Ausstellungskatalog Im Gehen Preußen verstehen / Ein Kulturlehrpfad der historischen Imagination

Karte der Stationen, Bild: zur Aktion "Im Gehen Preußen verstehen", IDZ Berlin 1981.. + 1 Bild
Karte der Stationen, Bild: zur Aktion "Im Gehen Preußen verstehen", IDZ Berlin 1981..

[im Rahmen d. Ausstellung Preussen, Versuch e. Bilanz] / Internat. Design-Zentrum Berlin e.V. [Zusammenstellung: Ulrich Giersch]

Erschienen
1980

Herausgeber
Riedemann, Kristin

Verlag
Internat. Design Zentrum

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Umfang
60 Seiten

Lehrpfad durch Troja

A. Das neue Troja

Gegeben ist der Raum zwischen Niederkirchner Straße, Wilhelmstraße, Anhalter Straße, Askanischem Platz, Möckernstraße, Landwehrkanal, Mendelssohn Platz und Dessauer Straße. Oasen des Lebens in einer flachen Einöde, Trümmerfelder der Träume, Garten des Bösen. Eine Apotheose der von Menschen zugerichteten Welt. Ein Bruchstück als Ganzes, unvergleichlich jedem anderen so kleinen Territorium in unserer Welt. Territorium des Nirgendwo, Diaspora der Erinnerung, der Anklagen, der Flüche, der Vertreibung aus der Hölle verwirklichter Utopien.

Diesen Raum, mit wenigen Schritten zu durchmessen, kaum größer als eine barocke Freilichtbühne oder ein englischer Garten - und ihnen auch in seinen Kulissenaufbauten, ruinösen Architekturen und Ereignispodesten ähnlich - diesen Raum gilt es kraft unserer zu trainierenden Imagination in den geschichtlichen Zeiten zu verlebendigen, die hier ihren Ort hatten. Das sind lange Zeiten, aber eben auch nicht länger als sie ein geschichtliches Bewußtsein zu fassen vermag: Das Bewußtsein vom Wechsel als Dauer, von der Kontinuität der Brüche, vom Augenblick als Ewigkeit. Wie lang ist der Augenblick, in dem sich (vom Anfang der Wanderung auf dem Gelände des ehemaligen Völkerkundemuseums Stresemannstraße Ecke Niederkirchner Straße bis zu seinem Endpunkt, dem Pumpwerk am Landwehrkanal) die Geschichte vom Ende Trojas bis zu Schliemanns trojanischen Schatzfunden und der erneuten Verschüttung des Schatzes im zweiten Weltkrieg zu jener Geschichte zusammenschließt, unter deren Trümmern wir lebenden Trojaner erneut drohen, begraben zu werden.

B. Aha - die Mauer

Vergegenständlichung der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits auf Erden. Keine Einmaligkeit an dieser Stelle: Sandwüsten als Mauern vor Feinden, die von draußen hinein wollten; Stadtmauern mit innerer ,Kommunikation', die die Kommunikation verhindern sollten, denn zu viele Gedungene versuchten, das Zentrum zu verlassen. Dann das Gemäuer durch herrschaftliche Gärten, unsichtbar in einer Bodenwelle, bis man vor ihr stand und überrascht ,aha' - ausstieß. Name von namenlosen Rufern! Jene historische Mauer hieß tatsächlich "das Aha"!

C. Der Garten des Bösen

Besonders flach gewalzt, z.T. schon asphaltiert, damit das Fahren ohne Führerschein eine Lust ist. (Die Nachkriegsstadtbaumeister - kunsthistorisch geschult - wollten hier durch eine Stadtautobahn für alle Zeiten die sprechende Erde begraben). Wo auf überwachten Wegen die Opfer der Gestapo, der SS, des Reichssicherheitshauptamtes zur Folter getrieben wurden, pissen die Hunde. Die Spuren im Sand markieren eine alte Grenze: die zwischen Herrschaft und Knechtschaft.

D. Alle Verwertung ist Haufenbildung

Auf dem Gelände stand die Kunstgewerbeschule: Bibliothek von Weltruf mit beispielgebender Karteianlage; eine der größten Kostümsammlungen; und Ateliers (für die Menschengestalter aus Stein und anderen Ewigkeiten im Keller; für die Bildner mit leichter Hand unterm Dach). Andere Künstler zogen ein: diejenigen, die Menschen solange gestalteten, bis man sie nicht wiedererkannte. (Dr. Goebbels hat stolz, immer wieder erneut, den Künstlerstatus für den Führer und seinesgleichen reklamiert.) Die Ateliers wurden zu Folterzellen umgebaut: ein respektabler Auftrag für einen Architekten, der anhand der Kunstwerkkarteien sein Handwerk erlernt hatte, um nun den Rahmen dafür zu schaffen, daß die Fahndungskartei der Gestapo recht übersichtlich untergebracht werden konnte und die Grenze sichtbar wurde zwischen Leben und Tod. Sie zu verwischen geben sich die Überlebenden nach dem Kriege alle Mühe: nur weg damit (unters Rollfeld von Tegel). Man kalkulierte ökonomisch: es durfte nichts umkommen von den Resten der Umgekommenen. Also ließ man die Reste durch große Scheideroste fallen: Erdhaufen bildeten sich, Gräber ohne Leichen zum baldigen Gebrauch anderenorts. Sie firmieren bis heute unter dem Namen "Erdverwertung".

E. Paläste der Heimatbildung

3 Beispiele: Hotel Stuttgarter Hof in der Anhalter Straße - verwandelt zwar, aber bis heute in Betrieb; Hotel Excelsior, das größte Hotel des Kontinents, Anhalter Straße/Askanischer Platz - in Trümmer gelegt und ausgeraubt; und das Europahaus, Stresemannstraße/Anhalter Straße, dessen Reste heute als Deutschlandhaus der Verwaltung des Wartens auf die Wiederkehr des Gleichen dienen. Unterwegssein, reisen und flüchten, getrieben und angezogen werden: wer häufig reiste, war trainiert in der Notwendigkeit, alle seine Habe bei sich zu tragen. Fluchtgepäck, eine eigene Dingwelt, Miniaturisierung und Auswahl des Allerwichtigsten für den Tag und die Nacht. In fremden Betten zu träumen von denen, die alle zuvor, gerade gestern noch, in diesen Betten schliefen, ihren Körperabdruck albschwer in die Matratzen formten: ein Verhaltenspassepartout, dessen strenge Einhaltung durchs Wachbewußtsein ,höflichst ersucht wurde von der Hoteldirektion, diesem Olymp des Transitorischen. Offene Häuser - geschlossene Gesellschaften: das Europahaus als Disneyland des kleinen Manns, der auf dem Dach des ersten Wolkenkratzer von Berlin, dem Himmel sonntags näher kam: statt in die teure Ferne gings aufwärts am gleichen Ort ins Neonlichtfeld. Stuttgarter Hof: Unterstand der Handelsvertreter und reiseberechtigten Politfunktionäre, der Grenzgänger im Niemandsland. Excelsior: Zugereiste, derer die Stadt sich rühmen konnte; illustriertenbildwürdige Persönlichkeiten aller Branchen; in farbigen Glasfenstern die Repräsentanten der Weltkulturen; mit eigener Bibliothek als Fahrplänen durch Märchen. Hier wollte Hitler residieren; daß er an den ,Kaiserhof' verwiesen wurde, mußte das Excelsior büßen.

F. Anhalter! Abfahrt ohne Ankunft

Noch heute vor der offenen Portalruine ein Taxistandplatz, als bedürften die Unsichtbaren solcher Transportmittel: "Ankunft auf unbestimmte Zeit verschoben". Unbestimmtheit als vollendete Tatsache. Auch Ruinen lassen sich offensichtlich noch kaputthauen; erst 1952 wurde der Bahnbetrieb eingestellt. 1959 flogen die Fetzen. Damals in drei Etagen: oben die Bahnsteige; in der Mitte, zu ebener Erde, die Wartesäle, Schalterhallen, Funktionsräume der Bahn und Post; unten das Mausoleum der Stadtbahn, das die SS unter Wasser setzte, um den Russen die bequeme Fahrt ins Zentrum der schwarzen Mächte zu verwehren. Die Flüchtlinge, Verwundeten, Zufallspassanten ersoffen: eines der wenigen Massengräber mit ,Kunstmarmorverkleidung'. Einer der Kopfbahnhöfe Berlins: Zentren der Steuerung des Außenbezugs, am Kopf das Maul, durch das der Leib der Stadt die Ankömmlinge zu verwandelnder, verdauender Passage aufnimmt. Nahebei, der anatomischen Form eines Magens nachempfindbar, jene Markthalle, die auch als ,Clou'-Tanzpalast ihren ursprünglichen Zweck nicht verleugnen konnte: in ihr wurden zuletzt die Juden zusammengetrieben und endgültig verwertet. Südwärts lag Anhalt, Heimat der verschiedenen, für Berlin wichtigen Herrschaften dieses Namens; der bekannteste unter diesen direkten Abkömmlingen der Askanier ist der alte Dessauer. Von hier aus lag die Heimat immer südwärts: In den besten Zeiten rollten ihr täglich 85 Züge entgegen, bis nach Brindisi und Konstantinopel. Man sah sich immer schon dort im Süden und fuhr sich entgegen. Wer indessen am Anhalter ankam, erlebte Berlin als die Fremde und war auf Zumutungen aller Art gefaßt. Als am Ufer des nahen ,Schöneberger Hafens' das ,Maurische Haus' gebaut wurde, das nicht nur so hieß, sondern auch so aussah, rechffertigte man diese Kühnheit mit dem Hinweis, daß der Süden ja bereits am Anhalter beginne: Einstimmungskulisse für Südweh, auf das sie alle abfahren. Übrigens: ich verstehe immer nur Bahnhof - wenn du mir nicht sagst, welcher; denn die Berliner nannten ihre Bahnhöfe nur beim Vornamen, also z. B. Anhalter!

G. Die Innenwelt der Außenwelt

Ein erstrangiger Topos des Jahrhunderts: verbunkern, einbunkern: der Bunker! Befestigter Raum mit architektonisch bemerkenswerten Regulierungen der Zu- und Ausgänge; keine Fenster mehr als Öffnungen zur Welt, das Blickfeld bestenfalls verengt auf Sehschlitze; akustische Isolation durch die Mächtigkeit der Wände im totesten aller Materialien: Eisenbeton. Eine Masse wird geschüttet, gestampft und erstarrt für immer: endlich eine feste Form für die verschieden groben Sände der Mark, die sonst allem Bilden und Bauen so wenig vorteilhaft sind. Auf Sand gebaut. Der Hochbunker: ein Haus unter Häusern, die als schützender Raum keinen Schutz mehr bieten. Perversion des Tresors, der Schatzkammer fürs Kostbarste, das Leben. Eingeschlossen, verschlossen, aus der Welt, die es draußen nicht mehr gibt. Raumschiffe, die sich nicht bewegen können, Särge für Lebende auf Widerruf. Ausgang nur als Abgang; Einlaß auf Nimmerwiedersehen. Sesam öffne Dich, ich will hinaus.

H. Herkules schaufelt Scheiße

Das Pumpwerk am Landwehrkanal/Ecke Schöneberger Straße, das erste seiner Art. Als die am hellichten Tage fließende Kloake Berlins zum Himmel stank (was sie immer schon tat), und wegen der schnellen Zunahme der Bevölkerung (die sich auf dieser Ebene vornehmlich als Erzeuger von Abfall bemerkbar machte) schnell über alle kanalisierten Ufer stieg; und als sich zudem herumsprach, daß dem Menschen zwar nicht der eigene, aber der Dreck der anderen Menschen unzuträglich ist, da enteignete man das unterirdische Reich der Hölle, um in ihm die eigene Scheiße statt der des jüngsten Gerichts fließen zu lassen. Ein Probater Weg, sichtbare Probleme zu lösen, indem man sie unsichtbar werden läßt. Was ich nicht seh', tut mir nicht weh. Aber das Zeug wollte da unten nicht fließen; der Teufel samt Hilfsmannschaften hatten inzwischen Dienst in höheren Etagen angenommen. Also mußten Pumpwerke gebaut werden, die saugend und pressend den Unrat auf die Felder vor der Stadt rieseln ließen. Die große Bäckerin ließ heiß herrlichsten Humuskuchen daraus werden, der schmeckte dem Salat, der allen Berlinern schmeckte. Ein erregender Kreislauf, den im Kopf auszuhalten (schließlich frißt sich der Mensch ja selber auf), der Mensch der Götter bedarf. Da dem delikaten Gegenstand mit dem Herrscher der Hölle auch der christliche Gott zu weit entrückt war, griff man auf die humanistische Ersatzreligion zurück: der griechisch/römische Halbgott Herkules war gerade recht, dem Kreislauf der Scheiße ein animistisch belebtes Herzstück zu geben, natürlich in fortschrittlicher Gestalt, also als Maschine. Und so steht er glänzend immer noch da, im Pumpwerk wenn auch müßig; Goethe und Fontane zur Rechten wie zur Linken. Wer übernahm seine Rolle in den Ställen des Aujust, wie Augias auf Berlinisch heißt?

I. Unter dem Pflaster der Strand

Diese Aufmunterungsparole für Leute, die in Großstädten überleben wollen, muß in Berlin als schlichte Sachaussage verstanden werden, sofern ein Strand aus Sand besteht. Sandstrand - Süden - Sinnlichkeit - Sorgsamkeit! Auf der größten Fläche des Kulturlehrpfades brauchte man, um da hinunterzukommen, das Pflaster gar nicht auszubrechen; es ist ohnehin nur noch Sand da. Strand als sicheres Ufer und als Barriere; Strandung und Strandleben. In unserem Zusammenhang sicherlich Strandung, wenn es auch beschönigend sein mag, die Reste halbvergessenen Lebens in diesem Areal als die des größten Schiffbruchs der Geschichte zusammensammeln zu wollen. Es war kein Schiffbruch; aber es ist der Strand für weitere Strandungen. Geschichte ist Methapher für zukünftiges Geschehen.

J. Vor uns die Sündflut

Die Natur hat einen großen Magen - selbst auf dem Bikini-Atoll schon nach 20 Jahren wieder erste Spuren von Leben - soll das ein Trost sein? Das einzige Modell der Bewältigung von Menschen geschaffener Probleme durch die Natur ist die Sündflut und stammt von dem sehr menschenunähnlichen Gott; (die entsprechende menschenangemessene Verkleinerung als,Schwammdrüber' bringt in diesem Fall nicht viel). Eines ist sicher; die Geschichte von der Sündflut ist nur Metapher für erst Kommendes. Archen auch dann? Geschichte ist Arche - wobei allerdings sich nicht die professionellen Historiker zu Kapitänen der Arche aufschwingen sollten, sonst kommt sie nirgends an. Marsch in die Geschichte, Gewürm! "Flut, Flut, mach' alles wieder gut", raunt beschwörend die Effi Fontanes - er ist der einzige Preuße, dem wir vollständig vertrauen dürfen. Vielleicht eine gute Wahl?