Vortrag / Rede Die Aktualität des Ästhetischen

"Die Aktualität des Ästhetischen" internationaler Kongress der Stiftung Niedersachsen, Hannover, 02.-05. September 1992

Termin
02.09.1992

Veranstaltungsort
Hannover, Deutschland

Veranstalter
Stiftung Niedersachsen

Transkript

Die Behauptung, Wahrheitsfrage und ethische Frage hätten sich als eigentlich ästhetische herausgestellt, bedeutet, die Arbeit an diesen Begriffen, wie sie nun für uns seit zweieinhalbtausend Jahren vorliegt, in gefährlicher Weise zu vernachlässigen. Ich hege den Verdacht, daß man sich hier einen Wirklichkeitsbegriff zurechtlegt, der bequem von der Annahme solcher künstlich ästhetisierter Welten ersetzt werden kann. Es macht jedoch keinen Sinn, noch von der Wirklichkeit zu sprechen, wenn man sie auf der Ebene der Privatannahmen erledigen könnte. In dem Fall könnte man auf die Begriffe Wirklichkeit und Wahrheit, wie auf die des ethisch Gebotenen und Ästhetischen völlig verzichten. Da wird also unter gefährlicher Vernachlässigung der Arbeit an diesem Problem und ihrer Resultate, wie sie von vielen Generationen geleistet wurde, eine Aktualität des Ästhetischen vorgegeben, der faktisch gar nichts entspricht. Bestenfalls als Soziologe könnte man dies im Sinne des Absinkens von gewissen Phänomenen der Symbolisierung, der Selbststilisierung von Oberschichten in die kauffähigen Massen annehmen, und das hat mit der Ästhetisierung der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun.

Eine Aktualität könnte darin bestehen, daß sich ganz bewußt Eliteaskesen, neue Gralsritterschaften und neue klösterliche Lebensgemeinschaften bilden. Diese Aktualiät des Ästhetischen muß in dieser Reduktion bestimmter Gruppierungen gesehen werden und zwar derer, die der Kunst huldigen, die in den Tempel einziehen, um endlich auch vor Bildern wieder beten zu können. Natürlich dürfen das nur Kunstwerke sein, denn sonst würde man seine Gebete an etwas nicht Leistungswürdiges verschwenden. Solche Leute übersehen jedoch, daß die Madonna ihre wahren Wunder eben nicht im Tempel leistet, sondern im Kaufhaus.

Diese Reduktion des Ästhetischen auf die Kunstproduktion oder auf die Bereitschaft, nur im Hinblick auf Kunst vom Ästhetischen zu sprechen, würde aber dazu führen, daß wir die Kunstproduktion nicht mehr im Zusammenhang mit dem Leben derer, die da produzieren, setzen könnten. Das wäre gleichbedeutend mit der Annahme, daß die Bilder tatsächlich wieder vom Himmel fallen und nicht gemalt werden. Denn sobald sie gemalt werden, gibt es dafür Bedingungen und Kontexte, und eine Erörterung des Ästhetischen im außerkünstlerischen Verständnis läßt sich gar nicht vermeiden. Es ist also unmöglich, heute eine solche Reduktion des Ästhetischen in die Anstrengung auf den Bereich der Kunst vorzuführen, um damit einen Anspruch auf Eigentlichkeit, auf existentielle, ridiküle Verschärfungen, auf Ernsthaftigkeit, auf den Ernstfall zu reklamieren. Die Musealisierung als Anlaß der Aktualisierung des Ästhetischen gerade im Hinblick auf die Institution Museum zu sehen, scheint mir völlig verfehlt zu sein, weil sie in nichts den empirisch wahrnehmbaren Sachverhalten entspricht. Gerade das Museum ist doch heutzutage der Ort, an dem die Zeit geschöpft wird, die Dimension des Gegenwärtigen in Relation auf die zeitlichen Differenzierungen so prägnant zur Geltung kommt, wie nirgends sonst. Das Museum hat sich geradezu als Zeitschöpfer, als Produzent von Zeit bewährt. Die angeblich bloß auf Innovation ausgerichtete Avantgarde produziert nicht neo-philistische Exerzitien, im Gegenteil, was sich bewährt hat an der Avantgarde, ist, daß dieses Neue, wenn es denn absolut neu und bestimmungslos ist, nur im Hinblick auf das alte Bekannte gesehen werden kann. Mit anderen Worten, die Funktion der Avantgarde lag gerade darin, die historisch vermeintlich bekannten, vertrauten Bestände in die Gegenwart als in der Gegenwart wirksame Sachverhalte einzubringen. Der Avantgardist Polke hat sich darin als solcher gezeigt, daß er uns eine historische Figur wie Picabia völlig neu als Gegenwartskünstler schuf. Wenn man die gesamte Avantgarde-Geschichte der letzten 130 Jahre durchgeht, wird man entdecken, daß im Unterschied zum Terror der Innovation durch diese Verfahren der Avantgarde gerade die Sicherung der Tradition auf immer neue Weise möglich wurde. Erst an dem vermeintlich Bekannten hat ja das innovatorisch Neue seine Möglichkeit, sich als solches tatsächlich substantiell zu zeigen.

Die Aktualität des Ästhetischen läßt sich auch an der Beobachtung des Kriegs der Zeichen festmachen. Der Krieg der Zeichen ist ein zentrales Moment, das wir an subkulturellen Auseinandersetzungen erkennen, denn aus dem Bereich der Hochkultur in die Subkulturen stammt die bellicose Struktur, die in unserer Kultur die grundlegende Art der kriegerischen Auseinandersetzung zur Geltung kommen läßt. Wir können also an diesem Phänomen über den Zustand unserer Gesellschaft viel mehr ablesen.

Montaigne als eine Art postmoderner Figur vor der eigentlichen Postmoderne darzustellen, geht im Rahmen der Diskussion der Aktualität des Ästhetischen zu weit. Denn dann wäre die Aktualität, wenn Montaigne wirklich noch aktuell ist, im Sinne der Vergegenwärtigung noch viel weiter ausdehnen. Das ist eine Frage der historischen Präsenzen. Was haben Xenon oder Epikur, was haben die Autoren aus dem 4. oder 3. vorchristlichen Jahrhundert bis hin zu Augustinus getan, als eben diese montaigneschen Fragen zu erörtern? Die Aktualität des Ästhetischen an eben einem solchen Beispiel festzumachen, und sei es auch übertragen auf heutige Künstler und Autoren, wäre dann die direkte Darstellung der Aktualität solcher Überlegungen seit der Antike. Diese historische Dimension müßte eigentlich herausgestellt werden. Anstatt Montaigne zum Zeitgenossen zu machen, müßten wir die historische Distanz zu Montaigne und zurück zu Xenon und Epikur darstellen, denn die Vereinnahmungsgeste - er auch einer von uns Postmodernen - die entzieht uns ja gerade das, was für uns in irgendeiner Weise aktueller Anlaß ästhetischer Überlegungen sein könnte. Nichts ist so grauenvoll zerstörerisch wie die aneignende Vereinnahmung der Historie auf der Ebene der Gegenwart.

Innerhalb unserer Kultur lassen sich unabweisbare Tendenzen zur Ghettoisierung erleben. Dies ist eine andere Art der Elitenbildung, als sie bei Bohrer gemeint ist. Ich will das nur in einer bestimmten Hinsicht darstellen: Heute lassen sich Bestrebungen nach kultureller Autonomie bei jeder kleinen Sprachgemeinschaft - und wir haben 8700 Sprachgemeinschaften in der Welt - als Begründung für jede Art von politischem Durchsetzungsvermögen mit Waffengewalt ausweisen. Das ist das Bedenklichste, was man zur Kultur und in dem Zusammenhang auch zur Aktualität des Ästhetischen sagen kann. Heute sind die reaktionärsten und zerstörerischsten, nicht nur die Weltgesellschaftsphantasien, sondern Europaphantasien zerstörenden, Tendenzen in der Kultur zu sehen. All diese Auseinandersetzungen von Slowenen, Kroaten und Serben, Nordiren und Basken werden mit Anspruch auf diese kulturelle Autonomie begründet. Gaudi für die Basken und Plecznik für die Slowenen als Paradebeispiele der Produktion künstlerischer Autonomie durch Designer anzuführen, wie es Burckhardt tat, ist allerdings etwas leichtsinnig. Hierin liegt für mich einer der zentralen Punkte des Nachdenkens über die Aktualität des Ästhetischen. Wir sind es nämlich, die sogenannten Kulturschaffenden (die Leute, die im engeren Bereich dessen operieren, was die Gesellschaft als Kultur - leider - immer noch bloß versteht), die die Argumente liefern. Wenn man nachverfolgt, wie über die letzten zehn Jahre in Serbien von Seiten der Akademie der Wissenschaften im Hinblick auf diesen serbischen Nationalismus argumentiert wurde, wie das in Slowenien gegangen ist, wie das in Aserbeidschan, in Barcelona und anderen Ortes geht, dann wird man da nur ununterbrochen Verweise auf diesen Anspruch kultureller Autonomie entdecken, eine Art von Exklusivität, die auf ethnische Reinheit und Homogenisierung ausgerichtet ist, und wenn man das im Hinblick auf die sozialen Formen des Zusammenschlusses von Menschen unter solchen Bedingungen sieht, dann kann man das ohne weiteres als Bandenbildung bezeichnen. Ich habe das Anfang der 80er Jahre unter dem Titel der "Gottsucherbande - Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit" beschrieben, aber vielleicht ließe sich das heute noch viel eher unter dem Gesichtspunkt der Fundamentalistenbanden zusammenfassen. Da sollten wir die Aktualität des Ästhetischen in unserer eigenen Gesellschaft wahrnehmen und beobachten und nicht nur das, was unter religiös ausgerichteten Fundamentalismen läuft. Wir arbeiten das wahrscheinlich daran ab, daß wir den Islam stigmatisieren und das vielleicht noch in Amerika am Fundamentalismus der Protestanten oder des "family life" oder der "value"-Bewegung darstellen. Aber das ist im Grunde ein Anlaß von vorgestern, denn eine viel weiter gehende Deutung ist, daß die Kultur selbst das Zerstörerischste des sozialen Zusammenhangs geworden ist, daß die Kultur gegenwärtig den eigentlichen Sprengsatz darstellt. Beobachtet man die Autonomiebestrebungen im wirtschaftlichen oder politischen Bereich - sie sind immer mit diesen kulturellen Implikationen versehen. Die Kultur sprengt tatsächlich die Gesellschaften. Wir haben bei uns ja diese Modelle - Carl Schmitt, Ernst Jünger, Gottfried Benn - in den 20er, 30er Jahren vorgeführt bekommen, bei denen sich sozusagen im Namen dieser Art von Ernstmachen, in dem, was den Menschen als kulturelles Wesen bestimmt (in der Sprache, in der ethnischen Zugehörigkeit etc.), die Katastrophe unmittelbar als Triumph der künstlerischen Wirksamkeit präsentiert.

Das ist außerordentlich gefährlich. Sobald eine Kultur in einer Gesellschaft in diesem Sinne wirksam wird, muß man sie unter Zensur stellen. Ein altes Motiv, das schon Platon völlig einsichtig begründet hat. Wir erfahren jetzt, was es heißt, den Künstlern in diesem Sinne freies Feld zu lassen. Die sollen in ihren Opernhäusern und Ateliers bleiben, aber nicht behaupten, daß sie tatsächlich die Bedingungen und Positionen markierten, die den sozialen Zusammenhang der Menschen sicherten. Persuasion könnte nun die Fähigkeit sein, die Menschen, die sich zueinander gesellen, auch zur Einhaltung einer gewissen Verbindlichkeit im Leben miteinander, zu überreden. Nur wo bleibt denn die Möglichkeit, in dem Sinne persuasiv zu wirken, wenn die Medien okkupiert sind von wirtschaftlichen oder politischen Interessengruppen, wenn ganze Großbereiche von gesellschaftlich Handelnden gar keine Chance haben, irgendwo persuasiv außerhalb der familiären oder privaten Bereiche zu wirken und wenn die Bedingungen der Kommunikationsökonomie es eigentlich ganz unmöglich machen, daß eine größere Gruppe überhaupt die Zeit aufbringt, sich an einem solchen "persuasere" zu beteiligen. Es geht nicht allein um die Frage der Verbindlichkeit in den Beziehungen zwischen Menschen geht (Kultur ist ein Beziehungsgeflecht, das auf die Verbindlichkeit zwischen den Menschen ausgerichtet ist), sondern darum, wie diese Verbindlichkeit durchgesetzt wird. Das ist die entscheidende Frage. Und im Hinblick auf die Aktualität des Ästhetischen kommt es nicht darauf an, irgendeine Ideologie wieder einzuführen oder zu rekonstruieren, sondern darauf, wie man die Verbindlichkeiten garantieren kann. Es ist unter dem Gesichtspunkt der Aktualität des Ästhetischen an der Zeit, darüber nachzudenken, gerade weil die alten Sanktionsmechanismen des Durchsetzens von Verbindlichkeiten nicht mehr greifen.

In der größeren euphorischen Ausweitung der Techno-Imagination kann eine Lösung nicht liegen. Gemeint sind hier jene Vorschläge, den ganzen Apparat sich weiter ausdehnen zu lassen, bis es dann einen Umschlag von der Quantität in eine neue Qualität gibt oder, was das Kurioseste ist, das Überschwemmtwerden mit solcher Techno-Imagination, mit dem sich bloßen Totalisieren der reinen Simulation. Zu behaupten, daß damit die Adressaten ihren Anspruch auf Wirklichkeitserfahrung an der Kinokasse, bei der Fernsehstation oder sonstwo abgäben, ist ein Scherz - bisher ist es noch keinem Medientheoretiker oder Soziologen gelungen, irgendeinen solchen Menschen vorzuführen. Jeder weiß ganz genau, diese Differenz zwischen der bloßen Simulationsebene und dem, was Wirklichkeit ist, darzustellen.

Die Theorie, die behauptet, daß in unserer Kultur die Fundamente allesamt ästhetisch verfaßt, also durchweg kulturelle Artefakte sind, die wir immer nur an anderen kulturellen Artefakten, nie hingegen an der Wirklichkeit selber überprüfen können, ist in nichts haltbar. Ganz im Gegenteil, wenn es heute einen Anlaß zum Sprechen über das Ästhetische gibt, dann darin, daß uns diese ästhetische Dimension, jede Art von Kommunikation der Wissenschaftler, der Künstler, der Hausfrauen, der Eltern, der Kinder eben von Natur aus aufgezwungen wird. Wären ästhetische, ethische, epistemologische Fragen Kulturerfindungen, dann hätten sie nicht durchgängig in allen Kulturen, obschon mit anderen Differenzierungsmustern eine derartige Bedeutung bekommen und erst recht nicht bei uns in Kontinuität über 2500 Jahre hinweg.

Im Nachdenken über das Naturrecht, über das natürlich Schöne, auch über die Naturlogik, erkennen wir, daß wir nichts als Natur sind, gerade in ästhetischen Fragen oder in Wahrheitsfragen. Jenseits jeder Art von kultureller Ausgedachtheit sind das die Basisfragen, unter denen die Natur selbst operiert. Wir müssen uns dem arbeitenden Bereich der Neurophysiologie, der Biologie der Erkenntnis wie der alten alteuropäisch-philosophischen kunstgeschichtlichen Erörterungen anschlußfähig erweisen und sie nicht behandeln, als seien sie veraltete Überlegungen von ein paar Trotteln, die noch nicht neurophysiologische, biologische, naturwissenschaftliche Erkenntnisse besessen hätten. Mir schien diese Haltung stets vollkommen absurd zu sein, als ob nicht irgendein Aristoteles oder Xenon oder wer auch immer mit Links die Einsichten am Nachmittag produziert, die wir heute mit einem Aufwand von 15 Millionen pro kleiner Forschungseinheit über fünf Jahre produzieren. Diese Art von Aktualität können wir nun wirklich für uns nicht reklamieren. Man muß bedenken, daß wir uns von unserem nächsten Primatenverwandten ausschließlich durch zwei Prozent unseres Erbgutes unterscheiden und daß wir im Hinblick auf die Reduplikation des Lebens uns von einer x-beliebigen Pflanze oder irgendeinem Organismus in nichts unterscheiden. Im Hinblick auf das Ästhetische ist die durch die Evolution hervorgebrachte Differenzierung spezieller Leistungszentren unseres zentralen Nervensystems bis zum Neokortex, die von wesentlicher Bedeutung. Und das Kernproblem ist, wie dann diese Leistungszentren, die in der ganzen Natur nur durch Differenzierung und Spezialisierung zustandekommen, überhaupt miteinander kooperieren können. In diesem Sachverhalt liegt das ganze Problem der Ästhetik enthalten. Auf den Menschen bezogen, ist es die Frage, wie unsere intrapsychischen Prozesse - Denken, Vorstellen, Fühlen - , inkorporiert, vergegenständlicht werden können, so daß wir in unserer Selbstwahrnehmung wie in der Fremdwahrnehmung, zum Beispiel anderer Menschen, überhaupt auf dieses Denken, Vorstellen, Fühlen als einer Fähigkeit der Adaptation an die Bedingungen des Lebens zurückgreifen können, denn ohne diesen Zurückgriff, ohne diese Anpassungsleistung wären wir keine Sekunde überlebensfähig. Die alte Einheit der Philosophie vom Schönen, Guten und Wahren ist auch in der Natur gegeben.

Grundsätzlich läßt sich heute neurophysiologisch durch Markierungsmethoden, die wir in Bonn und Köln vorführen, zeigen, daß durch dieses ästhetische "gap", diese prinzipielle Uneinholbarkeit, die prinzipiell nicht mögliche Identität zwischen den intrapsychischen Prozessen und dem Handeln und der sprachlichen Vergegenständlichung, die prinzipielle Unmöglichkeit, hundertprozentig das auszudrücken, was man denkt oder wiederzugeben, was man fühlt etc., die aufgrund der Differenzierung unserer neurophysiologischen Leistungsfähigkeit entstanden ist, auch die ethische Dimension und die Wahrheitsfrage entspringt. Jemand verfügt erst über die Fähigkeit, mit diesem Apparat, mit der prinzipiellen Nichtidentität umzugehen, wenn er lügen kann, d.h., wenn er weiß, ich bin nicht nur von Natur verhindert, genau das sagen zu können, was ich denke, vorstelle und fühle, ich kann auch noch bewußt falsch ausdrücken, was ich denke und fühle. Die alte Vermutung, das Ästhetische hätte etwas mit Vorspielen, Lügen, Oberflächenphänomenen zu tun, ist völlig richtig. Das hängt nämlich an der Fähigkeit zu lügen, also an der bewußten Abkoppelung der natürlichen und konventionellen Kodierung die Anhängung eines Gedankens an eine Handlung oder eine Sprachfolge aufzulösen. Dies ist ganz außerordentlich wichtig, wenn Menschen miteinander leben und eigentlich merken, daß sie miteinander kommunizieren müssen, weil sie sich nicht verstehen können, weder sich selbst, noch die anderen.

Sie balancieren in der gesellschaftlichen Bindung permanent auf einem ganz schmalen Grat. Da kann man nicht nur in der Ehe, sondern auch in größeren Lebensgemeinschaften auf die Idee kommen, ein für alle Mal durch einen Ayatollah oder einen päpstlichen Zensor festsetzen zu lassen, daß jetzt und hinfort ein Gedanke in dieser Weise eineindeutig in dieser Weise auszudrücken ist, und umgekehrt, nur noch bei dieser Art von Ausdruck, den man verwenden darf, das und das gedacht werden kann. So auch im Hinblick auf die Gefühle, und das nennt man fundamentalistische Erzwingung der Identität zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen intrapsychischen Prozessen und sprachlichen Vergegenständlichungen. Diese fundamentalistische Erzwingungsstrategie, die für mich eben die Banden, auch die Gottsucherbanden, vornehmlich in Europa und Amerika prägt, bedeutet für die Menschen eine ungeheure Erleichterung in der Regulierung ihres Alltagslebens. Wir wissen ja, daß Menschen sich im Absolutismus im Hinblick auf ihre Lebensrisiken sehr wohl fühlten und nur wenige einen Einwand gegenüber der beschränkten Freiheit in diesen Bedingungen gehabt haben.

In den immer weiter sich auflösenden Verbindlichkeiten, im sich immer weiter steigernden Vabanquespiel, das wir miteinander im sozialen Beziehungen treiben, muß der fundamentalistische Terror der Erzwingung von Eineindeutigkeit und Identität, im intrapsychischen und handelnd Vermittelten weiter zunehmen. Da ergibt sich die Frage, was wir eigentlich zur Verhinderung fundamentalistischer Indienstnahme von Kultur im engeren Sinne, also Kunst, Oper etc. und von Ästhetik in einem weiteren Sinne, nämlich im Hinblick auf die Einsicht, daß wir von Natur aus, wenn wir angemessen reagieren und wirkliche Anpassungsarbeit leisten, niemals, außer in der mathematisch definierten Eineindeutigkeit, in der Tautologie, diese Identität der intrapsychischen Prozesse und der sozial realisierbaren Kommunikation anstreben dürfen. Aber ein soziales Miteinanderleben unter der totalen Prämisse des Totalwerdens der Simulation, daß die Zeichen sich nur noch auf die Zeichen und nicht mehr auf das zu Bezeichnende beziehen oder der totalen Lüge und der Notwendigkeit, jederzeit damit zu rechnen, daß wir alle lügen, ist unmöglich, weil das die Kommunikation genauso aufheben würde. Also ist die Ästhetik in einem ganz anderen Sinne Basis oder die ästhetische Dimension der Kommunikation, ist auf eine ganz andere Weise Basis aller Kommunikation. Es wird nicht die Wahrheitsfrage gestellt, weder ästhetisch, noch ethische, sondern sie ist in dem Sinne eine Basis, als sie vollständig mit den ethischen und epistemologischen Fragestellungen identisch ist, aufgrund derselben natürlich gegebenen Bedingungen für unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung. Das ist der Grund, warum diese Fragestellungen durch alle Kulturen eine derartige Bedeutung haben.

Dieses Phänomen auf den Kunstproduktion zu reduzieren, wäre nicht nur Eurozentrismus von der Qualität einer psychiatrischen Auffälligkeit, sondern es wäre schlechthin eine stupide Art der Absehung, was man über sich selbst auch nur als einzelnes Individuum wissen kann, geschweige denn über seine soziale Existenz. Wenn wir noch von der Kunst reden, dann reden wir von einer bestimmten Art der historischen Ausprägung des Umgangs mit dieser natürlich uns aufgezwungenen Bedingung. Dann sehen wir an den historisch-künstlerischen Arbeiten, wie man mit diesem Problem fertig geworden ist. Denn in der Kunst steht fest, Probleme werden nicht gelöst. Das ist ein unglaublicher Vorteil, den die Kunst vor allen anderen Handlungsbereichen hat. All diese Arbeiten bedeuten nur, was die Kultur im engeren Sinne, also beispielsweise die Bilderfabrikation über die letzten 600, für die Aufklärung dieser fundamentalen Differenz, die das Ästhetische ausmacht, dieser ethischen und epistemologischen Fragestellungen, zu leisten vermag.

Das Entscheidende an den Erörterungen der Aktualität des Ästhetischen scheint mir heute darin zu liegen, klarzumachen - erstens: daß keine noch so radikale fundamentalistische Erzwingung von Identität, von Eindeutigkeit, Klarheit und Verbindlichkeit, wie soll das gesehen werden, was heißt das, was meint der Künstler, was sagt der Wissenschaftler, erfolgreich sein kann; ich würde sogar soweit gehen zu sagen, daß wir alle liebend gerne Faschisten wären und zwar Radikalfaschisten im Sinne dieses Fundamentalismus, wenn wir noch die Hoffnung hätten, uns über diese totalitären Erzwingungsstrategien des Absoluten der Identität behaupten zu können. Ich bin davon von mir selbst jedenfalls überzeugt. Könnte ich den Einwand nicht formulieren, daß diese Erzwingung selbst mit den größten Ernstfallmitteln der Androhung einer atomaren Vernichtung nicht möglich ist, dann wäre ich Faschist. Das weiß ich von mir vollständig, hundertprozentig. In der Reaktion auf diese Anforderungen des Lebens, die jetzt gestellt werden, bliebe einem natürlicherweise, also wenigstens bis auf weiteres, nur die Möglichkeit zu sagen, also jetzt schließe ich mich den Gottsucherbanden an.

Heute gibt es leider solche Carl Schmittschen Phantasten, die Leute wie Bohrer und die ganzen FAZ-Autoren nachbeten, als ob sie nicht kapiert hätten, daß Carl Schmitt gerade deswegen völlig inaktuell ist, weil nicht mehr der Ausnahmefall der entscheidende Punkt ist, an dem gezeigt wird, wer herrscht, sondern der Ausnahmefall der Normalfall geworden ist. Und was soll die ganze Theorie vom Ausnahmefall, wenn der Normalfall die Ausnahme ist. Da kann man mit derartigen Erzwingungsstrategien der Befriedung von Bürgerkriegselend oder Assimilationsproblematiken oder Überschwemmungen von Fremdvölkern nicht mehr operieren. Der Normalfall ist die Ausnahme. Damit erledigt sich die ganze Theorie.

Was tragen wir dazu bei, die Aktualität des Ästhetischen mitzubewegen? In dem Sektor, in dem ich arbeite, sehe ich da leider so gut wie gar keine Aktivitäten. Jeder ökologisch denkende Normalbürger ist uns da heute weit überlegen. Und wir sollten aus die Schlußfolgerung ziehen, daß wir im Hinblick auf diese Probleme weniger zu bieten haben als fast alle anderen gesellschaftlichen Gruppierungen. Und das ist schmerzlich, sehr deprimierend, sehr einschränkend im Hinblick auf unser Selbstbewußtsein. Da müssen wir jetzt durch, und das muß die Wissenschaft leisten, sonst ist sie sowieso "verratzt".

(...)

Nun hat Welsch offenbar dieses Erlebnis nicht schockhaft gehabt, sondern freudig erregt - er wurde verschönert. Da also die Verschönerungen allenthalben um uns herum - wie das ja hier auch uns zugemutet wird, jedoch immer noch mit dem Vorteil, daß wir einer Redewendung auf die Spur kommen, die da heißt, man spräche ja ohnehin, wenn man zivilisiert spricht, nur durch die Blume. Das gibt mir also heute die besondere Möglichkeit, nur durch die Blume zu Ihnen zu sprechen, was Sie andererseits nicht verwundern soll, daß vieles blumig klingt oder hier die Tage über auch blumig klang.

Was er für Schlußfolgerungen daraus zog in dieser vollständigen Ästhetisierung wirkte auf mich etwas überzogen. Also wieder ganz durch die Blume gesprochen. Von dieser Beobachtung ausgehend zu schließen, daß die Wahrheitsfrage und die ethische Frage sich eigentlich als ästhetische herausgestellt haben, also das ist eine gefährliche Vernachlässigung der Arbeit an diesen Begriffen, wie sie nun für uns seit zweieinhalbtausend Jahren vorliegt. Ich habe den Verdacht, daß man sich da einen Wirklichkeitsbegriff zurechtlegt, der dann eben bequem von der Annahme solcher künstlich ästhetisierter Welten ersetzt werden kann. Es macht aber überhaupt keinen Sinn, von der Wirklichkeit noch zu sprechen, wenn man sie auf der Ebene der Privatannahmen erledigen könnte. Dann könnte man auf den Begriff Wirklichkeit völlig verzichten, auf den der Wahrheit auch und auf den des ethisch Gebotenen ebenso, wie auch auf den des Ästhetischen. Da wird also unter gefährlicher Vernachlässigung der Arbeit an diesem Problem und ihrer Resultate, wie sie von vielen Generationen geleistet wurde, eine Aktualität des Ästhetischen vorgegeben, der faktisch gar nichts entspricht. Wie man bestenfalls als Soziologe annehmen kann, im Sinne des Absinkens von gewissen Phänomenen der Symbolisierung, der Selbststilisierung von den Oberschichten in die kauffähigen Massen - ein anderes Phänomen ist es nicht, es ist prinzipiell nichts anderes als das, was wir im 18. Jahrhundert in den Oberschichten von den Soziologen und den Psychologen vorgeführt bekommen; und im 19. Jahrhundert und ab den 50er Jahren unseres Jahrhunderts mit der Entwicklung der Kaufkraft bei uns nun eben auch in der großen Masse, aber das hat mit der Ästhetisierung der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun. Das will ich dann später aus meiner Perspektive belegen. Nun hatten wir dann anschließend den Vorschlag von Herrn Bohrer gehört, der sozusagen seine Aktualität darin sieht, daß sich ganz bewußt Eliteaskesen, neue Gralsritterschaft, neue klösterliche Lebensgemeinschaften bilden, die Aktualiät des Ästhetischen in dieser Reduktion bestimmter Gruppierungen gesehen werden muß und zwar derer, die der Kunst huldigen, die in den Tempel einziehen, um endlich auch vor Bildern wieder beten zu können. Das dürfen natürlich nur Kunstwerke sein, denn sonst würde man seine Gebete an etwas eben nicht Leistungswürdiges verschwenden. Aber wie schon Lucius Burckhard sagt, solche Leute übersehen, daß die Madonna ihre wahren Wunder eben nicht im Tempel leistet, sondern im Kaufhaus.

Diese Reduktion des Ästhetischen auf die Kunstproduktion oder auf die Bereitschaft, eben nur im Hinblick auf Kunst vom Ästhetischen zu sprechen, würde aber dazu führen, daß wir die Kunstproduktion überhaupt nicht mehr im Zusammenhang mit dem Leben derer, die da produzieren setzen könnten. Das wäre gleichbedeutend mit der Annahme, daß die Bilder tatsächlich wieder vom Himmel fallen und nicht gemalt werden. Denn sobald sie gemalt werden, gibt es dafür Bedingungen und Kontexte, und dann kann man die Erörterung des Ästhetischen in dem außerkünstlerischen Verständnis gar nicht vermeiden. Es ist also unmöglich, heute eine solche Reduktion des Ästhetischen in die Anstrengung auf den Bereich der Kunst vorzuführen, um damit einen Anspruch auf Eigentlichkeit, auf existentielle, ridiküle Verschärfungen, auf Ernsthaftigkeit, auf den Ernstfall zu reklamieren. Ich bin so braun, daß ich versucht habe, nach Sarajevo zu fahren, weil ich dachte, Bohrer sei da anwesend. Er hat jahrelang über die Mainzelmännchenvagheiten unserer Republik und über das Verschwinden des existentiellen Ernstfalles philosophiert und uns allen bloß noch rauschhaftes Konsumentendasein in Filzpantoffeln nachgesagt. Jetzt hätte er dort eigentlich die Gelegenheit, den existentiellen Ernstfall kennenzulernen von dem er uns zwanzig Jahre vorphilosophiert hat, aber er war dort nicht zu treffen. Wie gesagt, es wurde schon von Leggewie bemerkt, er ist tatsächlich hier gewesen und nicht in Sarajevo.

Dann kam ein anderer merkwürdiger Mann, Herr Lübbe, aufs Podium, der meinte, die Aktualisierung des Ästhetischen darin sehen zu können, daß eine unendliche Zahl von Musealisierungen stattfinden, daß die Künstler nur fürs Museum produzieren, daß Innovationen als Prinzip der Kunstproduktionen angesehen würden, daß sich alle Kunst sowieso nur in Museumskunst verwandeln würde, daß Eklektizismus vorherrsche, daß man über alle Kunst nur noch quatscht und redet - und das alles unter dem Voschlag, wir sollten den Anlaß, die Aktualität des Ästhetischen eigentlich ganz vergessen, da es für sie kein Erscheinungsfeld mehr gäbe, da nämlich die Präsenz unseres Lebens im Alltag gar nicht mehr da sei. Die Gegenwart sei geschrumpft, inexistent geworden. Etwas merkwürdig für einen Mann, der denselben Vortrag fünf Jahre lang ca. fünfmal hintereinander vorgetragen hat. Die Halbwertzeittheorie, die er da aufstellt, wird von ihm gleich wieder kassiert, denn sonst wäre es schlecht möglich, daß er dasselbe fünfmal wiederholt.

Ich will nur in diesem einen Falle mal kurz zeigen, wie man diese Einwände auch der Sache nach widerlegen könnte, denn wenn ich das bei allen machen würde, die ich hier gehört habe, dann wären wir erst morgen früh fertig: Die Musealisierung als Anlaß der Aktualisierung des Ästhetischen gerade im Hinblick auf die Institution Museum zu sehen, scheint mir völlig verfehlt zu sein, weil sie in nichts den empirisch wahrnehmbaren Sachverhalten entspricht. Gerade das Museum ist ja heute der Ort, an dem die Zeit geschöpft wird, die Dimension des Gegenwärtigen in Relation auf die zeitlichen Differenzierungen so prägnant zur Geltung kommt, wie nirgends sonst. Das Museum hat sich ja geradezu als Zeitschöpfungs- als Produzent von Zeit bewährt. Die angeblich ja bloß auf Innovation ausgerichtete Avantgarde produziert dann nicht neo-philistische Exerzitien, sondern, was sich bewährt hat an der Avantgarde ist, daß dieses Neue, wenn es denn absolut neu ist, also bestimmungslos, nur im Hinblick auf das alte Bekannte gesehen werden kann. Mit anderen Worten, die Funktion der Avantgarde lag gerade darin, die historisch vermeintlich bekannten, vertrauten Bestände in die Gegenwart als in der Gegenwart wirksame Sachverhalte einzubringen. Der Avantgardist Polke hat sich darin als solcher gezeigt, daß er uns eine historische Figur wie Picabia völlig neu als Gegenwartskünstler schuf. Und wenn man die gesamte Avantgarde-Geschichte der letzten 130 Jahre durchgeht, wird man entdecken, daß im Unterschied zum Terror der Innovation durch diese Verfahren der Avantgarde gerade die Sicherung der Tradition auf immer neue Weise möglich wurde. Erst an dem vermeintlich Bekannten hat ja das innovatorisch Neue seine Möglichkeit, sich als solches tatsächlich substantiell zu zeigen.

Der Vorwurf des Eklektizismus ist in der Literatur bekannt, seit man über diese Dinge nachdenkt. Ich will nur ein einziges Beispiel nennen: In der hadrianischen Zeit hat man versucht, das 5. vorchristliche Jahrhundert, das athenische, attische zu rekonstruieren, und die Einwände der Gegner, vor allem der Satiriker, liefen alle auf den Vorwurf des Eklektizismus hinaus, und das kann man durch die Zeiten weiter verfolgen. So könnte man jeden Punkt durchgehen und sagen, es ist an der Aussage nichts, für mich jedenfalls Haltbares oder so Interessantes, daß ich die Aktualität des Ästhetischen erfahren könnte.

Thomas Ziehe machte die Aktualität des Ästhetischen fest an der Beobachtung des Kriegs der Zeichen. Das ist ein zentrales Moment, das wir an subkulturellen Auseinandersetzungen erkennen, und er hat den Vorschlag gemacht, daß dieses unter der Gegebenheit der Entwicklung von Sensibilität, von Stilisierung und von Reflexivwerden zu sehen, um an diesen Prozessen eben eine andere Bedeutung ablesen zu können. Mit diesem Vorschlag bin ich über weite Strecken einverstanden. Das scheint mir auch ein bestimmender Anlaß für die Frage nach der Aktualität des Ästhetischen zu sein, vornehmlich auf der Ebene des Kriegs der Zeichen. Denn wenn man die Sache weiter verfolgt, dann wird man sehen, daß jetzt aus dem Bereich der Hochkultur in die Subkulturen tatsächlich die bellicose Struktur, die in unserer Kultur wirklich grundlegende Art der kriegerischen Auseinandersetzung zur Geltung kommt, so daß wir also an diesem Phänomen über den Zusatnd unserer Gesellschaft viel mehr ablesen können. Und wir haben das ja abgelesen. Das kann ich Ihnen schriftlich dokumentieren. Seit Mitte der 60er Jahre waren für mich solche Phänomene, wie sie jetzt für alle überraschend in Serbien, in Aserbeidschan und Armenien oder wo auch immer auftreten, nicht so überraschend. Und sie sind auch nicht überraschend als Los Angeles-Phänomen oder als Vorgänge in der ehemaligen DDR oder hier bei uns. Das muß man nur noch viel weitergehend verstehen, noch über Ihren Gesichtspunkt einer Fragestellung hinaus verallgemeinern. Da, glaube ich, läge dann wirklich eine Möglichkeit, die Aktualität des Ästhetischen festzumachen.

Schmied hat die vielen Angebote auf Lebenshilfen, auf Lebensschulen, Anleitung zum richtigen Leben, auch wenn es als Anleitung zum Unglücklichsein populär ist, die vielen Hinweise auf die Conduite-Schulen, die in Amerika die höchsten Aufnahmezahlen erreichen, am historischen Beispiel Montaignes die Aktualität dieser Aufgabenstellung der Lebensgestaltung darstellen wollen. Da hat mich einfach sehr gestört, daß er doch die Witzelei einfach zu weit treibt, wenn er dann den Montaigne als eine Art postmoderner Figur vor der Postmoderne darstellt. Da kann drauf verzichten, die Aktualität an so einer Begriffsbestimmung wie postmodern noch festzumachen. Dann wäre die Aktualität, wenn Montaigne wirklich noch aktuell ist, im Sinne der Vergegenwärtigung noch viel weiter ausdehnen. Das ist eine Frage der historischen Präsenzen. Was haben denn Xenon oder Epikur, was haben die Autoren aus dem 4. oder 3. vorchristlichen Jahrhundert bis hin zu Augustinus getan, als eben diese montaigneschen Fragen zu erörtern. Die Aktualität des Ästhetischen an eben einem solchen Beispiel festzumachen, und sei es dann auch übertragen auf heutige Künstler und Autoren, wäre dann die direkte Darstellung der Aktualität solcher Überlegungen seit der Antike. Diese historische Dimension müßte eigentlich herausgestellt werden. Anstatt Montaigne zum Zeitgenossen zu machen, müßten wir die historische Distanz zu Montaigne und zurück zu Xenon und Epikur darstellen, denn die Vereinnahmungsgeste - er auch einer von uns Postmodernen - die entzieht uns ja gerade das, was für uns in irgendeiner Weise als aktueller Anlaß ästhetischer Überlegungen sein könnte. Nichts ist so grauenvoll zerstörerisch wie die aneignende Vereinnahmung der Historie auf der Ebene der Gegenwart. Also mit dem Vorschlag konnte ich mich auch im Hinblick auf die Demonstration der Aktualität des Ästhetischen nicht befreunden.

Leggewie hat wahrscheinlich am intensivsten, glaube ich, die tatsächlichen Anlässe der Aktualität des Ästhetischen herausgestellt. Für mich klang das so wie ein Hinweis auf die unabweisbaren Tendenzen zur Ghettoisierung, die wir innerhalb unserer Kultur erleben. Dies ist eine andere Art der Elitenbildung als sie bei Bohrer gemeint ist. Ich will das nur in einer bestimmten Hinsicht darstellen: Heute lassen sich Bestrebungen nach kultureller Autonomie jeder kleinen Sprachgemeinschaft - wir haben ja 8700 Sprachgemeinschaften in der Welt - als Begründung für jede Art von politischem Durchsetzungsvermögen mit Waffengewalt ausweisen, und das ist das Bedenklichste, was man zur Kultur und in dem Zusammenhang auch zur Aktualität des Ästhetischen sagen kann. Heute sind die reaktionärsten und zerstörerischsten - nicht nur die Weltgesellschaftsphantasien, sondern Europaphantasien zerstörenden Tendenzen in der Kultur zu sehen. All diese Auseinandersetzungen von Slowenen, Kroaten und Serben, Nordiren und Basken werden mit Anspruch auf diese kulturelle Autonomie begründet. Der Burckhard hat gestern etwas leichtsinnig Gaudi für die Basken und Plecznik für die Slowenen als Paradebeispiele der Produktion künstlerischer Autonomie durch Designer angeführt. Hierin liegt für mich einer der zentralen Punkte des Nachdenkens über die Aktualität des Ästhetischen für mich. Wir sind es nämlich, die sogenannten Kulturschaffenden (die Leute, die im engeren Bereich dessen operieren, was die Gesellschaft als Kultur - leider - immer noch bloß versteht), die die Argumente liefern. Wenn Sie nachverfolgen, wie über die letzten zehn Jahre in Serbien von der Akademie der Wissenschaften, einer ähnlichen Institution im Hinblick auf diesen serbischen Nationalismus argumentiert wurde, wie das in Slowenien gegangen ist, wie das in Aserbeidschan, in Barcelona und anderen Ortes geht, dann werden Sie da nur und ununterbrochen Verweise auf diesen Anspruch kultureller Autonomie sehen. Eine Art von Exklusivität, die auf ethnische Reinheit und Homogenisierung ausgerichtet ist, und wenn man das im Hinblick auf die sozialen Formen des Zusammenschlusses von Menschen unter solchen Bedingungen sieht, dann kann man das ohne weiteres als Bandenbildung sehen. Ich habe das Anfang der 80er Jahre unter dem Titel der "Gottsucherbande - Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit" beschrieben, aber vielleicht kann man das heute noch viel eher unter dem Gesichtspunkt der Fundamentalistenbanden darstellen. Da sollten wir die Aktualität des Ästhetischen in unserer eigenen Gesellschaft wahrnehmen und beobachten und nicht nur, was unter religiös ausgerichteten Fundamentalismen läuft. Wir arbeiten das wahrscheinlich daran ab, daß wir den Islam stigmatisieren und das vielleicht noch in Amerika am Fundamentalismus der Protestanten oder des "family life" oder der "value"-Bewegung darstellen. Aber das ist im Grundeein Anlaß von vorgestern, denn eine viel weiter gehende Deutung ist, daß die Kultur selbst das Zerstörerischste des sozialen Zusammenhangs geworden ist, daß die Kultur gegenwärtig den eigentlichen Sprengsatz darstellt. Gucken Sie sich die Autonomiebestrebungen im wirtschaftlichen oder politischen Bereich an - es ist immer mit diesen kulturellen Implikationen versehen. Die Kultur sprengt tatsächlich die Gesellschaften. Wir haben bei uns ja diese Modelle - Carl Schmitt, Ernst Jünger, Gottfried Benn - in den 20er, 30er Jahren vorgeführt bekommen, daß sich sozusagen im Namen dieser Art von Ernstmachen, in dem, was einen bestimmt als kulturelles Wesen (in der Sprache, in der ethnischen Zugehörigkeit etc.), die Katastrophe unmittelbar als Triumph der künstlerischen Wirksamkeit darstellt. Das ist außerordentlich gefährlich. Sobald eine Kultur in einer Gesellschaft in diesem Sinne wirksam wird, muß man sie unter Zensur stellen. Ein altes Motiv, das schon Platon völlig einsichtig begründet hat. Und wir erfahren jetzt, was es heißt, den Künstlern in diesem Sinne freies Feld zu lassen. Die sollen in ihren Opernhäusern und Ateliers bleiben, aber nicht behaupten, daß sie tatsächlich die Bedingungen und Positionen markierten, die den sozialen Zusammenhang der Menschen sicherten. Nun macht auf diese Situation, auf diesen Anlaß für die Aktualität des Ästhetischen - Ghettobildung, Exklusivität, ethnische Reinheiten, Fundamentalistenbanden, Bestreben nach Kulturautonomie, Zerstörung des Staates, Auflösung der Gesellschaft etc. - Leggewie einen Vorschlag. Dieser schien mir auch sehr überzeugend zu sein, allerdings nur so weit man ihn auch historisch fassen kann, nämlich Persuasion, so meinte Leggewie, sei die Fähigkeit, die Menschen, die sich zueinander gesellen, auch zur Einhaltung einer gewissen Verbindlichkeit im Leben miteinander, zu überreden. Aber der Witz bei der Sache ist doch der (und da müssen wir solchen Leuten wie dem Harry Pross vertrauen, der ist schon altersradikal, und das ist sehr wichtig, der hat nichts mehr zu verlieren und spricht jenseits von Karrierevorstellungen und Pressewirksamkeit Tacheles - und nicht nur durch die Blume, aber deshalb haben die meisten ihn heute auch gar nicht mehr verstanden) - und das sagt der Harry Pross ganz richtig - wo bleibt denn die Möglichkeit, in dem Sinne persuasiv zu wirken, wenn die Medien okkupiert sind von wirtschaftlichen oder politischen Interessengruppen, wenn ganze Großbereiche von gesellschaftlich Handelnden gar keine Chance haben, irgendwo persuasiv außerhalb der familiären oder privaten Bereiche zu wirken und wenn die Bedingungen der Kommunikationsökonomie es eigentlich ganz unmöglich machen, daß mehr oder weniger viele allein schon die Zeit aufbringen, sich an einem solchen "persuasere" zu beteiligen. Ansonsten schien mir das wirklich der radikale Anlaß, auch mein Anlaß, für die Erörterung der Aktualität des Ästhetischen zu sein.

Dann wurde von Postman heute morgen ein sehr ähnliches Phänomen, das liegt jedem Amerikaner nahe, als Anlaß genommen, seine Überlegungen anzustellen. Was dabei herauskam, dem Zerfall, der Fragmentarisierung, dem Beliebigwerden, dem Terrorisiertwerden durch den Informations-Overload zu entgehen, klingt zunächst einmal ganz plausibel: Wir brauchen wieder "narratives", neue Ideologien, gemeinsame Überzeugungen. Das ist soweit in Ordnung, nur kommt es darauf nicht an, denn die stehen nun wirklich nach Beliebigkeit zur Verfügung. Überall gibt es kleine religiöse Gruppierungen, Menschen, die alles mögliche an Überzeugungen miteinander teilen. Der Witz ist ja gerade, daß es nicht allein um die Frage der Verbindlichkeit in den Beziehungen zwischen Menschen geht (Kultur ist ein Beziehungsgeflecht, das auf die Verbindlichkeit zwischen den Menschen ausgerichtet ist), sondern darum, wie diese Verbindlichkeit durchgesetzt wird. Das ist die entscheidende Frage. Und für uns, im Hinblick auf die Aktualität des Ästhetischen, kommt es nicht darauf an, irgendeine Ideologie wieder einzuführen oder zu rekonstruieren, sondern darauf, wie das durchgesetzt wird, wie man die Verbindlichkeiten garantieren kann. Mit dem Maschinengewehr? Mit der semantischen Polizei? Unter Androhung des sozialen Absturzes, mit Gefängnis oder wie? Es ist unter dem Gesichtspunkt der Aktualität des Ästhetischen an der Zeit, darüber nachzudenken, gerade weil die alten Sanktionsmechanismen des Durchsetzens von Verbindlichkeiten eben nicht mehr greifen. Ich bin überzeugt, daß das inkl. des Gebrauchs von Maschinengewehren an den Grenzen nicht mehr möglich ist, und das hat mich veranlaßt, diese Geschichte anders herum darzustellen, nämlich im Hinblick auf die Frage, wie man sich eine Gesellschaft jenseits des Ernstfalls, jenseits von Macht, Geld und Sterblichkeit in der Ausrichtung auf Verbindlichkeit zwischen den Beziehungen überhaupt vorzustellen hat. Das ist die primärste Aufgabe im Hinblick auf die Aktualität des Ästhetischen; jenseits des militärischen, polizeilichen, ökonomischen, medizinischen oder sozialen Ernstfalls zu zeigen, wie da Verbindlichkeit in den Beziehungen von Menschen garantiert werden soll. Nun hat Leggewie auch einen Hinweis darauf gegeben, nämlich in der wechselseitigen Anerkennung der Andersartigkeit. Nur auch das muß natürlich in irgendeiner Hinsicht durchgesetzt werden, denn es kann nicht durchgesetzt werden durch Wohlmeinenheit oder durch Lernen im Sinne einer ästhetischen Erziehung, denn gerade diese kommunikationsökonomische Voraussetzung, Zugang zu den Medien der Persuasion ist ja nicht gegeben. Und hier liegt das Problem. Da scheint mir, hat die Überlegung zur Aktualität des Ästhetischen das Entscheidende beizutragen.

Keinesfalls dürfte dieses Entscheidende, das wurde hier schon mehrfach erörtert, auch oben von Böhme, in der größeren euphorischen Ausweitung der Techno-Imagination liegen. Also die Vorschläge, den ganzen Apparat sich weiter ausdehnen zu lassen, bis es dann einen Umschlag von der Quantität in eine neue Qualität gibt oder, was das Kurioseste ist, das Überschwemmtwerden mit solcher Techno-Imagination, mit dem sich bloßen Totalisieren der reinen Simulation. Wir kennen diesen Quark. Das ist jetzt nicht mehr ganz durch die Blume gesagt. Zu behaupten, daß damit die Adressaten ihren Anspruch auf Wirklichkeitserfahrung an der Kinokasse, bei der Fernsehstation oder sonstwo abgäben - das hat die Frau Sichtermann völlig richtig gesagt - bisher ist es noch keinem Medientheoretiker oder Soziologen gelungen, irgendeinen solchen Menschen vorzuführen. Jeder weiß ganz genau, diese Differenz zwischen der bloßen Simulationsebene und dem, was Wirklichkeit ist, darzustellen. Mir scheint es an dieser Stelle wichtig, zu sagen, das habe ich eingangs schon klar gemacht, man darf sich nicht einen Wirklichkeitsbegriff zurechtlegen, der dann beliebig durch solche Phänomene wie Totalsimulation ad acta gelegt werden kann, die Wahrheit begrifflich so zu fassen, daß sie dann als bloßes ästhetisches Phänomen erscheinen kann.

Was es da gilt, als Wirklichkeit so zu konstituieren, und damit komme ich dann auch meinem eigenen Themenbeitrag näher, das ist ja früher im Sinne der "religio" festgelegt worden, also der Zurückbindung, und das war früher die Domäne der Theologie. Das ist einfach die simple Tatsache, im Hinblick auf unseren eigenen Körper, im Hinblick auf die Bedingungen unseres Lebens, daß wir uns selbst nicht verfügbar sind, und nur das ist wirklich, was sich unseren beliebigen Zugriffen nicht fügt. Sonst wäre ja eine wahnhafte Imagination irgendwelcher Wirklichkeiten, vorgespiegelter Realitäten, wie sie ja in der Psychiatrie pausenlos vorgeführt werden, von irgendeiner Wirklichkeit gar nicht mehr zu unterscheiden. Und wir wären per Definition von Anfang an jeweils in bloßen selbstfabrizierten Wirklichkeiten, eben in Wahnwelten. Wir wollen ja aber doch, wie der Begriff Wirklichkeit, der hier verwendet wird, zeigt, unterscheiden zwischen solchen privatistischen Wahnhaftigkeiten und der Wirklichkeit. Das kann man keineswegs, indem man vermeintlich als Anlaß der Aktualität des Ästhetischen die totale Simulation a la Baudrillard vorführt oder die Techno-Imagination. Wenn man die Dinge in historischen Kontexten betrachtet, wird man sie nur als eine Form der immer gegebenen technischen Verschwisterung von Ästhetik und Macht auffassen müssen.

Der vorletzte Beitrag, den wir hier gehört haben, hatte eigentlich auch im Tonfall eine sehr auffällige Art der Distanzierung, jedenfalls auf mich wirkte das so, des Sprechers zu seinem eigenen Thema, dieses Verhältnis der Entstehung des Nationalstaats oder der Übertragung des anthropologischen Verlangens nach Territorium und Eigenständigkeit auf den Nationalstaat und die Entwicklung der Differenzerfahrungen "wir und ihr", "sie und die anderen" usw. und auf der anderen Seite eben der Versuch der Künstler gegen diese Besetzung der Territorien in der Familie, im Haus, in der Gemeinde bis rauf zum Nationalstaat nun eben die künstlerische Praktik des Displacements zu setzen. Es klang doch ein bißchen so, als sei das zwar die Reminiszenz an eine vielleicht mal gedachte historische Alternative der Künste, aber da wird uns auch der Verweis auf die schönen impressionistischen Darstellungen solcher Spiegelkabinette nicht sehr viel weiter helfen.

Nun, so weit habe ich diese Anlässe zur Überlegung, was denn nun für die ästhetischen Erörterungen, die uns nahegelegt werden sollen, spricht, verstanden und möchte dem jetzt meinen eigenen Vorschlag hinzufügen, wobei es nach allen Seiten hin Möglichkeiten gibt, wie ich es gerade versucht habe, darzustellen, Verbindungen zu sehen, und deswegen war es für mich sinnvoll, auf diesen Kongreß zu kommen, deswegen war ich nicht umsonst hier. Ich gehe von einer Vorgabe aus, der ersten Vorgabe, dem sogenannten "Welschen Tand". Das ist ja der romanische Ästhetikbegriff in deutschen Augen. Da heißt es bei Herrn Welsch, das hat er hier vorgetragen, er versteht darunter eine Kultur, die weiß, daß unsere Fundamente - Roarty - allesamt ästhetisch verfaßt, nämlich durchweg kulturelle Artefakte sind, die wir immer nur an anderen kulturellen Artefakten, nie hingegen an der Wirklichkeit selber überprüfen können. Alle diese Fundamente seien ästhetisch gleich durchweg kulturelle Artefakte. Und das, glaube ich, ist in nichts haltbar, ganz im Gegenteil, wenn es heute einen Anlaß zum Sprechen über das Ästhetische gibt, dann darin, daß uns diese ästhetische Dimension, jede Art von Kommunikation der Wissenschaftler, der Künstler, der Hausfrauen, der Eltern, der Kinder eben von Natur aus aufgezwungen wird. Wenn ästhetische, ethische, epistemologische Fragen Kulturerfindungen wären, dann hätten sie nicht durchgängig in allen Kulturen, wenn auch mit anderen Differenzierungsmustern eine derartige Bedeutung bekommen und schon gar nicht bei uns jetzt in Kontinuität über 2500 Jahre hinweg. Und wenn ich den Böhme richtig verstehe, daß ein Großteil des Anlasses des Nachdenkens über das Naturrecht, über das natürlich Schöne, ich würde auch sagen über die Naturlogik, darin zu sehen, daß wir langsam entdecken, daß wir nichts als Natur sind, gerade in ästhetischen Fragen, gerade in Wahrheitsfragen. Jenseits jeder Art von kultureller Ausgedachtheit sind das die Basisfragen, unter denen die Natur selbst operiert. Das habe ich versucht, seit 1975, 1976 im Hinblick auf die neurophysiologischen Bedingungen darzustellen, denn ich glaube, wenn wir diesen Anlaß so sehen, dann müssen wir uns dem arbeitenden Bereich der Neurophysiologie, der Biologie der Erkenntnis wie der alten alteuropäisch-philosophischen kunstgeschichtlichen Erörterungen anschlußfähig erweisen und sie nicht behandeln, als seien sie veraltete Überlegungen von ein paar Trotteln, die noch nicht neurophysiologische, biologische, naturwissenschaftliche Erkenntnisse besessen hätten. Mir schien diese Haltung stets vollkommen absurd zu sein, als ob nicht irgendein Aristoteles oder Xenon oder wer auch immer mit Links die Einsichten am Nachmittag produziert, die wir heute mit einem Aufwand von 15 Millionen pro kleiner Forschungseinheit über fünf Jahre produzieren. Diese Art von Aktualität können wir nun wirklich für uns nicht reklamieren. Sie müssen überlegen, daß wir uns von unserem nächsten Primatenverwandten ausschließlich durch zwei Prozent unseres Erbgutes unterscheiden und daß wir im Hinblick auf die Reduplikation des Lebens uns von einer x-beliebigen Pflanze oder irgendeinem Organismus in nichts unterscheiden, in absolut gar nichts. Nichts. Null. Was wir entdecken in der Aktualität des Ästhetischen ist die Entdeckung der Aktualität aller jener für kulturell gehaltener Hervorbringungen als in unserer Natur liegend zu verstehen, die uns von der Natur aufgezwungen wurden. Im Hinblick auf das Ästhetische ist es tatsächlich die durch die Evolution hervorgebrachte Differenzierung spezieller Leistungszentren unseres zentralen Nervensystems bis zum Neokortex. Und das Kernproblem ist, wie dann diese Leistungszentren, die in der ganzen Natur nur durch Differenzierung und Spezialisierung zustandekommen, miteinander überhaupt noch kooperieren können. In diesem Sachverhalt liegt das ganze Problem der Ästhetik enthalten. Auf den Menschen bezogen, ist es die Frage, wie unsere intrapsychischen Prozesse - Denken, Vorstellen, Fühlen - in irgendeiner Weise, wir können das jetzt Handeln oder Sprechen nennen, inkorporiert, vergegenständlicht werden können, so daß wir in unserer Selbstwahrnehmung wie in der Fremdwahrnehmung von Dingen außer uns, zum Beispiel anderer Menschen, überhaupt auf dieses Denken, Vorstellen, Fühlen als einer Fähigkeit der Adaptation an die Bedingungen des Lebens zurückgreifen können, denn ohne diesen Zurückgriff, ohne diese Anpassungsleistung wären wir keine Sekunde überlebensfähig. Es ist also die ästhetische Frage von Natur aus darin gestellt, wie in der Philosophie etwa in der Dialektik von Wesen und Erscheinung oder in der Sprachtheorie vor 80 Jahren darin gestellt, daß es die Frage zu erörtern gilt, in welcher Weise wir von den sprachlichen oder aktuellen Vergegenständlichungen von Handeln, Mimik, Sprechen, Worten, Spielen, Musikmachen usw. auf das je kommen, was dabei gedacht, vorgestellt, gefühlt wird und umgekehrt, wie können wir je in irgendeiner auch nur adäquaten Weise das, was wir zu denken glauben, vorzustellen glauben, zu fühlen glauben in irgendeiner Weise in der aktuellen Kommunikation, sprachlich oder nichtsprachlich, mit anderen so zur Geltung bringen, daß überhaupt wir uns in der Lage fühlen, uns, wie man sagt, auszudrücken, also überhaupt auf uns zu sprechen kommen und den anderen dabei auch noch die Möglichkeit bieten, sie selbst wahrnehmen zu können. Die alte Einheit der Philosophie vom Schönen, Guten und Wahren ist auch in der Natur gegeben. Grundsätzlich läßt sich heute neurophysiologisch durch Markierungsmethoden, die wir in Bonn und Köln ja vorführen, zeigen, daß durch dieses ästhetische "gap", diese prinzipielle Uneinholbarkeit, die prinzipiell nicht mögliche Identität zwischen den intrapsychischen Prozessen und dem Handeln und der sprachlichen Vergegenständlichung, die prinzipielle Unmöglichkeit, hundertprozentig das auszudrücken, was man denkt oder wiederzugeben, was man fühlt etc., daß dieser prinzipiellen Unmöglichkeit, die aufgrund der Differenzierung unserer neurophysiologischen Leistungsfähigkeit entstanden ist, auch die ethische Dimension und die Wahrheitsfrage entspringt, wenn man das jetzt mal ganz simpel formuliert. Jemand verfügt erst über die Fähigkeit, mit diesem Apparat, mit der prinzipiellen Nichtidentität umzugehen, wenn er lügen kann, d.h., wenn er weiß, ich bin nicht nur von Natur verhindert, genau das sagen zu können, was ich denke, vorstelle und fühle, ich kann auch noch bewußt falsch ausdrücken, was ich denke und fühle. Die alte Vermutung, das Ästhetische hätte etwas mit Vorspielen, Lügen, Oberflächenphänomenen zu tun, ist völlig richtig. Das hängt nämlich an der Fähigkeit zu lügen, also bewußte Abkoppelung der natürlichen und konventionellen Kodierung, also der Anhängung eines Gedankens an eine Handlung oder eine Sprachfolge aufzulösen, so wie das im Traum geschieht - wir alle werden von Natur aus von dieser Abkoppelung im Traum heimgesucht - und willkürlich falsche Ankoppelung eines Gedankens an eine Geste oder sprachliche Handlung. Das ist absolut notwendig, und die Verdächtigung, das Ästhetische entstammte seit 2500 Jahren u.a. dieser Möglichkeit zu lügen und zweitens, und das ist jetzt ganz außerordentlich wichtig, wenn Menschen miteinander leben und eigentlich merken, daß sie miteinander kommunizieren müssen, weil sie sich nicht verstehen können, weder sich selbst, noch die anderen, balancieren sie in der gesellschaftlichen Bindung permanent auf einem ganz schmalen Grat. Das ist ein Vabanquespiel, das jeder Verheiratete kennt. Da kann man nicht nur in der Ehe, sondern auch in größeren Lebensgemeinschaften auf die Idee kommen, ein für alle Mal festsetzen zu lassen durch einen Ayatollah oder einen päpstlichen Zensor, daß jetzt und hinfort ein Gedanke in dieser Weise eineindeutig in dieser Weise auszudrücken ist, und umgekehrt, nur noch bei dieser Art von Ausdruck, den man verwenden darf, das und das gedacht werden kann. So auch im Hinblick auf die Gefühle, und das nennt man fundamentalistische Erzwingung der Identität zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen intrapsychischen Prozessen und sprachlichen Vergegenständlichungen. Und wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung: die fundamentalistische Erzwingung von absoluter Identität zwischen dem Wort Gottes und dem dabei zu denkenden Sachverhalt, zwischen dieser Geste und jenem Gefühl - diese fundamentalistische Erzwingungsstrategie, die für mich eben die Banden, auch die Gottsucherbanden, vornehmlich in Europa und Amerika prägt, hat für die Menschen eine ungeheure Erleichterung zufolge in der Regulierung ihres Alltagslebens. Wir wissen ja, daß Menschen sich im Absolutismus im Hinblick auf ihre Lebensrisiken sehr wohl fühlten und nur wenige einen Einwand gegenüber der beschränkten Freiheit in diesen Bedingungen gehabt haben. Fragen Sie doch jetzt im ganzen Osten, wer die Rebellion eigentlich noch unter dem Gesichtspunkt der Freiheit gegenüber Zensur betrieben hat. Da werden Sie wenig finden. Und diese Erleichterung gerade in den immer weiter sich auflösenden Verbindlichkeiten, im sich immer weiter steigernden Vabanquespiel, das wir miteinander im sozialen Beziehungen treiben, muß der fundamentalistische Terror der Erzwingung von Eineindeutigkeit und Identität, im intrapsychischen und handelnd Vermittelten weiter zunehmen. Da ergibt sich die Frage, was wir eigentlich zur Verhinderung fundamentalistischer Indienstnahme von Kultur im engeren Sinne, also Kunst, Oper etc. und von Ästhetik in einem weiteren Sinne, nämlich im Hinblick auf die Einsicht, daß wir von Natur aus, wenn wir angemessen reagieren und wirkliche Anpassungsarbeit leisten, niemals, außer in der mathematisch definierten Eineindeutigkeit, in der Tautologie, diese Identität der intrapsychischen Prozesse und der sozial realisierbaren Kommunikation anstreben dürfen. Auf der ethischen Seite heißt es, wir dürften nur in einem beschränkten Maße lügen, nämlich nur im Hinblick auf die Fähigkeit, zu zeigen, ich beherrsche mich in der Abkoppelung von intrapsychischem Denken, Vorstellen, Fühlen und meiner sozialen handlungen als Sprechender oder was auch immer. Ich beherrsche das, weil ich lügen kann. Aber ein soziales Miteinanderleben unter der totalen Prämisse des Totalwerdens der Simulation, daß die Zeichen sich nur noch auf die Zeichen und nicht mehr auf das zu Bezeichnende beziehen oder der totalen Lüge und der Notwendigkeit, jederzeit damit zu rechnen, daß wir alle lügen, ist unmöglich, weil das die Kommunikation genauso aufheben würde. Man muß also auf der ethischen Ebene sehen, es ist eine Anleitung zum richtigen, sinnvollen, notwendigen Lügen, im Sinne der demonstrierten Beherrschung seiner eigenen Natur. Und wir wissen, in wie weit das etwa bei Tieren beobachtbar ist. Jeder, der einen Hund besitzt hat die Erfahrung gemacht, daran sind ja uch die Entwicklungen von noch heutigen Definitionen von Bewußtseinsprozessen gekoppelt. Sie können auch bei einem Hund ohne weiteres schon die Bewußtheit dieses Lügens realisieren. Das ist ein Prinzip, das wir auf allen Ebenen der Natur nachvollziehen können, denken Sie nur an die große Mimikryforschung. Da wird dieses Verfahren genauso angewendet. Und auch die Wahrheitsfrage ist in diesem Sinne eine rein von der Natur uns aufgezwungene Fragestellung. Z.B. haben wir hier zwei Pilze: Auf der Ebene der Erscheinung sehen sie völlig gleich aus, scheinen identisch zu sein, und auf der Ebene ihres Wesens, ihrer chemischen Substanz, ist der eine eßbar und der andere eben nicht. Da ist die Wahrheitsfrage einfach jedem Tier aufgezwungen - giftig oder ungiftig, eßbar, nicht eßbar? Und das ist keine kulturelle Leistung, denn erst die Ausformung dieser Fragen sind dann kulturelle Leistungen. Also, wir differenzieren immer die Wahrheitsfrage - ist die lebenserhaltend oder nicht, genießbar oder nicht, giftig, ungiftig etc. Man muß das natürlich mitgeteilt bekommen. Das Lernen bei Tieren ist auf diese Phänomene hin untersucht worden, wie Eltergenerationen ihren Nachkommen beibringen, wie gewisse Erscheinungen, die als Futterquelle angesehen werden können, auf diese Wahrheitsfragestellung hin zu untersuchen. Also ist die Ästhetik in einem ganz anderen Sinne Basis oder die ästhetische Dimension der Kommunikation ist auf eine ganz andere Weise Basis aller Kommunikation, also es wird nicht die Wahrheitsfrage ästhetisch und die ethische Frage auch noch, sondern sie ist in dem Sinne eine Basis, als sie vollständig mit den ethischen und epistemologischen Fragestellungen identisch ist, nämlich aufgrund derselben natürlich gegebenen Bedingungen für unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung. Das ist der Grund, warum diese Fragestellungen durch alle Kulturen eine derartige Bedeutung haben. Wenn das kulturelle Ausgedachtheiten wären, dann könnten wir das vergessen. Und gar dieses Phänomen auf den Kunstproduktion zu reduzieren, wäre nicht nur Eurozentrismus von der Qualität einer psychiatrischen Auffälligkeit, sondern es wäre schlechthin eine stupide Art der Absehung, was man über sich selbst auch nur als einzelnes Individuum wissen kann, geschweige denn über seine soziale Existenz. Wenn wir noch von der Kunst reden, dann reden wir von einer bestimmten Art der historischen Ausprägung des Umgangs mit dieser natürlich uns aufgezwungenen Bedingung. Dann sehen wir an den historisch-künstlerischen Arbeiten, wie man mit diesem Problem fertig geworden ist. Denn in der Kunst steht fest, Probleme werden nicht gelöst. Das ist ein unglaublicher Vorteil, den die Kunst vor allen anderen Handlungsbereichen hat. Nie ist ein Mensch in der Kunst auf die Idee gekommen, daß ein Künstler die Probleme eines anderen vorangegangenen Künstlers lösen könnte. All diese Arbeiten bedeuten nur, was die Kultur im engeren Sinne, also beispielsweise die Bilderfabrikation über die letzten 600, für die Aufklärung dieser fundamentalen Differenz, die das Ästhetische ausmacht, dieser ethischen und epistemologischen Fragestellungen, zu leisten vermag.
In welchem Verhältnis steht das notwendige Lügen zu der Wahrheitsfrage. Das ist, glaube ich, bei Postman, als er anfing mit seinem Vortrag heute morgen, wohl auch so gemeint gewesen. Er sprach da von einem Experiment, das er mit seinen Kollegen angestellt hatte: er fragte, haben Sie heute morgen schon die New York Times gelesen, und wenn sie sagen nein, dann berichtet er ihnen etwas, lügt ihnen etwas vor und beobachtet dann anhand ihrer Reaktionen auf diesen Vorgang, ob sie überhaupt Selbstbewußtsein haben, sich gegenüber diesen Bedingungen behaupten können.

Das Entscheidende an den Erörterungen der Aktualität des Ästhetischen scheint mir heute darin zu liegen, klarzumachen - erstens: keine noch so radikale fundamentalistische Erzwingung von Identität, von Eindeutigkeit, Klarheit und Verbindlichkeit, wie soll das gesehen werden, was heißt das, was meint der Künstler, was sagt der Wissenschaftler, erfolgreich sein kann; ich würde sogar soweit gehen zu sagen, daß wir alle liebend gerne Faschisten wären und zwar Radikalfaschisten im Sinne dieses Fundamentalismus, wenn wir noch die Hoffnung hätten, uns über diese totalitären Erzwingungsstrategien des Absoluten der Identität behaupten zu können. Ich bin davon von mir selbst jedenfalls überzeugt. Könnte ich den Einwand nicht formulieren, daß diese Erzwingung selbst mit den größten Ernstfallmitteln der Androhung einer atomaren Vernichtung nicht möglich ist, dann wäre ich Faschist. das weiß ich von mir vollständig, hundertprozentig, in der Reaktion auf diese Anforderungen des Lebens, die jetzt gestellt werden, bliebe einem natürlicherweise, also wenigstens bis auf weiteres, nur die Möglichkeit zu sagen, also jetzt schließe ich mich den Gottsucherbanden an.

Heute gibt es leider solche Carl Schmittschen Phantasten, die solche Leute wie Bohrer und die ganzen FAZ-Autoren nachbeten, als ob sie nicht kapiert hätten, daß Carl Schmitt gerade deswegen völlig inaktuell ist, weil nicht mehr der Ausnahmefall der entscheidende Punkt ist, an dem gezeigt wird, wer herrscht, sondern der Ausnahmefall der Normalfall geworden ist. Und was soll die ganze Theorie vom Ausnahmefall, wenn der Normalfall die Ausnahme ist. Da kann man mit derartigen Erzwingungsstrategien der Befriedung von Bürgerkriegselend oder Assimilationsproblematiken oder Überschwemmungen von Fremdvölkern nicht mehr operieren. Der Normalfall ist die Ausnahme. Damit erledigt sich die ganze Theorie. Alles, was man bei Carl Schmitt überhaupt herausfinden kann - ich hab' mich ja selbst Satz für Satz da durchgequält - ist der totale Wahnsinn, nämlich gegenüber der Einsicht, so kann es nun wirklich nicht gehen, in keinster Weise. Da gibt es keinen Hintergrund mehr dafür. Andererseits wird man pausenlos mit Leuten konfrontiert, die heute die Vormachtstellung in unserer Kultur inne haben, die einem auf die Probleme, die heute jeder sieht, empfehlen, zurück zu Carl Schmitt Erörterungen im Anschluß an Hobbes über die Befriedigung des permanenten Bürgerkriegs. Wäre Carl Schmitt in dieser Hinsicht noch irgendwie realtitätshaltig, wie gesagt, ich wäre Schmittianer. Leider leider ist nichts dran. Wären die Erzwingungsstrategien der Ayatollahs, der Hitlers, der Stalins für uns in irgendeiner Hinsicht haltbar, wir würden uns doch alle liebendgern diesen Lösungsvorschlägen anschließen, und zwar egal, wie viele Millionen Leute dabei draufgehen, um mit der Androhung dieses tödlichen Ernstfalls - sozial, politisch, militärisch, strafrechtlich etc. - endlich Ruhe, Verbindlichkeit, Verläßlichkeit in all unsere Beziehungen zu bekommen. Ordnung, Einsicht, Antizipierbarkeit bis in die Art und Weise, wie man einen Geranientopf ins Fenster stellt.

Was tragen wir dazu bei, die Aktualität des Ästhetischen mitzubewegen? In dem Sektor, in dem ich arbeite, sehe ich da leider so gut wie gar keine Aktivitäten. Jeder ökologisch denkende Normalbürger ist uns da heute weit überlegen. Und wir sollten aus solchen Zusammenkünften die Schlußfolgerung ziehen, daß wir weniger zu bieten haben im Hinblick auf diese Probleme als fast alle anderen gesellschaftlichen Gruppierungen. Und das ist schmerzlich, sehr deprimierend, sehr einschränkend im Hinblick auf unser Selbstbewußtsein. da müssen wir jetzt durch, und das muß die Wissenschaft leisten, sonst ist sie sowieso verratzt. Danke