsstabilität zu erreichen, ist nicht gangbar. Ohne das Recht wäre das Stabilisierungsziel nicht verbindlich ….“ Mit diesen Worten markiert Kirchhof sein generelles Argument, dass „Instabilität des Rechts schwerer wiegt als eine Instabilität der Finanzen.“ Kirchhof formuliert sogar programmatisch, die EU stehe und falle mit ihrer Rechtlichkeit. Die Europäische Union werde durch ein gemeinsames Verständnis des Rechts zusammengehalten; die Verletzung des Rechts – auch aus behaupteter Not, die gemeinsame Währung zu retten – würde die Union vielmehr aufheben, ohne jedoch die Währung zu retten.
Wunderbar, die Nachdrücklichkeit des Rechtsbekenntnisses – der Pferdefuß bleibt leider die Not, sich auf ein Rechtsverständnis zu einigen, weil doch die Rechtsauslegung naturgemäß so uneindeutig, das heißt, opportunitätsabhängig ist. Für den Laien ist es besonders beachtlich, dass sich Kirchhof nicht der allgemeinen Rechtfertigungsstrategie anschließt, Rechtsbrüche im Fall der Euro-Krise als bloße Erweiterung des Rechtsverständnisses oder als leicht grenzwertiges Verständnis des Rechts anzusehen. Er argumentiert: „Mancher Interpret des Unionsvertrages begleitet diese Entwicklung mit einer überdehnenden Interpretation der Vertragsinhalte. Das, was um der Stabilität des Euro willen ausgeschlossen werden sollte, sei durchaus erlaubt. Andere bemühen das Stichwort von der Not, die kein Gebot kenne, empfehlen für eine Übergangszeit, sich um Rechtlichkeit und Vertrauenswürdigkeit nicht sonderlich zu bemühen.“ Das ist durchaus distanzierend gemeint, gibt aber mit der Reduktion der Zahl kollektiver Rechtsbrecher in der EU auf „manche“ doch wieder der Tendenz nach, den Rechtsbruch abzuschwächen.
Niemand würde den elementaren Rechtsbruch wollen, viele schritten doch in die weitere Illegalität voran, aber nur mancher rechtfertige das durch Not, die kein Gebot kenne – entspricht das nicht der üblichen Verharmlosung der Wirkungen heutiger politpychologischer Praxis? Dafür spricht, dass Kirchhof auffälligerweise jede explizite Stellungnahme zum Anteil der Juristen an der Durchsetzung solcher Praxis vermeidet. Das aber würde über die vermeintliche vorurteilsfreie Analyse und Wertung Kirchhofs hinausführen. Politpychologisch verständlich ist das Bestreben der Entscheider, sich von persönlicher Haftung freizustellen. Deswegen beschäftigen personell bestens ausgestattete Ministerien externe Kanzleien, die sogar komplette Gesetzesentwürfe oder Strategien der Politpropaganda so formulieren, dass man ihnen nicht mit Argumenten der bürgerlichen Vernunft beikommen kann.
3. Humortherapie für den Ernstfall?
Leider kann man nicht der Luhmannschen Empfehlung Folge leisten, die mutwillige Instabilisierung des Rechts durch juristische Arbeit als bloßes erkenntnistheoretisches Paradoxon wegzulachen. Was hätte man davon, über die Tatsache zu philosophieren, dass jeder Bürger seine Steuererklärung unter verbindlicher Zusicherung, das Steuerrecht zu kennen, ausfertigen muss, wenn sich nicht einmal Fachleute diese Kenntnis in vollem Umfang erarbeiten können. Philosophen haben keine Sanktionen für produzierten Aberwitz zu befürchten; sie machen höchstens als Paradoxenreiter eine unschöne Figur. Wer bei der Steuererklärung aber unvermeidlich gegen Bestimmungen verstößt, riskiert Bestrafung. Er wird von denjenigen der Steuerhinterziehung bezichtigt, die ihrerseits für Steuerverschwendung niemals zur Verantwortung gezogen werden (wie der Bundesrechnungshof jährlich anmahnt).
Man kann sich Juristen gut als humorvolle Zyniker vorstellen, die sich über die Zappeleien des sich rechtfertigenden Bürgers amüsieren. Wer per Definition immer schon mit einem Bein im Gefängnis der juristischen Fallenstellerei steht, wird kaum Widerstand wagen. Er hat vielmehr Juristen zu beschäftigen, um dem drohenden Belieben zu entgehen.
Aber wer kann sich als Privatperson schon juristische Bodyguards leisten? Das ist bei Gesellschaften, Unternehmen, Institutionen schon ganz anders. Dort sorgen permanent Dutzende von Anwälten dafür, dass beispielsweise Goldman Sachs das Eigenhandelsverbot umgehen kann oder dass Bankenaufseher durch juristisches Dauerfeuer zum Einknicken gezwungen werden, wie das gerade im Falle des Vertragswerks Basel III zur Bankenaufsicht geschieht. – Der militärische Begriff Dauerfeuer ist hier nicht wie die Feingeister der Jurisprudenz behaupten könnten, völlig unangemessen, verfälschend, ja diskriminierend. Herr Draghi hat sogar eine ganz konkrete Militärmaschinerie, nämlich die Kruppsche ‚Dicke Berta‘-Kanone, für die Beschreibung der Tätigkeit der EZB unter einvernehmlichem Schmunzeln von Politik und Geschäft ins Spiel gebracht. Lange vor der inzwischen fünf Jahre währenden akuten Krise haben die Heroen des siegreichen Kapitalismus die Finanzen als Feuerkraft gefeiert.
Man kann füglich behaupten, dass kein einziger Fall von Instabilisierung des Rechts, wie sie der Bürger in den Handlungsfeldern Wirtschaft, Politik, Soziales, Wissenschaft, Medizin hinnehmen muss, ohne erstrangige Beteiligung von hochgradiger juristischer Intelligenz zustandekommt. Selbst die Kartellabsprache zur Libor-Fälschung kann nicht ohne bewusste Manipulation des Rechts durch die Folgenabschätzung von Juristen aktiviert worden sein (bei geschätzten einhundert Milliarden Dollar Gewinn durch die Libor-Manipulation dürfte das Honorar der Mafioten des Rechts dem kompletten Besitz von Onkel Dagobert entsprochen haben). Reihenweise gestehen scheinbar renommierte Banken diese Tatsache ein, wenn sie das Angebot zur Vermeidung längerer juristischer Auseinandersetzung annehmen, sich durch Zahlung einer Strafe von aller Verantwortung freizukaufen.
So lässt man sich Moderation statt Urteil gefallen. Die rasant gestiegene Anzahl außergerichtlicher Einigungen ist kein Fortschritt in der Akzeptanz von Rechtlichkeit, sondern deren Aushebelung unter Gleichgesinnten mithilfe von Organen der Rechtsprechung. Allerdings kann jeder verstehen, dass selbst rechtschaffene Unternehmer dieser Praxis folgen; was hätten sie davon, nach 8 bis 12 Jahren Prozessdauer tatsächlich ins Recht gesetzt zu werden, wenn ihre Firmen durch den Rechtsstreit bis dahin längst bankrott gegangen sind.
Den nie denkbaren Höhepunkt aller Instabilisierung des Rechts durch Gesetzgebung und Jurisprudenz nebst höchstrichterlicher Zustimmung zur Legalisierung von Unrecht aus praktischer Unvernunft stellt das jüngst vom Bundestag unter Mithilfe des teuersten juristischen Raffinements der profitierenden Versicherungswirtschaft verabschiedete Versicherungsaufsichtsgesetz dar. Im Paragraphen 89 wird schlichtweg erklärt, dass im Falle des drohenden Bankrotts einer Versicherungsgesellschaft sogar nachträglich die Vertragsvereinbarungen vom Unternehmen zu seinen Gunsten verändert werden dürfen, der Versicherungsnehmer aber zu weiteren vertragsgemäßen Zahlungen verpflichtet bleibt.
Das kann man ohne Einschränkung als den größten Skandal unserer 1500-jährigen Rechtsgeschichte bezeichnen. Damit ist das Ende jeder Rechtsstaatlichkeit, Rechtspflicht und Rechtsstreue ganz offiziell vom deutschen Bundestag verkündet worden. Selbst dem zynischsten Juristen sollte nun doch das Lachen im Halse stecken bleiben, wenn er anerkennt, dass die Leistungen seiner Kollegen in den Versicherungskonzernen kaum angemessen gewürdigt werden können. Wie alle genialen Kriminellen – wie zum Beispiel Kunstfälscher – müssen sie die Paradoxie aushalten, dass sie gerade dann erfolgreich sind, wenn niemand von ihrer Genialität erfahren darf.