Diskussion POWER AND DISSENT

Ein szenischer Kongress im Deutsches Nationaltheater Weimar / e-werk (19.-21. Oktober 2012)

POWER AND DISSENT, Ein szenischer Kongress im Deutsches Nationaltheater Weimar / e-werk (19.-21. Oktober 2012), Bild: Foto: Stefan Wilke.
POWER AND DISSENT, Ein szenischer Kongress im Deutsches Nationaltheater Weimar / e-werk (19.-21. Oktober 2012), Bild: Foto: Stefan Wilke.

Spätestens seit den Ereignissen des 11. September 2001 und dem infolgedessen gestiegenen Bedürfnis, dem Terror präventiv zu begegnen, ist die Frage nach den Aufgaben und den Grenzen des Rechtsstaats erneut ins Zentrum ethischer und politischer Diskussionen gerückt. Schien der klassische totalitäre Staat und seine Überwachungs- und Unterdrückungsmechanismen mit dem Fall der Mauer endgültig der Vergangenheit anzugehören, so erlebt er unter dem Label der „gelenkten Demokratie“ (Russland) oder des „Kriegs gegen den Terror“ (USA) aktuell ein globales Revival.

Rechtsphilosophisch lange Zeit tabuisierte Methoden wie präventive Überwachung oder körperliche und psychische Folter von Verdächtigten werden in einer als bedroht wahrgenommenen Zivilgesellschaft oftmals als unabweisbare Notwendigkeit wahrgenommen, um Schlimmeres zu verhindern. Damit findet eine schleichende Legalisierung rechtsfreier Räume und Praktiken statt, die umso bedenklicher ist, als sie sich zum größten Teil fernab der öffentlichen Wahrnehmung entfaltet.

POWER AND DISSENT ist eine wissenschaftlich-künstlerische Konferenz, die anhand aktueller und historischer machtpolitischer Dispositive sowie künstlerischer Interventionsstrategien Funktionsweise und ästhetische Darstellbarkeit von „Staatsmacht“ untersucht. Russische, deutsche und amerikanische Wissenschaftler und Künstler diskutieren im Rahmen von vier thematisch aufeinander aufbauenden Theorie-Panels über historische und aktuelle Topologien staatlicher Macht - und die Zusammenhänge von Kunst und Dissidenz im heutigen Russland und Europa.

Zentrum des ersten Panels „Innenräume der Macht“ ist die Diskussion über die Mechanismen des Verhörs, über den direkten Eingriff, den der Staat durch seine Repräsentanten auf den Verdächtigen ausübt, um Schlimmeres zu verhindern und die Widersprüche und Gefahren, die diese Praktiken in sich bergen. Der ehemalige CIA-Agent Glenn L. Carle, der Rechtstheoretiker Kai Ambos und der Sozialpsychologe Harald Welzer sprechen über die Formen staatlicher Machtentfaltung, aber auch über die historischen und philosophischen Hintergründe einer sich als Epochenstruktur abzeichnenden Topologie des „starken Rechtsstaats“.

Das zweite Panel „Unterdrückung und Widerstand“ fokussiert jene Räume der Auseinandersetzung, in denen staatliche Macht und zivilgesellschaftlicher Widerstand aufeinander treffen und sich die Staatsräson theatral inszeniert: von den Moskauer Prozessen 1937/38 bis zu den russischen Kunst-, Wirtschafts- und Terrorismus-Prozessen der Jetztzeit.

Die Historiker Karl Schlögel und Irina Scherbakowa (Memorial Russland) diskutieren mit dem russischen Philosophen Michail Ryklin: Wie wird aus dem Einzelfall ein juristisches Gesamtkunstwerk, aus diesem ein kollektives Verhaltensbild? Wie „zeigt“ sich staatliche Macht, wie schafft sie aus einer Version der Ereignisse Geschichte? Und wie können diese Vorgänge be- und hinterfragt werden?

Ein drittes Panel - „Der politische Sinn der Kunst“ - setzt sich mit den Möglichkeiten der Kunst auseinander, den gesellschaftlich für sie zugewiesenen Raum zu verlassen und politische Relevanz zu erreichen. Die Kulturphilosophin und politische Kolumnistin Elena Volkova legt anhand des altuellen Prozesses gegen die Kunstaktivistinnen von „Pussy Riot“ dar, welche medialen und psychosozialen Methoden der Staat benutzt, um Repressalien gegen die Kunst zu legitimieren. Der Soziologe Oliver Marchart und der Kunsttheoretiker und Künstler Bazon Brock befragen das Verhältnis von zeitgenössischer Politik und radikaler Kunst: Braucht Politik nur noch Macht und gar keine Bedeutung mehr, um sich durchsetzen zu können? Ist Dissidenz nur eine Vermarktungsstrategie unter vielen? Und was bedeutet das für das Selbstverständnis politischer Kunst?

Ausgehend vom Schauprozess gegen die Kuratoren der Ausstellung „Vorsicht! Religion“ erörtern in dem vierten Panel „Kunst und Justiz“ die Kunsttheoretikerin Sandra Frimmel, der Regisseur Georg Genoux und der Leiter des Moskauer National Centre for Contemporary Arts Leonid Bazhanov die praktischen und kuratorischen Strategien, mit denen die Künste den Repressalien des Staates begegnen können. Welche taktischen und welche strategischen Möglichkeiten haben die Künste, an politischen Veränderungen mitzuwirken? Verlieren sie dabei ihren ästhetischen Charakter, d. h. welches ist das „Feld“ der Kunst? Und inwiefern hat sich die klassische Rolle des „Dissidenten“ im Rahmen der Demokratisierung Europas seit den 80er Jahren gewandelt?

Parallel zu den Panels findet mit der Unterstützung der Hochschule für Musik und Theater Leipzig ein umfangreiches Workshopprogramm statt: in der ersten Abteilung geben Gefängnisarchitektinnen, Verhörexperten, Spezialisten für operative Psychologie und ehemalige Verhöropfer Einblicke in ihre Erfahrungen; in der zweiten Abteilung analysieren Kulturwissenschaftler die verschiedenen, sich wandelnden Rollen des Widerstands und untersuchen den künstlerischen Aspekt totaler Macht.

In einem nachgebauten Verhörraum führt Milo Rau in der Form öffentlicher Dreharbeiten zum Film DIE MOSKAUER PROZESSE Filmgespräche mit Beteiligten und Beobachtern des Prozesses „Vorsicht! Religion“. Und in abendlichen Peformances werden verschiedene theoretische Aspekte des Kongresses performativ aufgenommen und körperlich erfahrbar gemacht.

Um dem Thema des Kongresses auch szenisch Rechnung zu tragen, finden die Vorträge, Workshops und Performances in räumlichen Installationen statt (Bühnenbild: Anton Lukas). Im Maschinensaal wird nach dem Vorbild der klassischen Schauprozesse ein „Gerichtsraum“ aufgebaut, im Kesselsaal ein (geschlossener) „Verhörraum“ und ein „Lehrraum“. Sämtliche Veranstaltungen werden filmisch dokumentiert und sind ab dem jeweiligen Folgetag auf der Internet-Seite des Kongresses abrufbar. Die Kongresssprachen sind deutsch, englisch und russisch, je nach Veranstaltung ist für Synchronübersetzung in mindestens zwei der Kongresssprachen gesorgt. Um jedem Besucher die Möglichkeit zu geben, an einem möglichst grossen Teil der Parallel-Veranstaltungen Teil zu nehmen, findet das komplette Workshop-Programm zweimal in jeweils verschiedenen Räumen statt.

Eine Produktion des IIPM – International Institute of Political Murder
In Kooperation mit: Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Weimar, Kulturstiftung des Bundes, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Memorial Russland, Joseph-Beuys-Theater Moskau, teatr.doc Moskau, Sacharow-Zentrum Moskau, Goethe-Institut Moskau, Heinrich-Böll- Stiftung, Theaterhaus Gessnerallee Zürich, Institute for Performing Arts and Film/Zürcher Hochschule der Künste, Hochschule für Musik und Theater Leipzig, Universität Zürich.

Weitere Informationen unter:

http://international-institute.de/wp-content/uploads/2012/07/POWER+AND+DISSENT_Programm.pdf

http://www.nationaltheater-weimar.de/der_dunkle_kontinent-_power_and_dissent-/index.html?mid=13

Kongressprogramm

Freitag, 19. Oktober 2012
ab 15 Uhr: Empfang

Maschinenhaus
15:30 Uhr: Begrüßung

Maschinenhaus
16-18 Uhr: Innenräume der Macht (Panel I)

Maschinenhaus
Auf dem Podium: Glenn L. Carle, Kai Ambos, Harald Welzer
Moderation: Jens Dietrich
19:30 Uhr: Breivik’s Statement (Performance / Regie: Milo Rau)

Maschinensaal
Im Anschluss Publikumsgespräch mit den Künstlern
Ab 21 Uhr: Party mit DJ

Kesselsaal
Samstag, 20. Oktober 2012

10-12 Uhr: Unterdrückung und Widerstand (Panel II)

Maschinensaal
Auf dem Podium: Karl Schlögel, Mikhail Ryklin, Irina Scherbakowa
Moderation: Sophie-Thérèse Krempl
13.00 – 15.30h:

The Interrogations (I)
Verhöre zum Fall „Vorsicht! Religion“
Filmgespräche mit Milo Rau
Dauer: 3 x 45 Minuten
Kesselsaal/Verhörraum

Workshops (I)
Praxis der Unterdrückung
Dauer: 3 x 45 Minuten

Kesselsaal/Lehrraum
13.00 – 13.45h: Holger Richter (Operative Psychologie)
13.50 – 14.35h: Klaus Behnke im Gespräch mit Garcia Nunez (Techniken der Folter)
14.40 – 15.25h: Andrea Seelich (Gefängnisarchitektur)

Maschinensaal/Gerichtsraum
13.00 – 13.45h: Klaus Behnke im Gespräch mit Garcia Nunez (Techniken der Folter)
13.50 – 14.35h: Andrea Seelich (Gefängnisarchitektur)
14.40 – 15.25h: Holger Richter im Gespräch mit Klaus Behnke (Operative Psychologie)
16-18 Uhr: Der politische Sinn der Kunst (Panel III)

Maschinenhaus
Auf dem Podium: Oliver Marchart, Bazon Brock, Elena Volkova
Moderation: Milo Rau
19 Uhr: Sound of Freedom (Performance / Regie: Amund Sjolie Sveen)

Kessselsaal
Im Anschluss Publikumsgespräch mit dem Künstler und Glenn L. Carle
Ab 21 Uhr: Party mit DJ

Kesselsaal
Sonntag, 21. Oktober 2012
10-12 Uhr: Panel IV. Kunst und Justiz

Maschinensaal/Gerichtsraum
Sandra Frimmel, Georg Genoux, Leonid Bashanov
Moderation: Sylvia Sasse
13.00 – 15.30h:

The Interrogations (II)
Verhöre zum Fall „Vorsicht! Religion“
Filmgespräche mit Milo Rau
Dauer: 3 x 45 Minuten
Kesselsaal/Verhörraum

Workshops (II)
Ästhetik des Widerstands, Ästhetik der Macht
Dauer: je 3 x 45 Minuten

Kesselsaal/Lehrraum
13.00 – 13.45h: Elena Volkova (Kunst vs. Religion in Russland)
13.50 – 14.35h: Inke Arns (Künstlerische Dissidenz vor und nach 1989)
14.40 – 15.25h: Patrick Primavesi (Ästhetik des Schauprozesses)

Maschinensaal
13.00 – 13.45h: Patrick Primavesi (Ästhetik des Schauprozesses)
13.50 – 14.35h: Elena Volkova (Kunst vs. Religion in Russland)
14.40 – 15.25h: Inke Arns (Künstlerische Dissidenz vor und nach 1989)

Termin
20.10.2012, 16:00 Uhr

Veranstaltungsort
Weimar, Deutschland

Der politische Sinn der Kunst

Auf dem Podium im e-Werk: Oliver Marchart, Bazon Brock, Elena Volkova. Moderiert von Milo Rau.