Buch Die Festspiele

Wirklichkeit, Deutung, Zukunft

Michael Fischer (Hg.): Die Festspiele. Wirklichkeit, Deutung, Zukunft, Bild: 2012.
Michael Fischer (Hg.): Die Festspiele. Wirklichkeit, Deutung, Zukunft, Bild: 2012.

FESTSPIELE: EIN STETS ZU ERNEUERNDES GESAMTKUNSTWERK


Im gemeinsamen Erleben von Künstlern und Publikum während der Salzburger Festspiele rückt der Mensch ins Zentrum. Brennende Fragen werden alljährlich durch das Programm erläutert: Was geschieht in der Sprache der Musik, der Dichtung, der anderen Künste? Was im Aussprechen, Benennen und Erfinden von Welt? Jede dieser Fragen dringt tief in die grundlegenden Bedingungen der menschlichen Existenz, verlangt Antworten und Verantwortung. Durch das gemeinsame Kunsterleben ergibt sich stets der Wunsch nach Dialog und Austausch, nach Interpretation, Konfiguration und Bedeutung. EINE SPANNENDE ANNÄHERUNG IN SECHS SCHRITTEN.

Seit ihrer Gründung sind die Salzburger Festspiele zu dem Paradigma und Maßstab der europäischen Festivalkulturen geworden. Sie bestehen aus einer alljährlichen Projektgruppe von Menschen, die durch unterschiedliche Kunstformen eine Darstellung der Wirklichkeit versuchen, Visionen umsetzen wollen, um Tradition und Zukunft in einen konzeptuellen Ausgleich zu bringen. Dabei geht es um die prestigeträchtige Ware »Kunst«. Reibungsflächen entstehen zwischen unterschiedlichen Kulturkonzeptionen, Organisation, Management, Personenführung sowie Fragen, die zwischen Recht, Wirtschaft und ästhetischen Ansprüchen angesiedelt sind. Alljährlich bestätigt sich, dass die Salzburger Festspiele eine gigantische Investition in die Zukunft sind und eine kostbare Marke Europas. Sich der Weltkommunikation öffnen und dabei die Unverwechselbarkeit bewahren! Bereits aus ihrer Herkunft stellt sich diese Frage auch für die Zukunft der Salzburger Festspiele. Ein herausragender, hoch kompetenter Kreis von Expertinnen und Experten zeichnet ein spannendes und breites Panorama.

Mit Beiträgen von Sven-Eric Bechtolf, Reinhard J. Brembeck, Bazon Brock, Axel Brüggemann, Manuel Brug, Eleonore Büning, Maurici Farré, Alexandra Föderl-Schmid, Volker Gerhardt, Roland Geyer, Stefan Grissemann, Ortrud Gutjahr, Clemens Hellsberg, Markus Hinterhäuser, Johannes Honsig-Erlenburg, Hedwig Kainberger, Johannes Kalitzke, Matthias Lilienthal, Christa Ludwig, Hans Mahr, Carl Philip von Maldeghem, Jan Mojto, Gerard Mortier, Helga Rabl-Stadler, Gerhard Rohde, Peter Ruzicka, Gerbert Schwaighofer, Heinz Sichrovsky, Georg Springer und Nike Wagner.

Erschienen
2011

Herausgeber
Fischer, Michael

Verlag
Residenz-Verlag

Erscheinungsort
St. Pölten, Österreich

ISBN
9783701732951

Umfang
184 S.

Einband
Broschur

Seite 98 im Original

Festspiele als Agenturen für Weltzivilisierung

Transkription der Rede von Bazon Brock am 20. Jänner 2012 in Salzburg.

Verehrte Würdigungsgemeinschaft – ich spreche Sie bewusst so an, weil das schon einen zentralen Aspekt meiner Sicht auf die Salzburger Festspiele ausmacht –, ich könnte auch sagen: Begeisterungsgemeinschaft. Das Publikum, das hier in parallelen Gewichtungen zur Presse und den Künstlern angesprochen wird, stellt ja in besonderer Weise an bestimmten Orten zu bestimmten Ereignissen, eben Festspielen, eine Form der Gemeinschaft dar, die sich an keinem anderen Ort unter den dortigen Bewohnern bilden könnte. Nämlich eine aus unterschiedlichen Regionen, Zuordenbarkeiten zu Landsmannschaften, Sprachgemeinschaften etc. sich neu bildende Begeisterungs- oder Würdigungsgemeinschaft.

Das hört sich zunächst banal an, geht aber an das Grundsätzliche unseres Verständnisses. Wenn Sie im deutschen Grundgesetz, gleich unter Absatz 1, lesen: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, dann wissen Sie, was Festivals neben anderen großen kulturellen Einrichtungen für eine Aufgabe haben: nämlich zu zeigen, dass die Wahrung der Würde nur durch Würdigung möglich ist. Und es ist weiß Gott keine Banalität zu lernen, wie man würdigt. Dazu braucht es eine Würdigungs- oder Begeisterungsgemeinschaft. Wie sich anderswo eine Arbeitsgemeinschaft oder eine Glaubensgemeinschaft bildet, so ist es bei den Festivals eine Gemeinschaft derer, die sich vornehmen, in angemessener Form und natürlich in Reaktion auf die zeitlichen Bedingtheiten, Arten und Weisen zu entwickeln, in denen sie ihrer Verpflichtung zur Würdigung nachkommen können.

Was ist der zentrale Punkt der von uns verlangten Würdigung, der Würdigungsfähigkeit zur Bewahrung des Grundrechts der Menschen auf Würde? Die Würde ist unantastbar, aber nur, wenn man weiß, wie man das Unantastbare würdigt. Es geht also im Kern immer um denselben Sachverhalt: Wie lernt man, wenn das in der Enkulturation heute gar nicht mehr der Fall ist oder weitgehend nicht der Fall ist, außerhalb seiner angestammten Kulturgemeinschaft, seiner angestammten Religionsgemeinschaft, Sprachgemeinschaft, jenseits dieser natürlichen Bedingtheiten? Denn wir sind von Natur aus ja alle Kulturwesen. Wie lernt man, jenseits der eigenreligiösen Befasstheit Kulturgebundenheit, Sprachgemeinschaft zu würdigen? Das ist die Hauptaufgabe aller Gründungen, wie sie Festspiele in transkulturellen beziehungsweise in zivilisatorischen Zusammenhängen darstellen sollen.

Im Kern der Würdigungen – und das gibt einen völlig neuen Blick auf die Diskussion »alt« oder »neu« – geht es darum: Seit dem 14. Jahrhundert weiß man, dass das Verhältnis von neu zu alt eben nicht eines der Absetzungsbewegung ist, sondern dass sich das Neue von selbst versteht in dem Augenblick, in dem wir wirklich jenseits unserer Bindungen – das, was man herkömmlich Tradition nennt – operieren. Wenn aber – und das ist die westliche Pointe, die von Humanisten formuliert wurde – etwas neu ist, hat es noch keine Bestimmung. Darauf reagieren die Menschen üblicherweise mit Ikonoklasmus, mit aggressiver Zerstörungslust oder, freudianisch gesprochen, mit verschiedenen Formen der Leugnung und der Verdrängung und der Verkehrung ins Gegenteil. Für diejenigen, die, wie die Westeuropäer, gelernt haben, mit dem Neuen als dem prinzipiell Bestimmungslosen, Inhaltslosen, nichts als Neuem, sozusagen mit der Neophilie, umzugehen, heißt das: Wenn man nicht zerstörerisch, ikonoklastisch gegen das Neue arbeitet und es nicht verdrängt oder verschiebt oder verkehrt, kann man mit Bezug auf das Neue nur vom Alten reden. Denn das ist ja das, wovon ich weiß, was es sein soll. Wenn das Neue das ist, was keine Bestimmung hat, sonst wäre es ja nicht neu, dann muss ich mich auf die vom Neuen erzwungene Sicht auf das Alte einlassen mit der merkwürdigen Folgerung, dass unter dem Druck des Neuen, das ich nicht leugne und nicht zerstörerisch verwende, das Alte eine völlig neue Bedeutung bekommt, völlig neu aussieht, so aussieht, als sei es geradezu zeitgenössisch und, obwohl jahrhundertealt, noch nie in dieser Form gekannt worden.

Als die Expressionisten 1905 in Dresden ihr Programm auflegten, gab es die ikonoklastische Version, es gab Schmierereien wie »Idioten weg« oder »die Leugnung interessiert uns gar nicht«, »ist völlig unbedeutend«. Bis Manuel Bartolomé Cossio 1908, also drei Jahre nach der Gründung, auf die Idee kam, sich einmal auf das einzulassen, was die Neuigkeit der Expressionisten erzwang, und im Museumsbestand des Madrider Prado nachzuschauen, ob er durch den Druck des expressionistisch Neuen auf die Spur des Alten gebracht werde. Was entdeckte er? Einen Mann, der seit 1614, seinem Todesjahr, nirgendwo auf der Welt mehr zu sehen gewesen war. Der Maler, der in seiner Zeit ebenso berühmt war wie der spanische Nationaldichter Cervantes, mit dem zusammen er bei Lepanto gekämpft hatte, ist El Greco. Seit 1908 weiß die Welt wieder, dass es einen Maler namens El Greco gegeben hat. Zwischen 1614 und 1908 war er nicht sichtbar gewesen. Die Expressionisten haben also durch ihren Anspruch, wirklich Neues zu bieten, die Gemeinschaft gezwungen, einen völlig neuen Blick auf El Greco zu werfen, was so weit geht, dass der deutsche Kanzler Schmidt behaupten konnte, El Greco sei ein zeitgenössischer Expressionist.

Als in Wien Adolf Loos die großen Schlachten um das neue Architekturkonzept lostrat, nämlich um die nackte weiße Wand, die scharf eingeschnittenen Fenster in nackten Wänden – am Michaelerplatz war der Hauptkampfort für diese Auseinandersetzung –, haben die einen ihn zerreißen und verdammen wollen, die anderen ihn geleugnet und die Dritten haben sich auf den Weg gemacht und gefragt, was »die nackte weiße Wand« sein könnte. Sie schauten in der Architekturgeschichte nach, wo es diesen Begriff geben könnte. Da stießen sie auf einen Abbé Lavier, der 1752 ein einziges Mal den Begriff »mur nu«, also »nackte Wand«, entwickelt hatte, aber nicht wusste, was er damit meinte. Man ging weiter zurück und fand im 16. Jahrhundert bei Palladio und im 15. Jahrhundert bei Brunelleschi das Konzept der »nackten weißen Wand«. Vor Loos hat kein Kunsthistoriker – die Disziplin ist ja erst 1819 gegründet worden –, aber seit Winckelmann, also seit 1750, auch kein Archäologe jemals einen Palladio oder einen Brunelleschi wahrgenommen, nämlich im Hinblick auf die Befreiung der Wand als bloßes Medium der Bildträgerei, vielmehr als eine eigenständige architektonische Sprachform. Seither gelten Brunelleschi und Palladio überhaupt erst als Stammväter des europäischen Klassizismus.

Als Alberto Giacometti sein merkwürdiges Getue mit den flachen Männchen und kleinen Strich- und Silhouetten-Figuren vornahm, haben die einen ihn – das ist ja Legende – in den Müll werfen, die anderen als schweren Fall in die Psychiatrie verbannen wollen und die Dritten fanden, dieser Herr Giacometti, ein Bildhauer scheinbar völlig jenseits aller bildhauerischen Konzepte, sei der Mann, der in völlig neuer Weise den Blick auf die Kykladenkultur von 1500 v. Chr. zu richten vermochte. So dass ein einziger Skulpteur mit seinem Konzept der Neuheit die gesamte Wissenschaftsgesellschaft gezwungen hat, sie überhaupt erst abgrenzend zu definieren. Und heute wird die Kykladische Kultur als ein Höhepunkt der Weltgesellschaftsentwicklung gesehen, wie die der Hethiter oder der Zweistrom-Menschen oder der Ägypter und so fort.

Einzelne Künstler haben das fertiggebracht. So sieht die gesamte Geschichte der Moderne aus. Das 20. Jahrhundert ist eine Geschichte des Anspruchs auf Avantgarde, das heißt, der Verpflichtung auf das Neue und nichts als das Neue, das weder zerstört noch geleugnet werden kann und uns daher zwingt, mit neuem Impetus den Blick auf die Tradition zu wenden. Avantgarde ist nur das, was uns veranlasst, Traditionen mit völlig neuen Augen zu betrachten oder sogar neue Traditionen aufzubauen. In diesem Sinne sind Festspiele wie die in Salzburg natürlich die geborenen Vermittler von Tradition unter dem Druck des Nichts-als-Neuen, so dass alle fünf Jahre bei den Musikern ein völlig neuer Cherubini herauskommen kann, ein völlig neuer Mozart, bei den Malern ein völlig neuer Blick auf Raffael. Alle fünfzehn Jahre spätestens wird jeder historische Künstler völlig neu gesehen. Warum? Weil das Neue sich ändert und der Druck sich ändert, also die Sicht auf das Alte verändert wird. Und damit ist eine der Kernforderungen der Festspielgründergeneration erfüllt, vornehmlich von Hofmannsthal, der in dieser Hinsicht äußerst beschlagen war, weil er von Fritz Mautner und anderen modernen Denkern hörte, die solche Theorie entwickelt haben.

Neben der Festspielpublikumsgemeinschaft als Würdigungs- und Begeisterungsgemeinschaft, nicht als Huldigungsgemeinschaft, sind es die Festspiele selber, die den Gegenstand der Würdigbarkeit hervorbringen, nämlich das Wunder der Neuschöpfung von Tradition bewirken. Das Neue entsteht von selbst. Man braucht bloß etwas dadaesk Sinnloses zu tun, schon hat man etwas Neues als inhaltslos Unbestimmtes hergestellt. Es ist simpel. Aber dann erst beginnt die Arbeit. Anstatt es kaputt zu machen und zu leugnen, muss man unter dem Druck dieses Neuen die Tradition verändern. Wem das gelingt, weiß, dass er Avantgardist ist.

Aus dieser Perspektive hat sich jeder die Frage zu stellen, woher eigentlich die merkwürdige Sonderstellung Europas in der Welt kommt, obwohl bis zum 13. Jahrhundert die chinesische Zivilisation, die indische Zivilisation weit höher entwickelt waren als unsere hier. Woher kommt eigentlich dieser merkwürdige Schub in der Entwicklung eines Weltkonzepts, das sich schließlich, z. B. in Medizin, Technologie, Kommunikationstechnologie etc., als weltgeltend erwiesen hat und heute die Welt beherrscht? Das hat einen einfachen Grund, der wiederum in der Würdigungsverpflichtung des Grundgesetzes enthalten ist. Dies ist ja nur die Summe, die Theodor Heuss persönlich aus seiner Erfahrung als Kulturwissenschaftler, Literat etc. gezogen hatte, nämlich: nur ein Individuum ist der Würdigung und Huldigung wert.

Dass ein Kollektiv irgendetwas vollbringt, im kollektiven Wahnsinn die Welt einrennt, das ist kein Wunder. Wichtig wird es, wenn einzelne, singuläre Personen eine Aussage vor anderen ausbreiten und gleichzeitig sagen können: Hinter mir steht kein Papst, kein Papa, keine Armee, kein Markt, kein Fürst, hinter mir steht kein Volk, keine Macht, gar nichts, und trotzdem hören die Leute mir zu. Diejenigen, die so etwas sagen können, sind Autoritäten durch Autorschaft, nicht Autoritäten durch Marktlegitimation, nicht Autoritäten qua Anerkennung durch die sechs klassischen Kulturautoritäten. Dieses Prinzip ist das Alleinstellungsmerkmal Europas in der gesamten Menschheitsentwicklung: Autorität durch Autorschaft.

Was heißt das? Wir müssen unsere Aussagen als Künstler und Wissenschaftler – das sind die beiden Gruppen der Autoritäten durch Autorschaft – so interessant entfalten, dass jeder zuhört, auch ohne die Hoffnung, nach wohlmeinendem Nicken belohnt zu werden, oder dableibt aus Furcht, er würde bestraft, wenn er weggeht. Das war die Entwicklung der Künste, das war die Entwicklung der Wissenschaften seit dem 14. Jahrhundert. Denn das heißt, die Gesellschaft bekommt plötzlich die unglaubliche Fähigkeit, Aussagen zuzulassen, die nicht die sechs klassischen Legitimationen der Kulturen und Religionen befolgen, sondern so viele Aussagen über die Welt experimentell, hypothetisch ermöglichen, wie es Künstler und Wissenschaftler, also Individuen, gibt, die auf eigenes Risiko ihre Aussagen wagen, eben als Autoren mit der daraus entstehenden Autorität, und nicht mehr unter dem Druck von Kulturen und Religionen stehen.

Das war immer ein berühmtes Paradox: Es gibt die Gemeinschaft der Avantgardisten, die Gemeinschaft der Einzelgänger. Genau darum geht es, die Gemeinschaft der entfalteten Individuen sich bilden zu lassen, die societas eruditorum von Individuen, die die Kraft haben, gerade in der Gewissheit ihrer Unterschiedenheit sich mit anderen zu vergesellschaften, in Künstlergemeinschaften, in Wissenschaftlergemeinschaften, also Gruppierungen, die sich in der Kooperation optimieren. Sie haben ihre Befreiung aus der kulturellen, religiösen Legitimation gefunden, da Kunst und Wissenschaft die radikale Abkoppelung von jeder Legitimation durch Kultur und Religion voraussetzen.

Allen stellt sich eine einzige sinnvolle Aufgabe: Wie verhindert man, dass Menschen im Namen kultureller Legitimation, im Namen religiöser Legitimation, im Namen ihrer Götter gegen andere Götter auf alle Zeiten in blutige Fehden versinken und durch wechselseitige Lähmung oder Tötung ihre Produktivkraft verschwenden?

Mit anderen Worten: Es geht um die Zivilisierung der Kulturen, denn ein civis z. B. ist jemand, der jenseits seiner natürlichen Religionszugehörigkeit und Sprachbindung, seiner natürlichen Kulturprägung Formen der Gemeinschaft mit Angehörigen anderer Kulturen ausbildet. Im römischen Weltreich war die Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen Kulturen die Verpflichtung jedes Bürgers / civis, ein Subjekt zu sein. Und Subjekte sind seit 284 n. Chr. diejenigen, die unabhängig von ihrer Kultur alle gleichermaßen der Steuerpflicht unterworfen sind und deswegen eine Adresse brauchen und damit Identität gewinnen.

Das ist genau unsere Aufgabe: Zivilisierung der Kulturen, Zivilisierung der Religionen, Zivilisierung der Sprachgemeinschaften. Es ist klar, dass die Grundlage für diese Zivilisierung nicht die kulturelle Gleichförmigkeit des Verstehens sein kann, sondern gerade die Bewältigung des Nichtverstehens. Das ist der eigentliche Sinn der gemeinsamen Feier eines Ereignisses in einem Festival. Das Nichtverstehen verlangt, evolutionstheoretisch ausgedrückt, nach Kommunikation, weil wir uns als Angehörige verschiedener Kulturen und Religionen nicht verstehen, aber kommunizieren müssen. Denn Kommunikation gelingt ohne Verstehen. Das Grundprinzip der Evolution ist: Lebewesen können auf der Welt überleben, ohne die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Existenz zu verstehen. Das heißt, wir warten nicht erst ab, bis wir verstanden haben, was die Bedingungen der Möglichkeit sind, um zu leben, sondern wir müssen immer schon leben, auch ohne die Welt zu verstehen. Auch technisch Unversierte knipsen das Licht an und haben keine Ahnung davon, was die Elektronen tun, um dieses Phänomen zu erzeugen. Wir zünden Automotoren und fahren los, ohne das Geringste von den Logiken der Technik zu verstehen. Das ist die Ebene, auf der diese festivalartige Feier stattfindet. Man kann wirklich sagen, das Fest sei die Feier des Einverständnisses mit der Kommunikation ohne Verstehen.

Zivilisiert wurde die Menschheit in Karawansereien, auf Messen und Märkten zu Ostern und im Herbst, in Hotels. Man entwickelte eine gewisse Art von universeller Verständigung ohne Verstehen unter den Bedingungen, die schon angesprochen wurden: Taktgefühl, Zurückhaltung, Distanz, Anerkennung gerade des Nichtverstehens der besonderen Singularität des Anderen als desjenigen, den ich gar nicht verstehen kann, Würdigung der Fremdartigkeit. Wo lernt man das? Eben an besagten Orten, in Museen und seit gut einhundert Jahren bei internationalen Festspielen.

Wissenschaftlich kann ich z. B. im Museum die Würde der einzelnen Artefakte verschiedener Kulturen nur dadurch garantieren, dass ich sie miteinander in Vergleich setze und durch den Vergleich anerkenne, dass sie alle auf der gleichen Ebene stehen. Was ich ja ohnehin weiß: Alle Kulturen leisten alles, alle Kulturen sind völlig gleichwertig, jede Sprachgemeinschaft kann die Welt in genau denselben Verhältnissen darstellen wie alle anderen. Das Entscheidende ist, das Jenseits, das transkulturelle Moment, eben das Zivilisatorische anzuerkennen.

In diesem Sinne würde ich meine Anforderung an das Verständnis eines Festivals wie das in Salzburg so formulieren wollen: Es gilt, in der Würdigungsgemeinschaft des Publikums zu lernen, was einem am schwersten fällt: das, was man gar nicht versteht, zu würdigen. Von der Seite der Produzenten ist zur Zivilisierung gerade aller derer – auch der Presse beispielsweise – beizutragen, die an diesem Ort des Festivals nicht auf ihren Göttern, nicht auf ihrer Sprachgemeinschaft, ihrer Kulturgemeinschaft bestehen können, sondern sich einem menschheitlichen, universalen Aspekt widmen. Die Presse hätte die Aufgabe, Kommunikation als das Miteinander-Umgehen, ohne zu verstehen, endlich zu würdigen, anstatt jeden Unbequemen mit dem Vorwurf herabzusetzen, er habe etwas Unverständliches präsentiert.

Auch wäre der Vorwurf zu unterlassen, die Festivals böten immer wieder bloß alten Wein in neuen Schläuchen an. Alle paar Jahre muss es einen neuen Händel, muss es einen neuen Wagner geben oder zumindest alle zehn Jahre einen völlig neuen, sobald der Druck des Neuen ausreicht, eine radikal neue Sicht auf das Alte zu entwickeln. Außerhalb solchen Vorgehens blieben Festivals zufällig und unbestimmt. Was man ihnen vorwirft, ist gerade ihre Aufgabe. Deren wichtigster Aspekt bleibt: Die Festivalbesucher sind nicht nur die Bewohner der jeweiligen Festivalstadt, die im Konsens gemeinsam ins Theater gehen, sondern Bewohner von zig Städten, zig Regionen, zig Ländern, zig Sprachgemeinschaften, also sozusagen das Abbild der Menschheit. Damit sind Festivals Zivilisationsagenturen par excellence. Und ich würde empfehlen, unter Festivalnamen den Zusatzvermerk anzubringen: »Zivilisationsagentur« oder »Agentur für Weltzivilisation«.

siehe auch: